„Junge Welt“

Lesen, was sonst nur der Verfassungsschutz liest

Neulich habe ich ja noch einmal Hoffnung geschöpft. Dass mir altem weißem Sack doch wieder die Lebensgeister einschießen könnten, und zwar von dort, wo man sie am wenigsten erwartet: dem deutschen Zeitungsbusiness.

Die Tageszeitung „Junge Welt“ hat eine nicht unclevere Abo-Kampagne gestartet, basierend auf der empörten Information: Man werde als einzige deutsche Tageszeitung vom Verfassungsschutz beobachtet. Statt nun also sämtlichen Verfassungsschutzmitarbeitern ein Spezialabo anzubieten, hat das Blatt beschlossen, edgy Werbung daraus zu machen: Seht her, wie sie uns unterdrücken! Ihr solltet uns total abonnieren.

Für viele war dies das erste Mal, dass sie von der Existenz der Tageszeitung „Junge Welt“ gehört haben, und auch ich muss gestehen, dass ich sie bislang für eine Wochenzeitung hielt, nur eben eine besonders hässliche – etwa so, wie auch die „taz“ oder das „Neue Deutschland“ mal durchgängig ausgesehen haben: Blei in Blei, Layout egal, bloß nix Appetitliches!

Schon in den Fragen der Gestaltung spürt man einen gesunden Marxismus, der sich für eine überlegene Weltanschauung, wenn nicht gar Wissenschaft hält und es also nicht nötig hat, seine Interessenten zu umgarnen und zu bezirzen. Der Marxist, anders als andere Theologen, kann es sich leisten, bocksbeinig auf seinem Stuhl zu sitzen und zu sagen: Seht ihr, wie scheußlich die Welt ist. Eine bessere Welt lässt sich nicht ersingen und erbeten, sondern ihr Arbeiter müsst gefälligst die Ärmel aufkrempeln, derweil wir hier, Kollegen der Stirn, sämtliche soziale Schieflagen analysieren.

„Ausdrücklich aktionsorientiert“

Mich faltigen alten Bourgeois hat das natürlich reizvoll gekitzelt: Staatsfeind werden! Nur durch Lesen. Nach allem, was der Verfassungsschutz so in seinem letzten Bericht zu sagen hatte und was die Fraktion der Linken kürzlich noch mal per kleiner Anfrage aus der Bundesregierung rausgekitzelt hat, fühlt sich die Lektüre des Blattes (Auflage: rund 25.000) fast schon wie Autos-Anzünden an: „Verfassungsfeindliche Positionen“, „linksextremistische Politikvorstellungen“, „Gegenöffentlichkeit“: Herrlich, das klingt nach einem sprudeligen Jungbrunnen!

Sogar „ausdrücklich aktionsorientiert“ soll das Blatt sein, das ist für mich, der vom vielen Denken und Schreiben allmählich immobil wird, womöglich genau das Richtige. Da kommt man mal raus, da erlebt man mal was, trifft Menschen – auch wenn die linksextreme Tageszeitung selber abwiegelt: Bei den inkriminierten „Aktionen“, teilt sie mit, ging es „unmissverständlich um die Verteilung von Zeitungsexemplaren auf Großveranstaltungen – also um Marketing.“

Na, wenn das mal die ganze Wahrheit ist! Ich wittere Geheimhaltung, Subversion, Konspiration, Guerillataktik, wittere auch linke Selbstgewissheit wie damals in den Neunzigern, als ich noch jung war und in Göttingen in eine Fachschaftsräteversammlung geriet, wo sich von den Anführern ganz bewusst falschrum auf den Stuhl gesetzt und gegen das protofaschistische Rauchverbot angequalmt wurde! Das waren noch Zeiten.

Ich beschließe, mir ein Abo einzurichten.

Damit das Ganze noch etwas verschwörerischer wird, abonniere ich nicht direkt beim Blatt, sondern gehe täglich zu einem der verbliebenen Zeitschriftenläden – und kaufe das Ding. Anonym. An der Kasse. Das wird den Schlapphüten zu denken geben! Wer ist der Typ, was führt er im Schilde, läuft da eine ganz große Sache, sollten wir rasch mehr Mittel beantragen?

„Rassismus nicht gebannt“

Am Dienstag komme ich begierig mit dem Blatt nach Hause, die brennende Fackel in der Hand, die sich dann, auf dem Sofa, doch wieder als raschliges, graues Papier erweist: In London ist die BLM-Aktivistin Sasha Johnson niedergeschossen worden, das schreit nach einem publizistischen Fanfarenstoß. Wie macht die „Junge Welt“ auf? „Rassismus nicht gebannt. Ein Jahr nach dem Mord an George Floyd ist der Widerstand ungebrochen.“ Im letzten Teil der Unterzeile wird dann der Anschlag erwähnt.

„Rassismus nicht gebannt“ – wow! Und ich war am Montag noch mit der glühenden Hoffnung ins Bett gegangen, Rassismus möge bis Dienstag früh verschwunden sein.

Überhaupt, was Überschriften angeht, also die lockende, attraktive Werbefahne für einen Text – auch da ist die „Junge Welt“ das Refugium einer altlinken Verstocktheit: Man versteht sich als Verlautbarungsorgan, als Pflichtlektüre, die man eher widerwillig übertitelt, und wenn, dann mit demonstrativer Lust- und Fantasielosigkeit. Headlines lauten hier: „Chancen und ernste Gefahren“, „Erhebliche Bedenken“, „Eine Kuh vom Eis“, „Um jeden Preis“, „International agieren“, „Schweigen ist Gold“, „Riegel vorgeschoben“… Sollen die Leute doch dankbar sein, dass sie hier an Information und korrekter Einordnung teilhaben dürfen! Wir sind ja schließlich keine Kirmesbude.

Die klassisch linke Positionierung ist dabei erfrischend und beruhigend zugleich: Ausbeutern und Kriegstreibern wird auf die Finger geschaut; das weitgehend werbefreie Blatt nimmt sich die Freiheit, den Status Quo des Spätkapitalismus anzugreifen. Staunend erfährt man, dass die Kleinstadt Zossen bei Berlin als Steuroase fungiert. Man liest über die Probewahlen derer, die in Sachsen-Anhalt nicht stimmberechtigt sind: 100.000 Menschen mit ausländischem Pass. Regelrecht rührend ist die eherne Treue, die manche Autoren dem russischen Bruderland halten, ganz egal, wer da gerade an der Macht ist …

Erdung per Arbeiterfaust

All das versetzt mich als Zeitungsleser in die beruhigende Lage des kritisch denkenden, sich oft bestätigt findenden Menschen. Die Verfassung der Bundesrepublik muss ich dafür eigentlich gar nicht in Frage stellen. Wenn dem Hedgefondsgründer Ray Dalio in einer Glosse anempfohlen wird: „Dalio erden – per Arbeiterfaust“, dann liegt im Lächeln des Lesenden der ganze Genuss des Folklorefreunds. Wird dem Multimilliardär gerade von einem Autor der „Jungen Welt“ Prügel angedroht? Ob der Autor wohl echte Arbeiter kennt oder von welchen gelesen wird? Krempelt er selber schon die Ärmel hoch?

Von Aktionismus, lieber Verfassungsschutz, war ich in der vergangenen Woche eher weit entfernt, allenfalls konnte ich mich an jenem Interview entzünden, in dem die „Freundschaftsgesellschaft Berlin-Kuba e.V.“ ein bisschen Werbung für ihre Fahrradtour machen durfte – von der kubanischen zur US-amerikanischen Botschaft. Verfassungsfeinde?

Eher bekommt man den Eindruck, dass der „Junge Welt“-Marxismus und das Bürgertum viel weniger weit auseinander liegen, als sie es sich einzugestehen geneigt sind. Man hat es sich eingerichtet in der besten respektive schlimmsten aller Welten, dem materiellen respektive dem ideellen Paradies – marxistischen Denkern reicht es ja letztlich, alles stets besser gewusst zu haben. Für den Umsturz sorgt irgendwann die Geschichte.

Wie jung ist wohl die „Junge Welt“, einst das Zentralorgan der FDJ? Eines ist sie jedenfalls nicht: weiblich. Das Geschlechterverhältnis in den Ausgaben vom Dienstag, Mittwoch und Donnerstag war erschütternd: Als Urheber großer Texte im Blatt gewannen die Männer gegen die Frauen mit 23:5, 24:3 und 21:5. (Literaturteil 17:6.) Das ist, sportlich gesprochen, ein Klassenunterschied. Im Impressum wird nicht eine einzige Redakteurin geführt. Die mich hier aufrütteln und in eine strahlende neue Zukunft führen wollen, heißen Dietmar, Peter, Stefan, Matthias, Jörg, Andreas … alte weiße Säcke, just like me.

Ich wage zu sagen: Das Land muss keine Angst haben vor denen.

8 Kommentare

  1. Der Autor mag den Marxismus so gar nicht, und zwar aus Geschmacks- bzw. Layoutgründen. In diesem Fall das Layout der JW. Weil er aber zum ersten Mal vernommen hat, dass die JW als einzige Zeitung in Deutschland vom Verfassungschutz beobachtet wird, schaut er mal drei Tage rein. Und stellt fest: Alles doof. Das bereits erwähnte Layout, die überschriften, die Ankündigungen. Den Inhalt scheint er nicht wahrgenommen zu haben, zumindest berichtet er nicht davon. Lediglich ein Raunen über „Autoren, die Russland weiterhin die Treue halten, egal wer dort regiert“, ist zu lesen.
    Insgesamt aber, so sein Ergebnis, alles ganz harmlos. Niemand brauche“Angst haben vor denen“.

    Woran der Autor keinen Gedanken verschwendet: Die Frage, ob man eventuell Angst haben muss vor einem Verfassungsschutz, der in vollem Einverständnis mit der Bundesregierung selbst so harmlose Zeitungen beobachtet. Angst um die Pressefreiheit, zum Beispiel. Und so erweist sich der Autor zwar nicht als das, als was er sich selbst ironisch bezeichnet, als „alten faltigen Bourgois“. Sondern schlicht als Ignorant.

  2. @Stefan Klein

    Weitere Gedanken, die der Autor im Text nicht ausgeführt hat: Das unausgeglichene Verhältnis zwischen Arbeits- und Feiertagen. Wohin die Bahnen fahren, auf denen ‚Betriebsfahrt‘ steht. Ob Nutella auf Laugengebäck gehört. In diesem Sinne: Das Ding ist eine Glosse und keine ernst gemeinte Besprechung. So negativ, wie Sie das wahrgenommen habe, empfinde ich den Text im Übrigen gar nicht. Hat mich sogar eher neugierig gemacht, vielleicht werfe ich auch mal einen Blick rein.

  3. @3: Ja, es ist eine Glosse. Für meinen Geschmack wird aber zuviel nach unten getreten, was in meinen Augen kein guter Humor ist, sondern herablassend wirkt. Das Kokettieren mit der eigenen vermeintlichen Bourgeoise macht es in meinen Augen nur noch schlimmer. Ich bin ganz klar bei #2: der Verfassungsschutz kommt zu gut dabei weg. Und die Tatsache, dass eine Zeitung wie diese oder eine Organisation wie Cuba Si vom Geheimdienst überwacht werden, kann man vielleicht als lächerlich abtun, ist in Meinen Augen aber eher als Signal an die Rechte Gemeinde da draußen zu verstehen.

  4. Das ist ja nicht die Schuld des Verfassungsschutzes, dass die extreme Linke so harmlos geworden ist. Werdet Linksextremisten! Gebt dem Verfassungsschutz richtig was zu tun! Wir zahlen schließlich für diesen Dienst! ;)

  5. Nicht nur die „Junge Welt“ wirbt damit, dass sie vom Verfassungsschutz beobachtet wird, sondern auch das Blog „PI“.
    Verboten sind aber beide Medien nicht. Welche Konsequenzen hat also die Beobachtung durch den Verfassungsschutz?

  6. Sehr schön, ich habe viel gelacht – als Journalistin vor allem über die Auflistung der Überschriften, da werde ich doch glatt an meine erste Praktikumsstelle bei einer Lokalzeitung erinnert, herrlich diese Titel.

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