„Bild“-Chef im Wahlkampf

Der Westen wird in Schwelm verteidigt

Schwelm, zwischen Hagen und Wuppertal gelegen, hat nicht mal 30.000 Einwohner. Die größte Berühmtheit der Stadt, die Brauerei, ist vor zehn Jahren pleite gegangen. Am Freitagabend ist der Bahnhof voll mit Jugendlichen, die ins zehnmal so große Wuppertal fliehen, um etwas zu erleben. Kurz gefasst, Schwelm ist nicht der Ort, in dem man „Bild“-Chef Julian Reichelt am Vorabend des 11. September erwartet, um über Terrorgefahr und Weltpolitik zu reden.

Dass er es dennoch tut, liegt an Christian Nienhaus. Der 61-Jährige ist hier Bundestagskandidat der CDU. Und er ist langjähriger Medienmanager. Bei „Bild“ war Nienhaus von 2001 bis 2008 als Verlagsgeschäftsführer tätig. Danach strukturierte er die WAZ zur Funke-Mediengruppe um. Seit 2015 ist er wieder bei Axel Springer. Zur Zeit unter anderem als Verlagsgeschäftsführer der „Welt“. Nienhaus und Reichelt kennen sich.

Julian Reichelt bei der Jungen Union im Schwelm
Julian Reichelt bei der Jungen Union in Schwelm mit den CDU-Bundestagskandidaten Christian Nienhaus (links) und Hartmut Ziebs (rechts) Fotos: Weiermann

„Julian geht immer gern in Debatten“, erklärt Nienhaus zur Begrüßung. Er sei kompromisslos. Reichelts Reporterlaufbahn und sein Aufstieg zum „Bild“-Chefredakteur werden gelobt. Die Kritik des Deutschen Journalisten-Verbandes DJV an der Veranstaltung weist der CDU-Bundestagskandidat ab. Reichelt würde sicher keine Werbung für die CDU machen. Auch Reichelt streitet den Wahlkampfvorwurf ab und nimmt dabei direkt das große Wort von der „Cancel Culture“ in den Mund.

„Cancel Culture“, das ist in diesem Fall ein kritischer Artikel in der „Westfalenpost“, ein Facebook-Posting, in dem Volkmar Kah, Geschäftsführer des nordrhein-westfälischen DJV, Reichelt vorwirft, „dem Ansehen der gesamten Branche“ zu schaden, und eine Handvoll Tweets zu Reichelts Auftritt.

Zur Wahlkampfshow für die CDU gerät Reichelts Auftritt dann nicht. Es ist eine Reichelt-Show. Was auch am Setting liegt. Reichelt sitzt zwischen zwei Frauen aus der Jungen Union, die ihn befragen. Christian Nienhaus sowie Hartmut Ziebs, der im benachbarten Wahlkreis für den Bundestag kandidiert, bleiben nur Statistenrollen.

„Was geht da wohl gerade vor?“

Julian Reichelt bei der Jungen Union im Schwelm

Reichelt spricht leidenschaftlich, er könne „alles“ in seiner Laufbahn „auf diesen einen Tag zurückführen“. Gemeint ist der 11. September 2001, den der heutige „Bild“-Chef als 21-Jähriger auf der mütterlichen Couch verbracht hat. Vermutlich verkatert, zumindest erzählt er, dass er am Vorabend gefeiert hat, weil er aus Bangkok, wo er lebte, zu Besuch nach Hamburg kam. Beim Flug von Bangkok nach Hamburg, zwei Tage vor dem 11. September, will Reichelt über Afghanistan aus dem Fenster geschaut und sich gedacht haben: „Was geht da unten wohl gerade vor?“

Mit viel Pathos geht die ganze Reichelt-Erzählung weiter. Als Kriegsreporter habe er Soldaten sterben sehen. Reichelt greift immer wieder geschickt Vorlagen seiner Gesprächspartner auf. Als Hartmut Ziebs, der früher Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes war, erzählt, dass er an 9/11 vor allem an die Feuerwehrleute gedacht habe, betont Reichelt den Wert der Feuerwehren. Erst kürzlich sei er im Ahrtal gewesen, am „Ground Zero“ der Flutkatastrophe, die für den „Bild“-Chef auch keine Flutkatastrophe, sondern ein „Tsunami“ war.

Aber um so profane Dinge wie das Unwetter geht es bei Reichelt nicht. Er spannt die großen Linien. Afghanistan, ein Sieg für die Islamisten, die sich dadurch auch hier radikalisieren. Der 20-jährige Einsatz. Keine gute Idee, schon aus kulturellen Gründen wollten die Afghanen keine Demokratie nach westlichem Vorbild. Solche Einsätze müsse man wie „eine Polizeiaktion am Bahnhof, mit der Drogenkriminalität bekämpft wird“ begreifen. Man geht rein, wenn das Problem groß wird. Deutschland müsse begreifen, dass man Militär nicht einsetzt, um Schulen zu bauen, sondern um „nationale Interessen“ durchzusetzen.

China, Russland, Katar? „Gottlose Gestalten“, gegenüber denen man Härte zeigen müsse. Reichel findet, die Politik müsse rote Linien definieren. Flüchtlinge? Kommen „wegen unserer Sozialleistungen“ nach Deutschland. Daraus ergebe sich eine „gefährliche gesellschaftliche Dynamik“.

Reichelt ist der Meinung, Deutschland brauche das „beste Einwanderungsgesetz der Welt“. Dann könne man Zuwanderung ermöglichen; gegen den Rest, bis auf konkret politisch Verfolgte, gelte es Härte zu zeigen und Fluchturschsachen vor Ort zu bekämpfen.

Wenn er redet, fällt immer wieder der Name Angela Merkel. Natürlich im Kontext der Aufnahme von Geflüchteten 2015, aber auch sonst. Meist im negativen Zusammenhang. Reichelt wirft der Kanzlerin Führungsschwäche vor. Widerspruch erntet er dafür nicht.

Vorlagen verwandeln, Vorlagen auslassen

Genauso geschickt, wie Reichelt die Vorlagen seiner Gesprächspartner verwandelt, lässt er sie auch aus. Als er sich für eine Stärkung der deutsch-französischen Beziehungen ausspricht und Christian Nienhaus einwirft, einer aus der Grenzregion – gemeint ist natürlich der Aachener Armin Laschet – könne das sicher besonders gut, geht Reichelt nicht darauf ein. Auch die Publikumsfrage, ob sich der Zustand und die Eingriffsfähigkeit der Nato mit einem Minister Dietmar Bartsch verschlechtere, beantwortet er nur allgemein. Spricht über den aktuellen Zustand des Bündnisses, den er für miserabel hält.

Für den ehemaligen Kriegsreporter Reichelt ist die Welt ein Schlachtfeld und Deutschland sieht nicht so aus, als ob es siegreich aus der Schlacht geht. Keine gute Botschaft bei der Veranstaltung einer Partei, die seit 16 Jahren regiert. Christian Nienhaus und Hartmut Ziebs dürften nicht unglücklich darüber sein, dass Reichelt nur 40 Menschen in die Kirche am Rand der Schwelmer Innenstadt gezogen hat. Ob das Timing des „Bild“-Chefs, zwei Wochen vor der Bundestagswahl bei der Veranstaltung einer Partei zu sprechen, ein gutes war, ist eine andere Frage.

7 Kommentare

  1. „Geschmäckle“ finde ich hier einen noch sehr kurzgegriffenen Begriff. Es geht dabei nicht um Herrn Reichelts Weltbild, oder die von ihm abgegebene Meinung im speziellen.
    Wer auf einer Wahlkampfveranstaltung einer Partei auftritt betreibt Wahlkampf, ob gewollt oder nicht. Der von ihm gescholtene ÖRR hat hier zumindest Regeln (,auch wenn diese zum Teil sehr partikular durchgesetzt wird, wenn ich mich an den Artikel von vor einigen Tagen hier erinnere).
    BILD, die gerne anderen Medien und Menschen Meinungsjournalismus vorwirft, schafft es hier nicht eine feste Trennung zwischen Politik und Journalismus zu zeigen. Wie sollten Leserinnen die Bild nicht als CDU nahes Medium wahrnehmen, welches eben in erster Linie eine Meinung äußert. Vielleicht bin ich hier aber auch voreingenommen bei einem Blatt mit über 200 Rügen des Presserates in den letzten 30 Jahren.

  2. Die CDU nimmt in diesen Tagen der Dämmerung offensichtlich, was sie kriegen kann. 40 Zuhörer:innen. In Schwelm. Unter einem Fähnchen mit der weltumspannenden Botschaft »JU Ennepe-Ruhr«.

    Das sind die großen Momente, von denen es später heißen wird: Hier hätte die CDU das Ruder herumwerfen können, wenn nicht Reichelts Mama vergessen hätte, dem Buben den obersten Hemdknopf zu schließen.

    Freuen wir uns also gemeinsam mit unserem zukünftigen Bundeskanzler darauf, »dass die CDU/CSU sich jetzt mal in der Opposition erholen kann.«

  3. Also wenn sich der Julian auf den sicher sehr beeindruckenden Marktplatz von Schwelm gestellt und gerufen hätte: „Wählt Nienhaus, Ziebs und CDU“, dann könnte man mit Recht ein Geschmäckle in Westfalen konstatieren. So ist das ganze eine Mücke wird zum Sturm im Wasserglas Aktion.
    Heute ist nun einmal der 11. September und da kann man so eine Veranstaltung machen. Das hätte man bei der Ansetzung des Wahltermins natürlich berücksichtigen müssen, ein bedauerliches Versäumnis.
    Keine Wahlkampfveranstaltung, kein Wahlkampf, kein Skandal.

  4. @Frank Reichelt: Es ist eine Veranstaltung der Jugendorganisation einer Partei mit zwei Kandidaten der Partei, die für den Bundestag kandidieren, kurz vor der Bundestagswahl. Ich würde das eine Wahlveranstaltung nennen.

  5. Einmal „Reichel“ und einmal „Fluchturschsachen“ können wir nicht gelten lassen. Das macht dann in Schillig…

  6. Je schlechter es Deutschland geht … Moment … Das war die Partei rechts nebenan.
    Merkt man gar nicht, wenn man Reichelt zuhört.

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