Erfolgreiches Aufmerksamkeits-Management

Medien kaufen Uni wüste Materialsammlung als brisante Corona-Studie ab

Der Hamburger Physiker Roland Wiesendanger hat die Sorge, es könnte vorschnell die Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass die Corona-Pandemie keine „Naturkatastrophe“ ist. Es gebe noch keine Belege dafür, ob und wie das Virus vom Tier auf den Mensch übertragen wurde („Zoonose“). Stattdessen könne das Virus aus einem Labor in China stammen, in dem auch daran gearbeitet werde, solche Viren gefährlicher für den Menschen zu machen. Auch dafür gibt es zwar keinen Beweis, aber eine Reihe von Indizien sprechen nach Ansicht von Wiesendanger dafür.

Wenn der angesehene Physiker einen Aufsatz verfasst hätte mit Links und Argumenten dafür, eine Theorie nicht vorschnell auszuschließen, hätte das ein interessanter Text werden können – vielleicht sogar mit den folgenden von ihm selbst formulierten Sätzen im Zentrum:

Bis heute gibt es keine wissenschaftlich basierten strikten Beweise für eine der beiden genannten Theorien. In einer solchen Situation sollten Wissenschaftler – unabhängig von der jeweiligen Fachrichtung – eine neutrale Haltung einnehmen und eine ergebnisoffene Diskussion bis zur endgültigen Klärung der entscheidenden Frage nach dem Ursprung der Pandemie führen.

Doch einen Text zu schreiben, einen Artikel, einen Aufsatz, das war Wiesendanger offenbar zu schnöde. Und es versprach zu wenig Aufmerksamkeit. Es musste eine „Studie“ sein.

Und so nannte er die wüste Materialsammlung, die er angelegt und in denen er die besten Stellen neonfarbig markiert hatte und aus der man mit einigem gründlichen Redigieren und Aussortieren einen Aufsatz hätte machen können:

Studie zum Ursprung der Coronavirus-Pandemie

Gleich fünfmal kommt das Wort „Studie“ schon im Vorwort vor; auch in der Pressemitteilung, mit der die Universität Hamburg auf das Werk ihres Professors für Nanowissenschaft aufmerksam machte, steht es prominent.

Nicht „hochwissenschaftlich“

Die „Studie“ folgt zwar keiner wissenschaftlichen Methode, aber das Wort „Studie“ ist so wenig geschützt ist wie das Wort „Journalismus“. Man macht sich im Zweifel nur lächerlich, wenn man das Wort benutzt, aber mit etwas Glück beeindruckt man auch ein paar Ahnungslose. Eine „Studie“, das klingt nach fundiertem, von Profis recherchiertem und überprüftem Wissen. Einen Aufsatz kann jeder Honk schreiben.

Immerhin, eine klitzekleine Einschränkung erlaubte sich die Universität: Die „Studie“ liefere keine „hochwissenschaftlichen Beweise“.

Man hätte an dieser Stelle schon hellhörig werden müssen, denn eigentlich unterscheidet man nicht zwischen „wissenschaftlichem“ und „hochwissenschaftlichem“ Arbeiten; der Duden weist bezeichnenderweise darauf hin, dass das Wort „hochwissenschaftlich“ oft abwertend benutzt werde – wohl im Sinne einer Superraketenwissenschaft mit übertriebenen Ansprüchen, die den wirklich spannenden Erkenntnissen nur im Wege steht.

Eindrucksvoll ist auch die Verbindung des Wortes „Studie“ mit einer Zeitangabe. Hier ist es eine „einjährige Studie“ – was nach einem Experiment oder einer Datenauswertung von klar umrissener Dauer klingt. Der Text konkretisiert das sogar auf dem Deckblatt: „Zeitraum der Studie 01.01.2020 – 31.12.2020“. Aber was in dieser Zeit passiert ist, was am 1. Januar begann und am 31. Dezember endete, bleibt völlig nebulös.

Seriöse und dubiose Quellen

Anders als von ihm selbst propagiert, ist die Textsammlung und Argumentation keineswegs ergebnisoffen: Wiesendanger trägt aus seriösen und dubiosen Quellen alles zusammen, was gegen die Theorie einer Zoonose spricht – um zu dem Schluss zu kommen, „dass sowohl die Zahl als auch die Qualität der Indizien eindeutig für einen Laborunfall am virologischen Institut der Stadt Wuhan als Ursache der gegenwärtigen Pandemie sprechen“.

Diese klare und spektakuläre Aussage in Verbindung mit dem Wissenschaft verheißenden Wort „Studie“ aus einer seriös erscheinenden Quelle wie der Universität Hamburg – die Mischung erwies sich, wenig überraschend, als unwiderstehlich für viele Medien. Zunächst waren es vor allem die im Großraum Hamburg, die darauf ansprangen.

Der NDR verbreitete Wiesendangers Spekulationen inklusive des irreführenden Begriffs „Studie“ ebenso wie das Regionalprogramm von Sat.1. Das reichweitenstarke Portal t-online berichtete prominent und fügte erst nachträglich einen Kasten ein, der auf Zweifel an Wiesendangers Aussagen hinwies.

Zeitweise ergab sich so der interessante Effekt, dass die Behauptungen Wiesendangers ausgerechnet von etablierten Medien weitgehend ungeprüft weiterverbreitet wurden, während auf Twitter zahlreiche Laien und Profis immer weitere Belege dafür sammelten, was daran zweifelhaft ist.

Interessanterweise wurde die sogenannte „Studie“ dabei gar nicht von den Nachrichtenagenturen verbreitet – was sonst der sicherste Weg ist, ihr eine große Reichweite zu verschaffen. Bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa) hat sich die Wissenschaftsredaktion nach Prüfung des Papiers bewusst gegen eine Meldung entschieden. Heute allerdings kommt auch sie nicht mehr an einer Berichterstattung vorbei – allerdings mit dem Fokus auf der Kritik an der Veröffentlichung („Wirbel um Papier von Hamburger Professor zur Corona-Pandemie“.

Viel mediale Aufmerksamkeit

Mehrere Zeitungen im norddeutschen Raum haben Wiesendanger und seinen Thesen heute viel Platz eingeräumt. Anders als die Hamburger „Morgenpost“, die Wiesendangers PR weitgehend übernimmt, finden sich in einigen von ihnen auch Relativierungen.

Ausriss: „Schweriner Volkszeitung“

Die „Schweriner Volkszeitung“ etwa weist darauf hin, dass die angebliche Studie „keinerlei wissenschaftliche Begutachtung durchlaufen“ hat, sondern auf der Plattform ResearchGate veröffentlicht wurde: „Das ist für eine so brisante These ein sehr wackeliges Fundament.“ Und weiter:

Dass die Uni eine Sammlung von Indizien eines fachfremden Forschers in die Diskussionsrunde wirft, hat gestern nicht für Begeisterung in der Wissenschaftswelt gesorgt.

Das „Hamburger Abendblatt“ titelt: „Uni: Virus könnte aus Labor stammen“, erwähnt aber auch den Widerspruch in den sozialen Medien und dass die Landesregierung vorsichtig auf Distanz gehe.

Deutscher Professor sicher / Corona war LABOR-UNFALL in China
Ausriss: „Bild“

Der „Bild“-Zeitung dagegen passte das zweifelhafte Papier perfekt in die eigene politische Ideologie – und so macht sie sich dessen Aussagen fast vollständig zu eigen, mit einer anführungszeichenlosen Schlagzeile auf der Titelseite und mit einer Aufmachung im Inneren, die die These zur Tatsache macht.

Hamburger Professor hat 600 Hinweise gesammelt / Corona kam aus diesem Labor in Wuhan
Ausriss: „Bild“

Der Artikel ist ohne Autorenzeile oder -kürzel veröffentlicht.

„Bild“-Redakteur Julian Röpcke wütete gestern Nachmittag schon auf Twitter gegen diverse Journalisten, die es wagten, das spekulative Papier als spekulatives Papier zu bezeichnen und die Art der Veröffentlichung kritisierten. Er unterstellte ihnen als Motiv, dass ihnen „die Ergebnisse“ der Studie nicht passten. Heute goss er seine Empörung noch in einen Bild.de-Artikel.

„Breit angelegte Diskussion“

Roland Wiesendanger behauptet in seinem Papier, es solle „Basis einer breit angelegten Diskussion in der Bevölkerung“ sein. Das hat er, einerseits, erreicht – wenn man es an der Prominenz der Berichterstattung misst. Gleichzeitig hat er eine potentielle seriöse Diskussion, wenn er sie tatsächlich wollte, durch die unseriöse Art der Publikation zunichte gemacht. Und die „Bild“-Zeitung, die sich nun als sein wichtigster Medienpartner präsentiert, verhindert jede Form einer offenen Auseinandersetzung schon dadurch, dass sie die Thesen als Tatsachen präsentiert – was nicht den Anfang, sondern das Ende einer Debatte markiert.

Dabei ist die Frage nach dem Ursprung des Virus zweifelsohne brisant und offen: Selbst die WHO räumte nach einigem Hin und Her ein, dass sie die These, dass das Virus aus einem Labor kommen könnte, nicht ausgeschlossen hat.

Faktenchecks zur „Studie“ und weitere Reaktionen

1 Kommentare

  1. Ich teile die Kritik an Entstehung und dem Vertrieb dieser „Studie“.
    Das Medium NDR sticht dabei besonders heraus, weil es in seinem Archiv ein Interview hat, das einen Kontext bildet für jeden seriösen Diskurs über die Frage, die Wiesendanger aufwirft: wird aber nicht in Beziehung gesetzt, noch nicht einmal erwähnt.
    Dort sagte der dt. Star-Virologe und Über-Nobelpreisträger im Mai letzten Jahres scheinbar abschließend zur Frage einer Entstehung im Labor:
    „Es ist schwierig für einen aktiven Wissenschaftler in der Virologie zu sagen, dass ein Nobelpreisträger im Fach Virologie Unsinn verbreitet. Aber das ist kompletter Unsinn…
    Ja, diese Ähnlichkeiten sind nicht überzufällig. Es ist in der wissenschaftlichen Diskussion schon eigentlich klar, dass das nicht stimmt. Es hat sich ein Konsensus, eine Gesamtmeinung, anhand einer Vorpublikation zu diesem Thema gebildet, die dann zurückgezogen worden ist. Dieses Thema ist einfach erledigt. Das ist auch erledigt, wenn ein im Ruhestand befindlicher Nobelpreisträger in einer Talkshow darüber spricht. Es ist trotzdem immer noch erledigt“
    Wer heute der Meinung ist, wie offensichtlich der NDR, dass er „eine Theorie nicht vorschnell ausschließen“ will, muss gleichzeitig erkennen, dass Herr Drosten das damals besonders vorschnell getan hat. Und dazu hat er dem NDR noch nicht einmal eine Materialsammlung, die noch lange keine Studie ist, zur Verfügung gestellt, sondern mal wieder einfach nur einen „Konsensus“ postuliert und ihn mit „Gesamtmeinung“ noch gönnerhaft ins Deutsche übersetzt. Das war’s dann schon mit der ganzen Wissenschaft, die so ein „seriöseres“ Medium dem Konsumenten bietet. Damals wie heute, die These ebenso platt und diskursfrei wie die Antithese!
    Hier nochmals das Niggemeier’sche Zwischenfazit als Kontrast zum Journalismus des NDR:
    „Dabei ist die Frage nach dem Ursprung des Virus zweifelsohne brisant und offen“

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.