Digitaler CDU-Parteitag

Wie über eine Wahl berichten, die auf dem Sofa entschieden wird?

Florian Neuhann hat gerade erst ein weiteres Telefonat beendet und klingt ein wenig frustriert. Wieder eine Absage. Seine Liste mit CDU-Delegierten, die sich nicht dabei filmen lassen möchten, wie sie die Reden der drei Parteichefkandidaten verfolgen, wächst und wächst.

Er muss einen Beitrag produzieren – über einen CDU-Parteitag am Freitag und Samstag, den alle nur per Livestream verfolgen können. Deshalb klingelt der ZDF-Hauptstadtkorrespondent seit Tagen bei Delegierten aus jedem Lager an, um sie für sein Vorhaben zu gewinnen.

Statt wie sonst mit 1001 Delegierten und gut 400 Journalist:innen plus ungefähr ebensovielen Techniker:innen gemeinsam durch eine Halle zu wimmeln, und genau verfolgen zu können, wer wie frenetisch applaudiert oder buht, wie leer oder voll die Reihen bei welcher Rede sind, werden Neuhann, die Journalist:innen und Delegierten diesmal in ihren Büros oder zuhause vor Bildschirmen sitzen. Ausgerechnet diesmal fehlt die Stimmung, wenn eine so folgenreiche Entscheidung ansteht: die Wahl von Friedrich Merz, Norbert Röttgen oder Armin Laschet zum Parteichef.

Die Kandidaten um den Parteivorsitz der CDU, Merz, Röttgen und Laschet, in einer Diskussionsrunde
Die drei Kandidaten Merz, Röttgen und Laschet (v.l.) in einer Live-Diskussion der CDU Mitte Dezember. Screenshot: CDU

„Die Coronarichtlinien sind auch für die Berichterstattung eine Zumutung“, befindet Tina Hassel, Chefredakteurin des ARD-Hauptstadtstudios. Auch wenn es pandemiebedingt 2020 schon digitale Parteitage gab – in den USA als mehrtägige Shows von Demokraten und Republikanern, hier von CSU und Grünen – suchen Journalist:innen noch nach Wegen, um abzufedern, was wegfällt: Stimmung, Zugang, Transparenz.

Vier TV-Kameras und vier Fotografen vor Ort

Das Alternativprogramm: Die CDU überträgt einen Livestream für ihre Delegierten und die akkreditieren Medien direkt aus einem Studio auf dem Berliner Messegelände. Vor Ort sind nur die Kandidaten, die Moderatorin und eine gute Handvoll Gäste aus Parteipräsidium oder Ministerien. Die einzigen Augen und Ohren der Medien: vier Kameras von Phoenix, die ab Freitagabend übertragen und ein Mischbild kostenfrei für ARD, ZDF und die Privatkonkurrenz von RTL und Welt anbieten (alle anderen müssen laut Sender für die Nutzung des Signals zahlen), und vier Fotografen. Fertig.

Darüber hinaus bietet die CDU bis Freitagnachmittag halbstündige Videokonferenz-Runden, bei denen Pressekolleg:innen einzelne Delegierte befragen können. Zehn haben sich bereit erklärt: Etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer um 9 Uhr, NRW-Staatssekretärin für Integration Serap Güler um 12 Uhr und Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner um 15 Uhr. Mehr ist nicht drin. Auch CDU-Pressesprecher Hero Warrings sagt:

„Stimmung einfangen, das geht diesmal einfach nicht.“

Gerade für Fernsehteams eine schwierige Versuchsanordnung: „Wir müssen schließlich eine ganze Strecke bebildern“, erklärt Neuhann das Dilemma. PC-Bildschirme samt Parteitagsstream abfilmen, Außenaufnahmen von irgendwo – alles nur absolute Notlösungen. Deswegen stricken Neuhann wie auch Hassels Redaktion an Alternativen und klappern Delegierte ab. Aber: „Die Resonanz ist verhalten“, stellt auch Hassel fest.

Fünf-Minuten-Telefonate statt Geplauder am Rande

Die fehlenden Bilder sind nur ein Indikator für das, was die Berichterstattung grundsätzlich erschwert: Die Recherche vor Ort, die ein Gefühl für Allianzen, Revolten, Überraschungen und Gruppendymanik vermittelt, fällt flach. Und somit die Grundlage, um Entscheidungen präzise zu analysieren.

Der Faktor ist so elementar, dass alle Kollegen Beispiele runterrattern: „Schon der traditionelle Gottesdienst am Morgen des Parteitags ist sonst super, um erste Witterung aufzunehmen, wohin der Hase läuft“, sagt Robin Alexander, CDU-Fachmann der „Welt“. Ferdinand Otto von „Zeit Online“ verweist auf die Stimmung während des Parteitags in Leipzig 2019, als sich CSU-Chef Markus Söder über seine Rede zu einer neuen Machtfigur positionierte: „Alle merkten: Hoppla, da verschiebt sich gerade die Dynamik.“

Oder der Eindruck beim Parteitag 2018 in Hamburg nach den Reden von Friedrich Merz und Annegret Kramp-Karrenbauer, als eine Hälfte des Saals sitzenblieb: „Das alles aussagende Bild, wie bei vorigen Parteitagen, kriegen wir diesmal nicht“, sagt Neuhann. Der Recherchevorteil für Journalisten vor Ort sei sonst das ganze Drumherum, sagt Ferdinand Otto, die Abendveranstaltungen von Werteunion oder Landesverbänden beispielsweise: „Es gibt viele Buffettermine – und damit viele niedrigschwellige Momente, ins Gespräch zu kommen.“

Niedrigschwellig: Das sind die alternativen Recherchestrategien kaum. So klappern sie alle ihre Kontakte ab, verabreden sich für Fünf-Minuten-Telefonate vor und nach den wichtigen Reden, legen sich Listen an. Eigene Umfragen zu starten, scheitert am Aufwand: „In Mecklenburg-Vorpommern könnte man das noch machen“, sagt „Welt“-Redakteur Robin Alexander, es seien schließlich nur 14 Delegierte. In NRW dagegen, Stammland der drei Kandidaten, sind es knapp 300.

Ulrich Schulte, Leiter des „taz“-Parlamentsbüros, kennt den Aufwand. Er wird den Parteitag mit der Unions-Verantwortlichen der Redaktion Sabine am Orde verfolgen – und hat einen Wissensprung: vom digitalen Parteitag der Grünen. Aber: „Die Hürde, wegen jedes kleinen Gerüchts zum Hörer zu greifen, war mir manchmal zu hoch“, sagt er.

Keine virtuelle Stimmung bei der CDU

Die Grünen versuchten, Stimmung zumindest zu simulieren: Bei ihrem Stream konnte das Parteitagspublikum über einen Knopfdruck Herzen und Sonnenblumen verteilen. Der CSU-Parteitag spielte zum Auftakt Applaus aus der Dose ab. Bei der CDU-Version ist derlei nicht vorgesehen. Dass dieses Mal jegliche Rückmeldung fehlt, macht es für die Delegierten wie auch die Kandidaten schwierig: Zündet die Pointe? Was kommt als Höhepunkt an?

„Normalerweise sind alle Delegierten auf dem Parteitag direkt umgeben von ihrer Pressure Group“, sagt Robin Alexander. Also umgeben von Gleichgesinnten und damit auch umgeben von Gruppendruck. Nun hätten sich viele Parteileute sogar seit Monaten nicht gesehen, sagt Alexander: „Stattdessen sitzt nun vielleicht eine Ehefrau daneben, die mit Friedrich Merz nicht so viel anfangen kann.“ Auch Tina Hassel geht davon aus, dass „die Dynamik auf den heimischen Sofas“ mitentscheidet – und damit der Wahlausgang noch unklarer sei.

Die Abwesenheit von Publikum aller Art erlaubt es einer Partei zudem, die Inszenierung des Programms leichter zu kontrollieren. Den Effekt führten die beiden US-Nominierungsparteitage im Sommer vor: alles auf Show getrimmt. Beim Parteitag der Republikaner unterbrachen einige Sender den Stream der Partei-Inszenierung für regelmäßiges Factchecking.

Aus Reden werden TV-Auftritte

„Es ist ein neues Format auch für die, die auf dem Parteitag auftreten“, sagt Ulrich Schulte von der taz, der wie seine Kolleg:innen davon ausgeht, dass sich die Reden rhetorisch der livepublikumsfreien Situation anpassen. Es ist halt eher TV-Studio als Parteitagsbühne. „Robert Habeck schlenderte sogar wie Claus Kleber auf die Kamera zu“, sagt Schulte.

Kurz: Bei jenen Bildern, die es gibt, ist nichts zufällig. „taz“-Redakteurin Sabine am Orde benennt das Manko: „Es ist problematisch, wenn die Kamera nur Merz zeigt, aber nicht die Gesichter einzelner Präsidiumsmitglieder.“

Auch ZDF-Korrespondent Neuhann bemängelt, nicht mehr frei über Bilder bestimmen zu können. Die Tendenz nach mehr Kontrolle habe es zwar schon vor der Krise gegeben, „aber ich fürchte, dass das nun in der Politik weiter Schule macht“.

Die Inszenierung brechen

„Wir sind froh, dass wir über Phoenix journalistisches Bildmaterial haben“, kommentiert Tina Hassel die Gemengelage. In ihrer Redaktion gilt die klare Ansage, die Inszenierung zu brechen: „Wir werden sehr klar kennzeichnen, was CDU-Bilder sind und was nicht.“ Der CDU-Stream sei „im Prinzip Werbematerial“. Auch bei den Analysen hinterher werde man die Umstände der Berichterstattung benennen: „Wir werden immer klarmachen, dass wir in der Redaktion sitzen und teilweise sogar über SMS verschiedene Delegierte befragt haben.“

Florian Neuhann hat dann doch noch Delegierte gefunden, die sich während des Parteitags in ihrer Wahlkreisniederlassung oder im Abgeordnetenbüro vom ZDF filmen lassen wollen und über ihre Beweggründe und ihre Zweifel sprechen. Aber taz-Redakteurin Sabine am Orde vermutet, dass all das ab Samstagnachmittag sowieso schnell vergessen sei für die Berichterstattung: „Am Ende wird die Entscheidung selbst am wichtigsten sein – um zu erklären, welche Folgen sie hat.“

4 Kommentare

  1. Die CDU macht einen Gottesdienst vor ’nem Parteitag?
    Weil man ein C im Namen hat?
    Naja, hier auf’m Land gilt auch immer noch: Die besten Verträge werden Sonntag morgens geschlossen, wenn der Eierlikör nach der Messe anfängt zu wirken.

  2. Das mag für Journalisten ja alles sehr schwierig und unbefriedigend sein. Aber was sind die Auswirkungen für mich als Ingo Normalbürger? Weniger wilde Spekulationen im Vorfeld, weniger Umfragen und Stimmungsbilder, na und? Am Ende ist das Ergebnis der Wahl interessant, und Gründe für das Ergebnis wird man im Nachhinein noch recherchieren können. Zudem wird die Wahl weniger durch die Umfragen vorab beeinflusst, was doch erst mal schön demokratisch ist.
    Also nochmal: Wo ist genau das Problem? Oder anders gefragt: wer hätte andernfalls von dem Horserace-Journalismus eigentlich wirklich profitiert, außer dass es jetzt einen weniger dramatischen Spannungsbogen gibt?

  3. Wird der parteitagsdelegierte also diesmal mit seinem gewissen den druck der e h e f r a u abfedern müssen und nicht den der pressuregroup des flügels der partei, dem er angehört?
    Glaube ich nicht. Die ehefrau hat er vielleicht live im wohnzimmer, die flügelpressuregroup aber per anruf, mails, sms, whatsapp. Also so, wie es seit fast einem jahr überall läuft. Nur eines hat er nicht zu hoffen oder zu fürchten: den überraschungseffekt per rede. Wie damals in den 90ern, als lafontaine mit einem rhetorischen überfall den drögen scharping ausmanövrierte. ‚Titanic‘ nannte ihn damals ‚ziege‘ und als oskar fertig hatte, sagte er kaum noch mäh. Also kein parteiinterner populismus qua stimmungsmache. Dass das diesmal ausfallen musste?
    Gibt schlimmeres.
    Bei live wärs der merz vielleicht doch geworden.
    Laschet ist als merkel zwei null nicht gerade der virtuose auf der parteiseele.
    Haben die journalisten die stimmung in der halle nicht, aus der sie dann wildes herausspekulieren müssen? Können sie auch zb nicht alle 300 nrw-delegierte abtelefonieren, um wenigstens irgendetwas zu vermuten? Müssen sie einfach das ergebnis abwarten und dann berichten?
    Gibt schlimmeres.
    Oder hat da jemand die letzten tage etwas substantielles vermisst? Die dünne heisse luft vielleicht, die 99 % solcher journalismussimulation ausmacht?
    Eben.

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