Schmutzbehauptungen
Können wir uns – bei allen politischen Differenzen – wenigstens darauf einigen, dass das bisher ein unglaublich langweiliger Wahlkampf ist?
Er besteht bislang vor allem aus den Versäumnissen der grünen Spitzenkandidatin Annalena Baerbock beim Einnahmen-Melden, Lebenslauf-Formulieren und Buch-Schreiben einerseits. Und den nach rechts offenen Provokationen und Ausfällen des CDU-Direktkandidaten für Thüringen-Süd, Hans-Georg Maaßen andererseits.
Natürlich kann man da mitfiebern: Jetzt schon 46 Fundstellen in Baerbocks Buch! Jetzt schon 47! 48! Man kann jeden neuen Treffer, je nach Parteizugehörigkeit, feiern oder beklagen, aber kommt bei irgendwem noch Spannung auf angesichts dieser Tröpfchenenthüllungen? Gibt es gar einen weiteren Erkenntnisgewinn?
So eine Plagiatsjagd scheint eine sehr langwierige Angelegenheit zu sein. Man stelle sich vor, die Stellen wären in einem Rutsch gefunden und veröffentlicht worden. Es hätte einmal Puff gemacht, es wäre sehr peinlich gewesen, die Grünen hätten durch eine ungeschickte Reaktion aus einer zweitägigen Aufregung eine fünftägige Aufregung gemacht, wir hätten alle ein bisschen mehr Zweifel an der Eignung der Kandidatin und viel mehr Zweifel an der Professionalität ihres Umfeldes, aber wir wären mit der Sache durch und könnten uns anderen Themen widmen.
Oder Maaßen. Natürlich kann man sich darüber aufregen, wie er sich wieder über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geäußert hat und dessen angeblich fehlende Distanz zu Linksradikalen. Natürlich kann man nun wieder jeden Verantwortungsträger in der Union einzeln auffordern, sich von Maaßens Äußerungen zu distanzieren und eigentlich auch von Maaßen selbst. Es geht, immerhin, nicht nur um Fragen der Sorgfalt, sondern auch um Inhalte und politische Positionen und Abgrenzungen. Aber in Wahrheit verrät uns der 48. Aufreger auch nichts über Maaßen, was wir nicht nach dem 47. Aufreger und dem 46. Aufreger schon über ihn und seine Partei wussten.
Es sind nicht zuletzt Medien, die auf diese beiden Themen fixiert sind, aber gleichzeitig ist ihnen selbst dabei schon langweilig. Und deshalb versuchen manche in einer Art Autosuggestion, das Langweilige in Aufregung umzudeuten.
Seehofer mahnt
Die „Süddeutschen Zeitung“ macht heute auf Seite 1 mit der Schlagzeile auf, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), von dem die meisten vermutlich gerade vergessen hatten, dass es ihn überhaupt noch gibt, Baerbock in Schutz nehme. Das ist für Baerbock wahrscheinlich eine weitere unangenehme Erniedrigung. Aber ziemlich sicher nicht die wichtigste Nachricht des Tages.
In dem Artikel steht der folgende Satz:
Mehrere Medien sprechen inzwischen schon vom „schmutzigsten Wahlkampf aller Zeiten“.
Sehr formal gesehen stimmt das, und zwar in dem Sinne, dass das nun, nachdem die SZ das geschrieben hat, auch für sie gilt.
Donnerblitz!
Es gibt, soweit ich das sehe, genau ein Medium, das wirklich meint, dass wir gerade den „schmutzigsten Wahlkampf aller Zeiten“ erleben, und das ist – möchten Sie raten? Genau: „Bild“.
Der entsprechend betitelte Artikel ist von der „Bild“-Fachkraft Peter Tiede, der dafür vor allem auf die Expertise von Hans-Hermann Tiedje zurückgreift, der vor noch nicht einmal 30 Jahren „Bild“-Chef war.
„Wie schmutzig wird das noch?“, fragt „Bild“ Tiedje. Tiedje antwortet: „Das wird richtig schmutzig.“
Der Autor
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
Der Text ist mit einer Collage von fünf Politikern illustriert, deren schlimme Zitate in Sprechblasen geschrieben und für besonders Begriffsstutzige mit niedlichen Symbolen wie einer Bombe, einer Packung Dynamitstangen, einem Totenschädel, vier Ausrufezeichen und einem Donnerblitz versehen wurden.
Eines der fünf Beispielzitate für den „schmutzigsten Wahlkampf aller Zeiten“ ist von der Linken-Fraktionsvorsitzenden Amira Mohamed Ali und, naja, halten Sie sich fest:
Maßstab #CDU/#CSU ist es, Positives für Konzerne und Superreiche zu bewirken.
Einfach widerlich, wie hemmungslos die Linken hier mit Schmutz werfen!
Ein anderes Beispiel-Schmutzzitat ist von SPD-Chefin Saskia Esken und geht so (Vorsicht, Triggerwarnung und alles):
Der CDU fehlt jeglicher Kompass und ihr Kanzlerkandidat zeigt eklatante Führungsschwäche. Die Union braucht eine Auszeit.
Einem politischen Gegner Kompasslosigkeit vorzuwerfen, das geht nun wirklich unter die Gürtellinie.
Im Artikel selbst geht es dann um noch schlimmere Sachen. Ein ungenannter CDU-Minister hat wohl mal den SPD-Außenminister „Amateur“ genannt, ein ungenannter SPD-Minister den CDU-Wirtschaftsminister „Loser“.
Ob Abgeordnete einander mit Absicht Kakao übers Dienst-Laptop gekippt haben, ist noch nicht bekannt.
Mäßigungsbemühungen
Soweit also das Schmutz- und Schmutzsuchblatt „Bild“, das bislang gegen die Grünen aber auch eher einen Angstwahlkampf führt:
Heute ist ein „großer Tag“ für @Bild-Politikreporterin Nena Schink, weil laut @Bild-Umfrage endlich die große Baerbock-Angst in Deutschland ausgebrochen ist. #Baerbock als Kanzlerin wäre nämlich „der direkte Weg in die Planwirtschaft“. #bildlive #foxnewslive pic.twitter.com/x51Fg8LyEn
— Übermedien (@uebermedien) June 25, 2021
In welchen weiteren Medien könnte vom „schmutzigsten Wahlkampf aller Zeiten“ die Rede sein? Etwa in der seriös-konservativen FAZ? Gleich in der Überschrift fragt sie:
Wird das der schmutzigste Wahlkampf aller Zeiten?
Hier empfiehlt sich die alte Faustregel für Leser: Man liegt selten falsch, wenn man Fragen in Überschriften mit „Nein“ beantwortet.
Tatsächlich schreibt die FAZ-Politik-Redakteurin Mona Jaeger nach halber Strecke:
Wird das der heftigste Wahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik? Nein.
Jaeger beschreibt, wie Politiker in den Sozialen Medien beschimpft werden – fügt aber hinzu: „Gleichzeitig ist das politische Personal um verbale Mäßigung bemüht wie noch nie.“ (Mit Ausnahme der AfD.) Die Generalsekretäre der anderen Parteien hätten sich offenbar mündlich auf „gewisse Mindeststandards im Umgang miteinander“ geeinigt. Nach einzelnen lauten Ausreißern sei das „Bemühen um Mäßigung“ noch lauter.
Und wenn CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet den Wahlkampfstil der Grünen mit Donald Trump vergleiche, möge das zwar für die Gemeinten verletzend sein. Aber der Vergleich sei „nicht ehrabschneidend oder herabwürdigend“.
Mögliche Zukunftsschärfe
Die „Südwest Presse“ (SWP) hat gestern auch über den „schmutzigsten Wahlkampf aller Zeiten“ geschrieben, oder genauer, darüber, dass „allenthalben“ schon von dem „absehbar ’schmutzigsten Wahlkampf aller Zeiten‘ geraunt“ werde. Nur um gleich im ersten Absatz festzustellen, dass man „außer ein paar deftigen Worten bislang allerdings nicht vernommen“ hätte, was eine „Schlammschlacht“ belegen würde.
Der SWP-Kommentator Stefan Kegel weist darauf hin, dass sich das Spitzenpersonal der anderen Partien bislang nicht auf Baerbock wegen der abgeschriebenen Stellen stürze, sicherlich auch wegen der eigenen Plagiatsfälle um Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), Annette Schavan (CDU) oder Franziska Giffey (SPD). „Sie alle wurden erwischt; der politische Gegner musste nur zusehen. Daran war schon damals nichts Schmutziges.“
Von einem Lügenwahlkampf Trumps sei der deutsche Wahlkampf „etwa so weit entfernt wie der Trump Tower von Berlin“, stellt Kegel fest, erwähnt aber immerhin noch leicht schmutzlüstern, dass das nicht bedeute, dass er nicht noch „an Schärfe zunehmen kann“.
Der „Tagesspiegel“ hat vor ein paar Tagen schon gefragt: „Zwischen Schmutzkampagne und Sachdebatte: Wird der Wahlkampf hart wie nie?“ und gibt die Antwort dankenswerterweise noch vor der Paywall: „Warum es heute weniger schmutzig zugeht als früher“.
Steinmeier mahnt
Als Kronzeuge für die drohende Schmutzigkeit des Wahlkampfs dient in mehreren Berichten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der im ZDF-Sommerinterview am vergangenen Wochenende gesagt hat: „Ich habe Sorge, dass es eine Schlammschlacht werden könnte“, und mahnend hinzufügte, er werde mahnend eingreifen, wenn dies nötig sei.
Die FAZ weist darauf hin, dass sich Steinmeier schon beim Bundestagswahlkampf 2017 „eingeschaltet“ hat, „und zwar so richtig mahnend“: Er beklagte damals ein Klima der Einschüchterung und der Aggression. „Wer nur auf Kundgebungen geht, um andere am Reden zu hindern, der wendet sich gegen eine offene Debatte, die er einfordert.“
Das wär doch mal eine angemessene Schlagzeile: „Schmutzwahlkampf: Bundespräsident behält sich wieder mögliche Mahnung vor.“
Historische Schmähungen
Pascal Beucker hat in der „taz“ vor zwei Wochen zur Kalibrierung des Schmutz-o-meters einige Verleumdungs-Geschichten aus früheren Wahlkämpfen nacherzählt, darunter die, wie Konrad Adenauer 1953 öffentlich zwei nordrhein-westfälischen SPD-Politikern vorwarf, sie hätten „je 10.000 DM West aus der Sowjetzone erhalten“, aus einem SED-Fonds für Wahlkampfzwecke. Nach seinem Wahlsieg nahm er die Behauptung „mit dem Ausdruck des Bedauerns“ zurück.
Und natürlich die Diffamierungskampagnen der Union gegen Willy Brandt, die nicht nur seine Flucht vor den Nazis 1933 als ein Makel darstellten und ausschlachteten. Ein dubioses Buch rückte seine Emigrationszeit ins Zwielicht, ein anderes beschäftigte sich mit Brandts angeblich ausschweifendem Liebesleben. „Gegen beide Schmähschriften ging Brandt erfolgreich juristisch vor“, schreibt Beucker, „was jedoch nur begrenzt nutzte, berichteten doch die unionsnahen Zeitungen geradezu mit Wollust über die vermeintlichen ‚Enthüllungen'“.
Und heute? Legen sie mit Wollust bei „Bild“ Tabellen an, damit man mit zwei Fingern unter den einzelnen Wörtern vergleichen kann, welche Satzfragmente aus einem schnell und schlecht geschriebenen Buch der Grünen-Kandidatin aus irgendwelchen öffentlichen Quellen stammen. Es ist – spätestens jetzt – furchtbar ermüdend, es ist ein schrecklich inhaltsloser Wahlkampf, aber Schmutz? Schmutz ist nicht sein Problem.
Allerdings können sie jetzt natürlich schreiben, dass sogar das Medienmagazin Übermedien schon vom „schmutzigsten Wahlkampf aller Zeiten“ spricht. Oder jedenfalls über ihn.
Das ist alles so langweilig inhaltsleer. Laschet dies, Baerbock das, Seehofer dies, Scholz das. Besteht Wahlkampfberichterstattung nur daraus, irgendwelchen Politikern ein Mikrofon unter die Nase zu halten und dann deren Aussagen in Überschriften zu packen?
Die CDU zerstört munter weiter die Umwelt und hat nicht vor, damit aufzuhören. Die SPD zerstört mit Bauchschmerzen mit, greift aber gleichzeitig die Grünen dafür an, die unzureichenden und schon beschlossenen 16 ct zeitlich ein wenig vorziehen zu wollen. Das war kurz Thema, nicht adäquat berichtet, denn größtenteils bestand die Berichterstattung auch aus einer Auflistung von Tweets und O-Tönen. Aber es war Inhalt. Zumindest ein wenig.
Währenddessen hat die gesichtslose Koalition vor der Sommerpause noch fix ein Überwachungspaket geschnürt, und das EU-Parlament missbraucht Kinderpornos, um weitere verdachtsunabhängige automatische Onlinedurchsuchungen durchzusetzen. Das ist NSA-Niveau. Das war mal ein Skandal, für sowas sitzt Snowden immer noch im Exil.
AbEr DiE BaeRbOck.
Wie sehr würde ich mir einen echten Wahlkampf um Inhalte wünschen. Um Visionen, Pläne, Rechte, Ideale.
Vllt. hat die BILD mal gelesen, dass Sprache die Wirklichkeit formt und hofft, dass der Wahlkampf schmutzig wird, wenn sie oft genug sagt, dass er das wäre.
„Hier empfiehlt sich die alte Faustregel für Leser: Man liegt selten falsch, wenn man Fragen in Überschriften mit „Nein“ beantwortet“
Sehr schön👍
@Mycroft:
Volte zum Lieblingsthema?
Dazu Papa Hegel:
„Diejenigen, welche von der Philosophie nichts verstehen, schlagen zwar die Hände über den Kopf zusammen, wenn sie den Satz vernehmen: Das Denken ist das Sein. Dennoch liegt allem unserem Tun die Voraussetzung der Einheit des Denkens und des Seins zugrunde. Diese Voraussetzung machen wir als vernünftige, als denkende Wesen. Es ist jedoch wohl zu unterscheiden, ob wir nur denkende sind oder ob wir uns als denkende auch wissen.“
:D
@#4:
Mein Lieblingsthema ist eigentlich ein ganz anderes.
Ich bin mir im übrigen unsicher, ob „Einheit von Sein und Denken“ bei der BILD nicht ein viel positiveres Bild von der BILD zeichnet, als diese es eigentlich verdiente.
@1: Die Themen existieren ja, sonst könnten Sie sie ja nicht aufzählen. Anscheinend kann man die nur nicht in umsatzstarke Headlines verwandeln.
Ooooder, man kann heute viel besser auswerten (Interwebz und so), welche Headlines tatsächlich umsatzstark sind und verzichtet auf Sachthemen, weil die keine so hohe engagement rate haben.
Kann sich ja nicht jeder nur mittels Übonnenten finanzieren :D
Ähnlich wie die Schere zwischen arm und reich würde ich das hier als „Schere zwischen laut und leise wird größer“ bezeichnen. Die großen werden noch einheitlicher, weil SEO- und reichweitenoptimiert, die kleinen Blogs bleiben auf Seite 3.
Wie immer: Bei Telepolis man man es gut ablesen. >400 Kommentare bei den Lieblingsthemen Klima, Corona und Politiker, 20 Kommentare bei allem anderen.
#6: Die Zahl der Kommentare als Gradmesser dafür zu nehmen, wie „umsatzstark“ ein Thema ist, halte ich aber für etwas gewagt. Wenn da 2 gegensätzliche Blasen einen Söldner hinschicken, entstehen schnell 3 stellige solche.
„Gute Politik wird meist von biederen, etwas langweiligen Leuten gemacht. Darum ist ein Wahlkampf, dessen Drama darin besteht, wenig Drama zu bieten, und der insgesamt die Bürgerinnen und Bürger so langweilt, dass sie beginnen, sich selbst Gedanken zu machen, eine ausgezeichnete Sache.“
Von wem stammt wohl dieses Zitat?
Ich weiß es!
@ #7: Ja, eben … Die Interaktionsrate steigt, damit der Werbewert der Seite. Von wem die Interaktionen kommen kann doch dem Seitenbetreiber egal sein.
Das Halbzeit-heute-Journal hatte auch den langweiligen Wahlkampf als Thema. Ist ja nicht so, dass man als zweitgrößtes Nachrichtenjournal Themen setzen könnte, oder so.
Die alte Faustregel für Leser, man liege selten falsch, wenn man Fragen in Überschriften mit „Nein“ beantworte, heißt Betteridges Gesetz, obwohl die Regel sehr viel älter ist: https://en.wikipedia.org/wiki/Betteridge%27s_law_of_headlines?wprov=sfla1