In Dänischenhagen, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Kiel, wurden am Mittwoch zwei Menschen getötet. Anwohner hatten am Vormittag die Polizei verständigt, nachdem sie meinten, Schüsse gehört zu haben. Die Beamten fanden daraufhin zwei Leichen in einem Haus und später eine weitere in Kiel; offenbar gibt es einen Zusammenhang. Nach derzeitigem Stand soll es sich um eine Beziehungstat handeln. Der mutmaßliche Täter, der zunächst flüchtig war, hat sich am Mittwochabend der Polizei gestellt.
Drei Tote an zwei Orten, ein flüchtiger Täter – so eine Lage ist natürlich erst mal sehr unübersichtlich, für die Polizei, für Bürger*innen, auch für Medien. Schnell kursieren Gerüchte, Menschen bekommen Angst. Aufgabe von Journalisten wäre es deshalb in solchen Situationen, Informationen gründlich zu prüfen und erst dann zu berichten, um nicht zusätzlich zu beunruhigen.
Hier aber lief einiges schief. Insbesondere die „Kieler Nachrichten“ (KN), die einzige Tageszeitung am Ort, werden – teilweise heftig – für ihre Berichterstattung kritisiert. Dabei geht es nicht nur um Gerüchte, die verbreitet wurden und sich später als falsch erwiesen, sondern auch um die Frage, ob Beiträge zu so einem Fall online hinter einer Paywall stehen sollten.
Ein Amoklauf?
Nach den ersten Meldungen starten die KN am Mittwoch um 12 Uhr einen „Live-Blog“, der das Geschehen abbilden soll. Neben Dänischenhagen gerät schnell auch die Stadt Kiel in den Blick. Augenzeugen wollen den mutmaßlichen Fluchtwagen des Täters dort gesichtet haben. Die Polizei durchsucht unter anderem das Brauereiviertel, findet aber weder Wagen noch Täter.
Um 12:39 Uhrtwittern die KN: „Der Verdacht auf einen Amoklauf steht im Raum“, die Lage spitzt sich augenscheinlich zu. In einem Tweet der KN um 13.15 Uhrheißt es dann:
„Verdacht auf Amoklauf: Auch in Kiel sind Schüsse gefallen. Ein Mann soll im Brauereiviertel mit einem Sturmgewehr unterwegs sein.“
Eingebunden ist dort ein Link zum „Live-Blog“, in dem die KN um 13:16 Uhr schreiben:
„Passanten berichten von einem geflüchteten Mann mit einem Gewehr.“
Auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichen die KN um 13:30 Uhr ein Sharepic mit Polizeiauto und der Aufschrift:
„Großer Polizeieinsatz in Dänischenhagen und Kiel: Verdacht auf Amoklauf“.
Und dann bekommt die Meldung quasi amtliches Gewicht.
Verdacht auf #Amoklauf in #Kiel: Das Brauereiviertel und die Holtenauer Straße ist abgesperrt, meidet die Bereiche und bleibt zu Hause. https://t.co/YTxk3g4iMq
— Landeshauptstadt Kiel (@stadt_kiel) May 19, 2021
Um 13:31 Uhrverbreitet die Stadt Kiel den jüngsten KN-Tweet über ihren Twitter-Account, mit einem Text, der an den der KN angelehnt ist, und mit der Warnung, Teile der Stadt zu meiden: „bleibt zu Hause“.
Andere Medien deuten das offenbar als Bestätigung, greifen es auf – sogar die KN selbst, die um 13:34 Uhr den Stadt-Tweet, der den KN-Tweet enthält, in ihren „Live-Blog“ stellen: „+++ Stadt Kiel auf Twitter +++“.
Der „Berliner Kurier“ twittert noch um 14:40 Uhr: „Behörde spricht von #Amok: zwei Tote, bewaffneter Täter auf der Flucht!“
Doch da ist der Verdacht von den Behörden längst dementiert worden. Bereits um 14:06 Uhr, gut eine halbe Stunde nach ihrem ersten Tweet, korrigiert die Stadt mit Verweis auf die Polizei, dass es keine Hinweise auf einen Amoklauf gebe. Auch die KN schreiben um 13:59 Uhr im „Live-Blog“: „+++Keine Hinweise auf Amoklage +++“. Auf der Facebook-Seite der KN heißt es in einem Update um 14:55 Uhr: „Es stand der Verdacht auf einen Amoklauf im Raum, so die Polizei. Das ist nun nicht mehr [der] Fall.“
„So die Polizei“?
Die Polizei sagt Übermedien auf Nachfrage, es habe einen solchen Verdacht ihrerseits nie gegeben: keine offizielle Meldung der Pressestelle, auf keinem Kanal. „Wir sind von dieser Meldung überrollt worden“, erzählt der Polizeisprecher am Telefon. „Wir hatten unsere liebe Not, das wieder in vernünftige Bahnen zu lenken.“ Allein vier Beamte seien für Social Media abgestellt worden, also um eigene Posts zu erstellen und auf andere zu reagieren.
Auf unsere Fragen, wie sie auf einen möglichen Amoklauf kamen, möchten die KN „keine Stellungnahme abgeben“, schreibt die Chefredaktion per Mail. In einem aktuellen Artikel der KN heißt es: „Schnell macht in Dänischenhagen das Gerücht von einem Amoklauf die Runde, befeuert durch hektische Meldungen in den sozialen Netzwerken.“ Im Kieler Brauereiviertel hätten „die Ermittler selbst anfangs einen Amoklauf nicht ausschließen“ wollen.
Der Polizeisprecher sagt, es könnte sein, dass einer der Beamten vor Ort so etwas angedeutet haben könnte – weil er es selbst über Medien mitbekam. Möglich sei das. Der Sprecher betont aber noch mal, dass es eben keine offizielle Meldung seitens der Polizeipressestelle gegeben habe, jener Stelle, die für die offizielle Kommunikation in solchen Fällen relevant ist.
In den „Kieler Nachrichten“ heißt es nun weiter dazu, wie so ein „Gerücht überhaupt entstehen“ konnte:
„Schnell kreiste ein Hubschrauber, die ersten Einsatzkräfte hatten angesichts der dramatischen Situation am Tatort Mühe, die Gesamtlage zu bewerten, und an der Grundschule wuchs die Angst. Eine Situation, in der der Gedanke an einen Amoklauf sehr nahe liegt. Zeugen berichteten zudem von einem Fluchtwagen mit einem schwer bewaffneten Mann, der in Richtung Kiel davongerast sei. Spätestens da war im Ort von der Gefahr eines Amoklaufs die Rede, was von der Polizei zunächst auch nicht dementiert werden konnte. Man habe eine ‚unklare Lage‘, hieß es stattdessen offiziell.“
Weil die Polizei von einer unklaren Lage sprach, konnte in den Augen der KN also auch ein Amoklauf nicht ausgeschlossen werden. Und dann hat sie die „hektischen Meldungen“ im Internet selbst hektisch befeuert, ohne eine Bestätigung abzuwarten.
Den KN-Artikel verlinkt und den Begriff „Amoklauf“ übernommen zu haben, bezeichnet die Pressestelle der Stadt Kiel auf Nachfrage von Übermedien als „Fehler, den wir sehr bedauern“. Es habe „zahlreiche Posts zum Polizeieinsatz im Brauereiviertel und dessen Auswirkungen auf die Kieler*innen“ gegeben. „Die Onlineredaktion wollte unverzüglich dazu aufrufen, den Bereich zu meiden und zu Hause zu bleiben“, und habe sich für diesen Weg entschieden, „bevor sie die Polizeipressestelle erreichen konnte“.
Nach dem schriftlichen Statement ruft die Pressesprecherin der Stadt Kiel noch mal an. Sie ist zerknirscht. Das sei „im Eifer des Gefechts“ geschehen.* Sie hätten mit dem Post Gerüchte angeheizt, das dürfe nicht passieren.
Die Stadt will sich nun mit der Polizei abstimmen, wie künftig mit solchen Situationen umzugehen ist. Dabei gebe es eigentlich schon jetzt die Regel, sagt die Sprecherin, dass die Stadt in solchen Lagen ausschließlich das verbreite, was die Polizei offiziell mitteile.
Schüsse in Kiel?
Gerüchte, Hörensagen, Spekulationen zu verbreiten, das machen Medien in solchen Großlagen leider immer wieder. Die KN melden in ihrem „Live-Blog“ um 14:07 Uhr auch Folgendes: „+++ Schussgeräusche zu hören +++ In der Nähe vom Brauereiviertel sind Schussgeräusche gehört worden.“
Ist das eine Meldung? Oder ist das ein Satz, der sich nach Grammatik und Sprachgefühl sehnt, und außerdem mehr Fragen aufwirft als beantwortet? Zum Beispiel: In der Nähe? Wo genau? Und: „sind gehört worden“? Von wem? Waren es wirklich Schüsse? Oder Geräusche, die sich nur so anhörten?
So etwas kann man eilig verbreiten – oder man kann abwarten und recherchieren. Nur neun Minuten später korrigieren die KN sich bereits: „Polizei: Es wurde nicht geschossen“. In dem Eintrag wird ein Polizist zitiert, der sagt: „Es wurde in Kiel nicht geschossen.“ Die KN lassen aber dennoch ein bisschen offen, ob nicht vielleicht doch irgendwo irgendwer irgendwas: „Die von Passanten gehörten Schussgeräusche stammen nicht von der Polizei.“
Die Polizei sagt auf Nachfrage, auch das Gerücht vom Mann mit Sturmgewehr habe sich bislang nicht bestätigt. Solche Meldungen hätten aber „Nebenschauplätze“ geschaffen und weitere Presse angelockt, sagt der Polizeisprecher. Beunruhigte Passanten hätten Beamte gefragt, ob das mit dem Amoklauf stimme, besorgte Eltern hätten auf der Wache angerufen, um sich zu erkundigen, ob sie sich um ihre Kinder in der Schule sorgen müssten.
Um 13:45 Uhr fügen die KN in ihrem „Live-Blog“ den Tweet eines Politikers ein. Überschrift des Eintrags:
„Landtagsabgeordneter der Grünen warnt vor Spekulationen“
Hinter der Paywall?
Ein anderes Problem: Der „Live-Blog“ der KN befindet sich, wie die meisten Artikel zum Thema, hinter der Paywall. Bei den Leserinnen und Lesern führt das zu deutlicher Kritik. Eine angeblich akute Bedrohungslage – und man soll sich erst einloggen und Bezahldaten hinterlegen? „Unfassbar“, schreibt ein Leser auf Facebook, „ihr tickt doch nicht richtig“ ein anderer.
Zumal das Vorgehen dem widerspricht, was auf der KN-Seite steht:
„Auch bei Ereignissen und Vorkommnissen, die die Bevölkerung gefährden könnten (Bombenräumung , Straftäter auf der Flucht, Terroranschlag), werden die Texte frei verfügbar bleiben.“
Die KN haben auf die Kritik reagiert. Sie haben aber nicht die Paywall aus dem „Live-Blog“ genommen, sondern „wichtige Infos kostenlos“ in einen separaten Artikel gepackt. Einem Kritiker auf Twitter schreiben die KN: „Außerdem ist unser Plus-Abo auch einen Monat vollkommen kostenlos nutzbar.“ Aber macht es das besser?
Fraglich ist ohnehin, wie wertvoll dieser „Live-Blog“ ist, in dem Meldungen verbreitet werden, die erst für weitere Unruhe sorgen und sich dann als falsch erweisen, wo Polizei-Tweets einfach eingebunden werden und Einträge auftauchen wie: „Anwohnerin ist schockiert“ oder „Noch immer kreisen Polizeihubschrauber über Dänischenhagen“. Lohnt sich dafür ein Abo?
Auch zu unseren Fragen, was ihre Paywall-Strategie betrifft, wollten sich die KN auf unsere Nachfrage nicht äußern.
* Nachtrag, 24.5.2021. Wir hatten die Pressesprecherin der Stadt Kiel zunächst mit anderen Worten aus unserem Telefonat zitiert. Sie bat darum, das noch mal umzuformulieren. Diesem Wunsch sind wir nachgekommen.
Der Autor
Boris Rosenkranz ist Gründer von Übermedien. Er hat an der Ruhr-Universität Bochum studiert, war „taz“-Redakteur und Volontär beim Norddeutschen Rundfunk. Anschließend arbeitete er dort für verschiedene Redaktionen, insbesondere für das Medienmagazin „Zapp“. Seit einigen Jahren ist er freier Autor des NDR-Satiremagazins „Extra 3“.
7 Kommentare
„Oder ist das ein Satz, der sich Grammatik und Sprachgefühl sehnt, (…)“
Dieser Satz ist grammatikalisch deutlich kritischer, als der Satz der bemängelt wird… Das ist doch schon ein bisschen peinlich. ;-)
Joa. Hab’s korrigiert. Danke für den Hinweis!
Vor dem Anruf der Pressesprecherin der Stadt Kiel habe ich echt Respekt. Sowas muss man nicht machen. Sowas setzt Courage und echtes Interesse am Sachverhalt vorraus. Viel zu oft liest man Sätze wie „haben wir keine Antwort bekommen“. Schön, dass es hier anders gelaufen ist.
Bitte nennt Femizide nicht „Beziehungstat“…
@Malte
Dito!
@Malte: Ja, finde ich auch!
@Marco: Nein, eigentlich nicht. Ich weiß um die Problematik und wollte lediglich vom „Amoklauf“ abgrenzen, da Amokläufer ja „wahllos“ töten, hier aber eine persönliche Beziehung zu den Opfern bestanden haben soll.
@Marco: Es wird hier ja nicht von einem „Beziehungsdrama“ gesprochen. Ich bin über den Begriff „Beziehungstat“ auch gestolpert, halte ihn aber aus den von Herrn Rosenkranz selbst genannten Gründen für passend.
„Femizid“ würde ja voraussetzen, dass der Täter sein Opfer vor allem wegen dessen Geschlecht getötet hat. Dazu passt aber nicht, dass das dritte Opfer in Kiel ein Mann war und den Täter offenbar auch persönlich kannte.
Ich denke, auch der Begriff Femizid sollte nur verwendet werden, wenn man sicher sein kann, dass er auch zutrifft. Sonst verwässert er.
„Oder ist das ein Satz, der sich Grammatik und Sprachgefühl sehnt, (…)“
Dieser Satz ist grammatikalisch deutlich kritischer, als der Satz der bemängelt wird… Das ist doch schon ein bisschen peinlich. ;-)
Joa. Hab’s korrigiert. Danke für den Hinweis!
Vor dem Anruf der Pressesprecherin der Stadt Kiel habe ich echt Respekt. Sowas muss man nicht machen. Sowas setzt Courage und echtes Interesse am Sachverhalt vorraus. Viel zu oft liest man Sätze wie „haben wir keine Antwort bekommen“. Schön, dass es hier anders gelaufen ist.
Bitte nennt Femizide nicht „Beziehungstat“…
@Malte
Dito!
@Malte: Ja, finde ich auch!
@Marco: Nein, eigentlich nicht. Ich weiß um die Problematik und wollte lediglich vom „Amoklauf“ abgrenzen, da Amokläufer ja „wahllos“ töten, hier aber eine persönliche Beziehung zu den Opfern bestanden haben soll.
@Marco: Es wird hier ja nicht von einem „Beziehungsdrama“ gesprochen. Ich bin über den Begriff „Beziehungstat“ auch gestolpert, halte ihn aber aus den von Herrn Rosenkranz selbst genannten Gründen für passend.
„Femizid“ würde ja voraussetzen, dass der Täter sein Opfer vor allem wegen dessen Geschlecht getötet hat. Dazu passt aber nicht, dass das dritte Opfer in Kiel ein Mann war und den Täter offenbar auch persönlich kannte.
Ich denke, auch der Begriff Femizid sollte nur verwendet werden, wenn man sicher sein kann, dass er auch zutrifft. Sonst verwässert er.