In dieser Rubrik geben wir Autorinnen und Autoren die Gelegenheit, über ihr persönliches Hasswort zu schimpfen. Eine Redewendung oder Formulierung, die nervt, sinnlos ist oder falsch eingesetzt wird – die aber ständig auftaucht, in Texten, im Radio oder im Fernsehen. Alle Hasswörter finden Sie hier.
Radikal
Im Journalismus, im Literaturbetrieb und in der Werbeindustrie, alles ist gerade „radikal“, wirklich alles: Es ist radikal höflich zu sein, es ist radikal zu lieben, auf sich selbst zu achten, ja, sogar Vegetarier zu sein ist radikal, radikal schick nämlich, zumindest wenn man der „Welt“ glaubt.
Man kann das Radikalen-Bingo auf die Spitze treiben und stundenlang irgendwelche völlig absurden Wörter + „radikal“ googeln und man wird fast immer fündig: Radikale Akzeptanz, radikale Nächstenliebe, radikal normal und wenn Thees Uhlmann singt, so befindet es die SZ, ist er „radikal egal“.
Radikale Spießer
Durch die Inflation des Worts radikal setzt eine Entwertung ein, die man zum Beispiel aus der Modeindustrie kennt: Wurden Bomberjacken in den 90er-Jahren noch von brandschatzenden Nazi-Orks in Rostock-Lichtenhagen getragen, so gehen sie heute als ironischer Kommentar auf die eigene Spießigkeit von Sparkassenangestellten und Werbetexter*innen durch. Aus der Kleidungsstück gewordenen Mikroaggression von damals ist ein Erkennungsmerkmal der vermeintlich coolen Großstadt-Kleinbürger von heute geworden. Anderes Beispiel: Die Pullover des Skateboardmagazins Thrasher wurden von Influencer*innen so durch den Wolf gedreht, dass sich kaum noch ernstzunehmende Skater*innen damit blicken lassen wollen.
Das Stichwort lautet also Entwertung, oder auch Aushöhlung. Musste man früher Molotowcocktails werfen oder wenigstens Politiker entführen, um als radikal zu gelten, so muss man heute einfach nur sehr sehr ehrlich sein – und schwups ist sie da, die Radikalität.
Kein Bruch mit der Familie, keine Flucht vor dem Konformismus der Boomer-Eltern, heute kann man beides gleichzeitig sein: Flauschig angepasst, so mit Riesterrente und Trading-App auf dem Smartphone und gleichzeitig radikal höflich, radikal ehrlich, radikal zärtlich, radikal [Fügen sie hier das Adjektiv ihrer Wahl ein].
Radikale Verkäufer
Radikal sein bedeutet heute, etwas zu verkaufen zu haben. Die Journalistin Teresa Bücker hat das Potential des Begriffs früh erkannt. Mit ihrer SZ-Kolumne „Freie Radikale“ ist sie gewissermaßen Vorreiterin im Wettbewerb der Adjektivierung des Alltäglichen geworden. Seit 2019 hangelt sie sich für ihre Leser*innen durch den Dickicht des (möglicherweise) Radikalen.
„Ist es radikal, nichts zu tun?“, fragt Sie, oder „Ist es radikal, nach Corona lange Ferien zu machen?“. Der Begriff radikal, sagt Bücker in einem Video über ihre Kolumne, „ist im Kern vollständig negativ besetzt, dabei bedeutet er im Kern, ein Problem bei der Wurzel zu packen.“
Damit ist Bücker bei der Definition des Dudens. Dort versteht man unter dem Begriff radikal: „von Grund aus erfolgend, ganz und gar; vollständig, gründlich.“ Oder auch: „mit Rücksichtslosigkeit und Härte vorgehend, durchgeführt.“
Einige von Bückers Kolumnenfolgen kommen dieser Definition durchaus nah. Manche Fragestellungen – „Ist es radikal, zu Hause abzutreiben?“, „Ist es radikal, Jungen beizubringen, nicht zu vergewaltigen?“ – sind in einem durchaus nicht unradikalen, beinahe aufrührerischen Duktus gestellt. Doch woher kommt er eigentlich, dieser Wunsch nach der Radikalität?
Befriedete Gesellschaft – doch alle sind radikal
Ein Erklärungsansatz, der mehr auf der adleräugigen Empirie des Schreibers als auf datenbasierter Erhebung beruht, ist folgender: Je befriedeter eine Gesellschaft ist (was Demokratie, Verbrechen, Wirtschaftsstabilität angeht), desto mehr sucht sie das Extrem – und umgekehrt.
Der Autor
Olivier David hat bei der „Hamburger Morgenpost“ volontiert. Heute scheibt er als freier Autor unter anderem für die Tageszeitung „Neues Deutschland“. Ende 2021 kommt sein erstes Buch heraus, das von den Auswirkungen von Armut auf die Psyche handelt.
Keiner wäre im Jahr 1972, zu Zeiten des Radikalenerlass und der ersten RAF-Toten, auf die Idee gekommen, sein Buch, sein Produkt, seine Mental-Health-Methode mit dem Prädikat „radikal“ zu beschreiben. Radikal, das waren die linken Terroristen, die in den Untergrund gingen, die sich in Stammheim zu Tode hungerten.
Wir leben heutzutage so sicher wie keine Generation vor uns. Von 2001 bis 2020 ist die Anzahl der Mordfälle um 43 Prozent zurückgegangen, auch die Gewaltkriminalität hat im vergangen Jahrzehnt deutlich abgenommen. Die Zahl der Verkehrstoten? Auf historischem Tiefstand.
Verhält es sich mit dem Phänomen des Radikalismus vielleicht ähnlich wie mit Fernsehkrimis? „Je höher der Ausstoß an fiktiven Untaten, desto friedlicher das Gemeinwesen“, stellte „Welt“-Autor Elmar Krekeler schon 2016 empirisch fest.
Radikal konservativ
Guckt man sich die Dinge an, die heute radikal sein sollen, fällt noch etwas auf: In einer Welt, die angeblich zunehmend verroht, ist es radikal, höflich zu sein. Oder nehmen wir die Achtsamkeit: In einer Zeit, in der die Zerstreuung durch das Smartphone, durch einen hektischen Alltag, durch immer länger werdende To-do-Listen überhand genommen hat, ist es radikal, achtsam zu sein.
Was oftmals – nicht immer – dahintersteht, ist nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen. Oder mit anderen Worten: Alter Wein in konservativen Schläuchen. Irgendetwas ist verkommen, degeneriert, und die einzige Möglichkeit es zu ändern, ist es, sich auf alte Werte wie ein respektvolles Miteinander oder den wertschätzenden Blick auf sich selbst einzulassen.
Nichts daran ist illegitim. Ganz im Gegenteil. Kann jede und jeder so machen. Nur ist das eben in den meisten Fällen nicht radikal. Nichts von wegen Achtsamkeit neu denken, Liebe neu denken, was auch immer neu denken. Im Gegenteil: es ist stinknormal.
Wir alle sind anders anders als alle Anderen. Und darin sind wir radikal. Das Wort ist nur einer von vielen Aufmerksamkeitsfängern, mit denen die eigene banale Mainstreamhaftigkeit zum ganz individuellen Weg verklärt werden soll. Und überhaupt nicht neu. „Radical chic‘ ist ein Essay von Tom Wolfe von 1970, in dem es um Partysozialisten geht, die kleine Ches zumindestens optisch darstellen wollten. Ob cool, geil, hipp, radikal, immer soll ein grelles Licht auf etwas fallen, das das nicht von alleine ausstrahlt. In den 70ern war halt radikal kurzzeitig von Terroristen und Kommunisten verbal besetzt, jetzt ist es wieder nutzbar. Die Vorstellung des Autors, wir lebten in einer soviel friedlicheren Gesellschaft, ist zumindestens politisch unhaltbar. Das galt, wenn überhaupt, zuletzt in den bleiernen Spassneunzigern. Dass die gesunkene Gewaltkriminalität als solche nicht wahrgenommen wird, weil gleichzeitig jede Schulhofrauferei absurde Helikopterelternaufmerksamkeit erfährt, ist ihm entgangen? Auch tragen terroristische Anschläge wie der auf dem Breitscheidplatz und der nur kurzzeitig durch Corona überblendete importierte gewalttätige Islamismus nicht zur Unterfütterung seiner These einer behäbig sicheren Gesellschaft bei. Corona und die Folgen sicher auch nicht. Er hat die schlichte Tatsache übersehen, dass je vorhersagbarer die immer gleichen Thesen aus den immer gleichen Mainstreammündern werden, desto greller die verbalen Spotlights sein müssen, um überhaupt noch Aufmerksamkeit zu kriegen. Radikal ist das Faschingskostüm der Phrasen, in einer Gesellschaft, in der schon versuchter Widerspruch gegen heilige Thesenkühe, ob Migration, Klima oder Drostenpodcasts als Gedankenverbrechen gilt. Wirklich radikales Denkens ist eben eine Sache der geistigen Unabhängigkeit. Bei den Gendernachplapperern kann die per se nicht bestehen. Das ist alles.
„stundenlang irgendwelche völlig absurden Wörter + „radikal“ googeln und man wird fast immer fündig“
Das Lustige ist, das geht auch mit absurden Wörtern + „Blümchen“, „Sommer“, „Bratwurst“ oder „mäh“. Des Rästels Lösung: Im Internet gibt es garantiert zu jedem Begriff zig (Tausend, Millionen,…) Inhalte.
Und die Schlussfolgerung ist, dass das bloße Vorhandensein eines Google-Suchergebnisses kein Beleg für irgendwas ist. Und als Einstieg für einen Artikel taugt es auch nicht so recht.
Ansonsten lässt sich der Einsatz des Wortes „radikal“ ganz einfach mit Eigenmarketing erklären. So lange man damit auffällt, wird es benutzt. Danach wird die nächste Sau durch’s Dorf getrieben.
Aufmerksamkeitsfänger:
banale Mainstreamhaftigkeit
Partysozialisten
Terroristen und Kommunisten
bleierne Spassneunziger
absurde Helikopterelternaufmerksamkeit
importierte gewalttätige Islamismus
Mainstreammünder
Fashingkostüm der Phrasen
heilige Thesenkühe, Gedankenverbrechen
Gendernachplapperern
Das ist alles. Wow. Lol. Gut, dass bald Mai ist.
Ist es radikal, Journalisten beizubringen, dass rhetorische Fragen entweder selbstverliebtes Gebrabbel sind oder eine Methode, indirekt zu lügen?
Ich komme mir nach dem Satz gleich viel schlauer vor.
Aber ja, „radikal“ hat infolge des Aufmerksamkeitswettbewerbes einerseits und des Rückganges von Radikalen im ursprünglichen Sinne andererseits eine gewisse Bedeutungsinflation erfahren.
Die größte Bedeutungsinflation hat der Begriff im (US-amerikanischen) Englisch erfahren – da ist alles „radical“, was nicht der reinen Lehre der MAGA-Crowd entspricht (was auch immer die tatsächlich sein mag), am liebsten in Kombination mit „leftist“ oder „socialist“, was ebenso bedeutungsleer ist. Die Schockwirkung ist inzwischen aufgebraucht, es ist eine Phrase von vielen und man fragt sich, welche Formulierung als nächstes kommt, damit das Aufregermoment sich wieder einstellt – und, ob es im deutschsprachigen Kontext eine ähnlich unsinnige Entwicklung geben wird. Die entsprechenden Akteur*innen versuchen es ja mitunter, aber es verfängt noch nicht so recht.