Wochenschau (92)

Die Filter Culture von RTL

In der vergangenen Woche haben die Worte eines mächtigen Mannes zunächst für großen Aufruhr gesorgt, die Gemüter der Massen bewegt und schließlich dazu geführt, dass dem Aufwiegler seine Bühne entzogen wurde. Natürlich wissen Sie, um wen es geht: Michael Wendler.

Nachdem er auf seinem Telegram-Kanal Deutschland aufgrund der aktuellen Corona-Maßnahmen als KZ bezeichnet hatte, war das für RTL dann doch eine Schraube zu locker. Hatte der Privatsender zum Start von „Deutschland sucht den Superstar“ noch angekündigt, dass der Verschwörungserzähler und Trump-Fan in 13 bereits abgedrehten Casting-Folgen zu sehen sein würde, so entschied man sich nach seiner jüngsten Geschichtsrelativierung für einen einschneidenden Schritt und cancelte ihn am Samstag kurzfristig aus der im September aufgezeichneten Sendung; mit der vorausgeschickten Bitte, „Bild-, Tonfehler und dramaturgische Lücken zu entschuldigen“.

Da half es dem Wendler auch nichts, dass er seine Relativierung relativieren wollte und via Insta-Story verkündete, dass er „niemals die menschenverachtende neue Corona-Regelung der Sektorengrenzenplanung mit Konzentrationslager beschrieben habe, sondern mit ‚KZ‘, eine Abkürzung für ‚Krisen-Zentrum'“.

Die erste, bereits gesendete Folge der neuen Staffel, in welcher der Wendler noch zu sehen war, wird nach der erstmaligen Ausstrahlung am 5. Januar nicht mehr wiederholt und taucht auch nicht in der RTL-Mediathek auf. Der zweiten Folge war nun ein Disclaimer vorangestellt, um die ZuschauerInnen über die Entscheidung und das Vorgehen von RTL zu informieren.

Immer noch da, aber unsichtbar

Aufgrund der Kurzfristigkeit und der Dramaturgie war es offenbar nicht möglich, den Wendler gänzlich „herauszuschneiden“, wie in diesem Hinweis zu lesen ist. Vielmehr hat RTL an zahlreichen Stellen ästhetische Eingriffe vorgenommen, die tatsächlich bemerkenswerte Bilder hervorbringen.

In einigen Einstellungen, vor allem in Totalen, in denen man ihn nicht so leicht hinterm Jurypult neben Maite Kelly, Mike Singer und Dieter Bohlen entfernen konnte, und um die Continuity nicht komplett zu zerstören, ist ein großzügig weichgezeichneter Fleck zu sehen, wie man ihn gelegentlich sieht, wenn Informanten anonym bleiben möchten oder das Recht am eigenen Bild das Zeigen von Personen verbietet.

Das Pult der Jury von "Deutschland sucht den SuperStar" mit einem einsamen Michael Wendler, der nicht zu sehen ist
Hallo! Ist da jemand? Während alle anderen Juror*innen tanzen sind, bleibt Michael Wendler allein am Tisch zurück, nur um dann nachträglich da auch noch weggefiltert zu werden.Screenshot: TVNow/RTL

In wenigen Einstellungen wurde mit einem schwarzen Balken gearbeitet, der das Bild links beschneidet, aber über den Großteil der Folge sitzt da nun eine personifizierte Filterblase als Teil der Jury, die zwar die Auftritte der KandidatInnen nicht kommentiert und auch nicht mit den anderen Jurymitgliedern interagiert, die jedoch zumindest Stimmrecht besitzt. Das wird dadurch visualisiert, dass nach den Darbietungen anstelle des unscharfen Dings wendlergroße Sprechblasen mit einem „JA“ oder „NEIN“ eingeblendet werden.

RTL hat somit aus der Not in der Postproduktion mit diesem Filter ein eigenartiges Wesen visualisierter Annullierung erschaffen. Der Wendler wurde nicht einfach entfernt, sondern seine teilnehmende Abwesenheit existiert nun in einem demonstrativen Dazwischen. „Immer noch da, aber unsichtbar“, um es mit einem Song von Chansonnier Sebastian Krämer zu sagen oder wie der Autor Peter Wittkamp schrieb:

Dieser weichgezeichnete Wendler erinnert etwas an eine Rolle von Robin Williams in der Komödie „Harry außer sich“ von Woody Allen (ja, auch bei dem war mal was los), der plötzlich unscharf wird, „out of focus“, und der deshalb nicht mehr vor der Kamera arbeiten kann.

Die Ausradierung des Wendlers wirkt in ihrer handwerklichen Plumpheit „demonstrativ lieblos und sagenhaft trashig“ und gerade deshalb „durchaus stimmig“, wie Anja Rützel in ihrem Spiegel-Artikel schreibt.

RTL macht sich anscheinend an einer Stelle auch selbst über die eigene Anonymisierung lustig, nämlich in einer kurzen Rückblende, wenn Kandidat Lucas, der es bereits vor acht Jahren in den Recall geschafft hatte, an einem Strand vor dem Jurytisch zu sehen ist, an dem ebenfalls verschwommene Jurymitglieder sitzen (vermutlich Bill und Tom Kaulitz), so als wäre die Teilnahme von Phantomjuroren in jeder Staffel ganz normal gewesen.

Ein Song vom Wendler? Nicht egal.

Und dann gibt es da noch ein besonderes Intermezzo, das eher wie ein Auszug aus einer „Black Mirror“-Folge wirkt: der Auftritt eines kindererziehenden Schiedsrichters und Ballermann-Hit-Liebhabers aus dem Ruhrgebiet, der sich für einen Wendler-Song entschieden hat, dessen Titel zunächst ausgepiept wird, um dann völlig zu verstummen. Stattdessen ist atmosphärische DSDS-Musik zu hören, die normalerweise zum Spannungsaufbau eingesetzt wird und die den Bildern eine etwas bedrohliche Stimmung verleiht, vor allem weil im Kontrast zum Sound im Sonnenschein erwartungsvolle bis freudige Gesichter zu sehen sind und Dieter Bohlen seine Hände in die Höhe schmeißt. Dazu wird in einer Bauchbinde der Grund für diese Inszenierung erklärt:

„Der Kandidat Christian hat sich für seinen Auftritt einen Song des Jurors ausgesucht, den wir aufgrund seiner unsäglichen Äußerungen aus der Sendung geschnitten haben. Deshalb werden wir auch die Musik dieses Jurors nicht mehr spielen.“

Sicherlich ist es nicht unbedingt fair, dass man hier im Wendler-Canceln auch gleich noch einen durchaus sympathisch wirkenden Kandidaten ausblendet. Da dieser nach der pantomimischen Aufführung viermal Nein bekommt, vermisst man seinen Gesang nicht großartig – umso mehr wird jedoch deutlich, dass es hier auch darum geht, dem Wendler seine postproduktionelle Ausladung nochmals in aller Deutlichkeit vorzuführen; schließlich hätte man die weniger unterhaltsame Show eines Kandidaten, der sowieso nicht weiterkommt, auch komplett herausschneiden können. Aber durch diese Episode wird klar: Hier wurde der Wendler von RTL endgültig verabschiedet und auch seine Musik unehrenhaft zu Grabe getragen.

„DSDS“ bleibt „DSDS“, umso mehr erstaunt das bisschen Integrität

Normalerweise hat man sich ja im Falle von „DSDS“ daran gewöhnt, dass das Filtern zum TV-Musikbusiness dazugehört – zum einen bei den Bildern, auf denen Dieter Bohlens Gesicht geradezu jenkemäßig mit digitalen Tools bearbeitet wurde, zum anderen bei den Stimmen: Wer die Sendung schon länger verfolgt, kann bei vielen KandidatInnen schon vor der Jury-Bewertung allein aufgrund des Einsatzes von Auto-Tune, also durch die automatische Korrektur von Tonhöhen in der Postproduktion, heraushören, wer weiterkommt und wer nicht.

Durch das Filtern trennt „DSDS“ zwischen den Vermarktbaren und den Unvermarktbaren. Umso mehr fallen die ungefilterten SängerInnen aus der Reihe, die nur noch eine Chance haben, wenn sie besonders schlecht singen können, so schlecht, dass sie schon wieder unterhaltsam sind. Wie beispielsweise der letzte Kandidat dieser Folge, der sich über sein Weiterkommen gar nicht richtig freuen kann, weil er als Einziger ehrlich zu sich ist und erkannt hat, dass das eine schlimme Darbietung war.

Das erinnert einen auch daran, dass sich das Format insgesamt kaum weiterentwickelt zu haben scheint. Die Vorführung und Stigmatisierung oft unbedarfter, einkommensschwacher oder anders angreifbarer Menschen zu Unterhaltungszwecken ist immer noch die gefällige Erzählung, wenn es nicht um das Finden von vermarktbaren Talenten geht. Die Sendung bietet nach wie vor günstig mitzunehmende Abwärtsvergleiche auf Kosten weicher Ziele an.

Umso avantgardistischer sticht vor diesem Hintergrund also die ästhetische Performance von ein wenig Integrität hervor: Wer hätte gedacht, dass nach all den Jahren der Debatten um Fake News und Cancel Culture die Selbstcancelung eines Verschwörungsliebhabers zu solchen televisionär ästhetischen Blüten führen würde?

Die Alternative zum vollständigen Löschen

Während man lange darüber diskutierte, ob man Filme von Kevin Spacey & Co. noch schauen darf oder den Künstler vom Werk trennen muss, zeigt RTL, dass man den Künstler auch zu einer neuartigen Erscheinung umformen kann, die ein Eigenleben entfalten und unscharf durch ein Format geistern darf.

Es erscheint wie eine Alternative zum vollständigen Löschen einer digitalen Identität. Durch das Weichzeichnen und Stummschalten hat RTL das Fernsehen auch ein bisschen zu Twitter gemacht, den Wendler allerdings nicht geblockt, sondern auf bemerkenswerte Weise gemutet: Dass der Holocaust-verharmlosende Schlagersänger zurückruderte und behauptete, er meinte mit den Buchstaben KZ etwas gänzlich anderes, ist typisch für die Art von Verschwörungserzählern, die mit ihrer Rhetorik bewusst im Ungefähren und Unscharfen kommunizieren.

Daher hat es fast eine ironische Poetik, dass er nun ebenso unscharf gemacht wird – und genau durch diese Unscharfmachung eine Botschaft gestochen scharf vermittelt wird: Dieser unkenntliche Fleck ist über die gesamte Sendung hinweg die Veranschaulichung einer roten Linie, deren Überschreitung der Sender nicht gestattet.

Bei all der Artifizialität und Autotune, fällt es in seiner bestürzten Aufrichtigkeit umso mehr auf. Die Unkenntlichmachung wird damit zum Anti-Deepfake. Während der Deepfake auf hyperrealistische und möglichst naturalistische Weise versucht, visuell und akustisch mithilfe eines Gesichts eine Lüge in die Welt zu setzen, ist der Unscharf-Filter der ästhetische Versuch, sich einer Unwahrheit sichtbar entgegenzustellen ohne ihr eine Bühne zu geben.

24 Kommentare

  1. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das richtig oder oder falsch finde:

    Auf jeden Fall richtig. Alles abweichende entweder vernichten oder raus aus der Menschheit per damnatio memoriae.

    Manch einer könnte einwenden, es wird doch langweilig so ganz ohne Buhmann, zumal gerade der Wendler, fleißig, fleißig, sich das passende Image geschaffen hat. Aber ist das wirklich so?
    Ich denke nein.
    Zum einen wachsen die Buhmänner_I*:nnen (m/w/d) nach. Sollte es wieder mal Bedarf geben, wird schon der nächste bereitstehen. Jede Wette.
    Und zweitens müssen die gar nicht personifiziert sein. Man denke nur an unsere hochgeschätzten „die Rechten“.
    Eigentlich funktioniert es umso besser, je unklarer die Unpersonen. Zwar tut sich mit der Entfernung des Wendler eine Lücke auf. Doch die wird mit QAnon mehr als geschlossen.

  2. Dieser weichgezeichnete Wendler erinnert etwas an eine Rolle von Robin Williams in der Komödie „Harry außer sich“ von Woody Allen (ja, auch bei dem war mal was los), der plötzlich unscharf wird, „out of focus“, und der deshalb nicht mehr vor der Kamera arbeiten kann.

    Toller Film! „Harry, Du bist unscharf!“ ist in meinem Freundeskreis immer noch eine stehende Wendung – hier ist die Synchronisation dem Original („You’re soft“) mal um Längen überlegen.

    @ Jörn:

    Der Wendler hat sich selbst entfernt, als er sich dem Xavier und dem Attila angeschlossen hat. Von QAnon sind alle drei nicht weit entfernt.

  3. Wenn die unpersonen wenigstens konsequent gewählt würden. Jahrzehntelang wurden die filme von polanski überall gezeigt und bei nachfrage gemurmelt, das opfer habe ihm ja verziehen, die familie sei im holocaust umgekommen und ausserdem möge man an sharon tate denken. Weil man die filme halt schauen wollte und da war jede ausrede recht. Jetzt haben sie ihn dann aus der academy geschmissen, 4o jahre danach.
    Man hätte denken mögen, nach der ausstrahlung von ‚out of neverland‘ sei es mit der musik von michael jackson im radio vorbei. Hier nimmt man sich dann die ausrede, der sei halt tot, könne sich nicht mehr wehren und sei ja zu lebzeiten zweimal freigesprochen worden. Das gute alte narrativ, wonach man den opfern immer zu glauben habe, ausser kraft gesetzt. weil man die musik halt hören will. Und waren ja nur jungs, keine mädchen.
    Spacey ist, soweit ich weiss, bis jetzt weder angeklagt noch verurteilt worden. Wird er eventuell auch nicht, weil auch bei ihm die vorwürfe wie immer erst lange nach den ereignissen publik werden. Die strafe ist aber schon vollzogen. Er hat einiges zugegeben. Aber er ist alt, mann, weiss, er lebt noch. Keine chance.
    Was aus den vielen vorwürfen gegen dieter wedel wurde, es interessiert keinen mehr. Da man hierzulande auf dem höhepunkt des metoo-kreuzzuges unbedingt auch deutsche fälle brauchte und ausser einem klassischen musiker und einem örr-redakteur, die niemand kennt, keine prominenten finden wollte, was erstaunlich ist im rahmen einer systematischen rape culture wie sie auch dieses land angeblich haben soll, gab man sich mit uraltfällen aus den 80ern von wedel zufrieden, die er leugnete und die verjährt sind. Also schweigt man davon nun.
    Weinstein und andere wirkliche täter sind im knast und die cancelculture hat jetzt andere schwerpunkte, metoo war zumindestens in deutschland einfach zu unergiebig. Nun muss es der krampf gegen rechts sein. Der wendler ist sicher kein tiefer denker. Aber irgendein exempel muss ja mal statuiert werden. Und den kennen zumindestens trashgucker. Und dann bestraft man jetzt den und erzieht die. An den nuhr kommt man halt nicht so richtig ran, obwohl er witze über greta gemacht hat.
    Fazit: hört auf, musik von michael jackson zu senden und filme von polanski auszustrahlen. Und erkennt endlich den unterschied zwischen jacksons jahrelangen ungeheuerlichkeiten mit dreizehnjährigen und spaceys suffrüpeleien. Dann könnte man euch wieder ernst nehmen.
    Ps. caravaggio war ein mörder, louis ferdinand celine antisemit, brecht stalinist , heidegger und benn eine weile nazis. Erwachsene wissen das und beschäftigen sich dennoch mit ihnen, wenn ihnen das werk etwas sagt und denken dabei ihre taten und ideologie mit. Aber erwachsen ist ja die öffentlichkeit schon lange nicht mehr.

  4. @ gianno chiaro
    „Wenn die unpersonen wenigstens konsequent gewählt würden.“
    Ihre ganzen Beispiele für diese angebliche Inkonsequenz unterscheiden sich in einem ganz konkreten Fall von Herrn Wendler: die Verfehlung ist öffentlich (nicht im Sinne von „bekannt geworden“ sondern von „an die Öffentlichkeit gerichtet“). Die Verfehlung selbst bedient sich der Medien. Ihre ganzen Beispiele als Beweis für eine Inkonsequenz fallen in sich zusammen, wenn man einfach mal den Unterschied zur Kenntnis nimmt, dass Herr Wendler andere von dem, was man ihm vorwirft, überzeugen will und dafür Medien benutzt. Herr Wendler benutzt seine… ich sage mal Bekanntheit, um mithilfe von zurecht geächteten Vergleichen gegen staatliche und gesellschaftliche Institutionen zu hetzen. Und wenn ein Medium dabei nicht mitmachen möchte, indem es weiterhin die Bekanntheit dieser Person fördert, ist das etwas völlig Anderes, als wenn man weiterhin einen Film oder ein Musikstück abspielt (unabhängig avon, ob ich das richtig oder falsch finde…). Keiner der Personen aus Ihren Beispielen hat öffentlich für seine Taten geworben und versucht, andere davon zu überzeugen. Aber schön, dass Sie es wieder geschafft haben, alle Ihre Trigger in dieser linksgrünversifften Gesellschaft unter einen Übermedien-Artikel auskotzen zu können. Ich stelle Sie mir als einen glücklichen Menschen vor.

  5. Kreative Lösung, aber auch irgendwie unheimlich. Erinnert mich an die Neudrucke der historischen Zeitungen bei 1984.

  6. @Gianno / #4: Auch wenn man mal frei von der Leber weg und ohne Großbuchstaben all seine Abneigungen in eine Kommentarspalte erbricht, sollte man vielleicht trotzdem auf ein bisschen logische Konsistenz achten. Zu suggerieren, Jackson werde nicht „gecancelt“, weil es bei ihm „ja nur jungs, keine mädchen“ waren, und dann bruchlos mit Spacey weitermachen – hm.

    Die angebliche Inkonsequenz im „Canceln“ kann man eigentlich nur beklagen, wenn man sich die fiesen linksgrünversifften Cancel-Culturer als monolithischen medienbeherrschenden Block vorstellt. Dann sollte man aber dringend mal seine geistige Gesundheit überprüfen. Tatsächlich gibt’s halt einfach Leute, die es ok oder eben nicht ok finden, Musik von diesem und Filme von jenem Arschlochkünstler zu spielen, und in jedem Fall gibt es dafür und dagegen Argumente, und manchmal setzen sich diese Leute und Argumente durch und manchmal jene. Von diesem banalen Befund gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse kann man sich dann mit den eigentlichen Argumenten und den gesellschaftlichen Machtstrukturen solcher Aushandlungsprozesse beschäftigen, aber das ist halt ein bisschen komplizierter als „Känzelkaltscha“ zu schreien.

    Abgesehen von dem, was Wildtyp in #6 zu recht betont (und was der entscheidende Punkt hier ist), kann man auch mal feststellen: Jackson, Polanski und Spacey, ja selbst Weinstein und Wedel mögen alle auf ihre Weise und in unterschiedlichem Maße Mistkerle (gewesen) sein, aber sie haben Kunst geschaffen (oder zumindest produziert), an die Knallchargen wie Wendler und Naidoo auch in Äonen nicht rangekommen wären. Und ja, ich finde, das spielt durchaus eine Rolle. Der kulturelle Verlust beim „Canceln“ der Werke jener wäre erheblich, bei diesen hingegen überschaubar.

    Insgesamt wünsche ich mir, dass alle mal von den absurden Extrempositionen wegkommen, entweder Werk und Künstler völlig unabhängig voneinander zu betrachten oder umstandslos beides in eins setzen zu wollen. Und dann von hohlen Kampfbegriffen wie „Cancel Culture“ (oder, auf der anderen Seite, „Täterschützer“) wegkommen, Meinungs- und Kunstfreiheit weder absolut setzen noch verachten, und dann argumentativ und vernünftig (letzteres schließt Reflexion von Machtverhältnissen ein) verhandeln, was wann wo in welchen Kontexten und welcher Weise stattfinden sollte und was nicht. Erster Schritt wäre anzuerkennen, dass solche Aushandlungsprozesse tatsächlich notwendig und sinnvoll sind, und dass es praktisch immer berechtigte Argumente für und wider gibt. Das wäre mal ein erwachsener Umgang!

  7. Der optimale Kompromiss zwischen „sich vom Wendler distanzieren“ und „mit dem Wendlerskandal noch Einschaltquoten generieren“.

    Der Vergleich mit angeblichen oder tatsächlichen Verbrechern ist tatsächlich krude, ich halte RTLs Verhalten aber trotzdem mehr für kaufmännisch als politisch.

  8. @8: Gut, dass Sie’s ansprechen: Die Schöpfungshöhe von Werken scheint eine Rolle zu spielen bei der Wahrnehmung von Straftaten des Künstlers, so generell.
    Lapidar, so ’nen Wendler kann man leicht abschießen, war ja eh nur Projektionsfläche. Bei ’nem Günter Grass wird das schon schwieriger, vor allem posthum. Der war halt literarisch ernst zu nehmen, was die Einordnung seiner SS-Vergangenheit schwer macht.

    „alle mal von den absurden Extrempositionen wegkommen“
    Hach ja, man wird wohl noch träumen dürfen ;)

  9. @Jörn: Sie beschreiben es ja (unfreiwillig?) ganz richtig: Rechte Spinner wachsen nach und das Problem des rechten Gedankenguts, das sich via Verschwörungserzählungen verbreitet, besteht weiter, auch wenn ein Wendler eine Plattform weniger hat, seinem Wahn Reichweite zu verschaffen. Aber daraus zu folgern, man müsse ihn und Nachfolgende weiter gewähren lassen, ist Unsinn. Nach der Logik bräuchte es nicht mal mehr Bußgelder fürs Rasen, denn irgendwer wird ja morgen trotzdem Rasen, auch wenn jemand anderes heute geblitzt wurde.

  10. „in jedem Fall gibt es dafür und dagegen Argumente, und manchmal setzen sich diese Leute und Argumente durch und manchmal jene“
    Das ist ja eigentlich nicht gut.
    Bzw., dann wird die Bestrafung eines Menschen abhängig vom Hin und Her des gesellschaftlichen Diskurses und von seinem künstlerischen Talent, was beides keine fairen Kriterien sind.

    Wobei ich vermute, dass das noch andere Kriterien hat, die vllt. etwas fairer sind. Spacey bspw. wurde aus einer _laufenden_ Serie gekickt. Sicher keine leichtfertige Entscheidung, aber auch für den Fall, dass er von allen Vorwürfen freigesprochen würde, dauern solche Prozesse Monate und Jahre, und man kann weder so lange mit der letzten Staffel House of Cards warten, noch einfach mit ihm weiterarbeiten, um kurz vor Abschluss der Dreharbeiten festzustellen, dass die Vorwürfe doch stimmen und niemand mehr Spacey sehen will.

  11. @Anderer Max / #10: So meinte ich das eigentlich nicht. Bei der Bewertung der Taten (oder politischen Statements) von Künstlern sollte der Wert ihrer Kunst natürlich keine Rolle spielen. (Dass er das oftmals doch tut, und sei es unbewusst, ist bedauerlich.) Polanski ist halt ein Vergewaltiger, egal wie großartig seine Filme sind. Aber bei der Diskussion über die Werke dieser Künstler, bzw. wann wie wo man sie zeigen oder spielen sollte (oder eben nicht), sollte die Schöpfungshöhe dann schon berücksichtigt werden, denke ich.

    @Mycroft / #12: Life isn’t fair. Wenn Sie bessere und fairere Verfahren wissen, nur zu…
    Was jedenfalls nicht funktionieren wird: Solche Aushandlungsprozesse mit Verweis auf irgendwelche liberalen oder „woken“ Prinzipien ad acta legen zu wollen. (Und ob „Bestrafung“ in dem Zusammenhang ein sinnvoller Begriff ist, möchte ich auch bezweifeln.)

    Bei Kevin Spacey haben Sie sicherlich recht – inwieweit das nun fairer sein soll als anderes, weiß ich aber nicht.

  12. @13: Ne, ich wollte das auch nur mal wertfrei feststellen. Ich habe die Schere im Kopf ja auch, was z. B. ’nen Spacey angeht. Ich weiß auch nicht wo bei mir da die Grenze verläuft. Spacey ist Schauspieler und sichtbar, was aber mit Weinstein z. B.? Der ist zwar nicht so sichtbar aber hat halt ’ne Menge Filme produziert. Sind die jetzt alle nicht mehr schaubar? Der hat z. B. alle Tarantino Filme exekutiv produziert. Puh. Andererseits ist ein Produzent vllt. nicht gerade Künstler. Aber trotzdem in der Kunst schaffenden Branche und seine Opfer waren KünstlerInnen. Schwierig und sicher nicht mit einem Satz klärbar.

  13. „Life isn’t fair. Wenn Sie bessere und fairere Verfahren wissen, nur zu…“ Dieses Rechtstaat, oder wie dat Ding jetz nun heißt – weiß man da schon mehr drüber?

    „Was jedenfalls nicht funktionieren wird: Solche Aushandlungsprozesse mit Verweis auf irgendwelche liberalen oder „woken“ Prinzipien ad acta legen zu wollen. “ Verhandeln trifft evt. auf Wendler und dessen Geschäftspartner zu: „Du brauchst keine Kazett-Sprüche, um Deine Meinung zu sagen, und die schaden Deine Beliebtheit und damit unserem Umsatz.“ – „Doch, ich muss unbedingt die Buchstaben Ka und Zett aussprechen, das ist ein freies Land.“ – „Und _wir_ haben das Recht, unsere Sendung so zu bearbeiten, wie uns das passt.“ *Weichzeichnermodus aktiviert*
    Bei Straftaten gibt’s eine Gerichtsverhandlung, keine Gerichtsaushandlung.

    „Und ob „Bestrafung“ in dem Zusammenhang ein sinnvoller Begriff ist, möchte ich auch bezweifeln.“ Angenommen, jemand wird angeklagt, freigesprochen, andere Leute sind mit dem Freispruch nicht einverstanden und starten eine Boykottaktion gegen das Geschäft des Freigesprochenen, um ihn finanziell zu schaden oder zu ruinieren. Ich würde das schon als „Bestrafung“ bezeichnen, und ich denke, der Vorgang trifft jedenfalls auf Jackson zu. Wenn es Ihnen lieber ist, sage ich aber gerne „Selbstjustiz“.

    „inwieweit das nun fairer sein soll als anderes, weiß ich aber nicht.“ Fairer als gar nicht fair auf jeden Fall. Mein Punkt ist, dass in dem Fall, dass Spacey freigesprochen wird, dieser die Möglichkeit haben soll, in seinem Beruf weiter arbeiten zu dürfen, dass es aber für die Produktionsfirma unzumutbar ist, einfach weiterzumachen, wenn der Hauptdarsteller derzeit verhaftet wird oder werden könnte. Halt ein Kompromiss zwischen verschiedenen Interessen.

  14. @Mycroft:
    „Dieses Rechtstaat, oder wie dat Ding jetz nun heißt“
    Ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Schon mal über die aus guten Gründen getrennten Sphären von Politik bzw. Gesellschaft auf der einen und Recht auf der anderen Seite nachgedacht? Beim Recht geht es um erlaubt oder verboten, gesellschaftlich darum, was man machen sollte und was nicht. Ob ein Kino Filme von Polanski zeigt, ein Radiosender Musik von Michael Jackson spielt oder RTL den Wendler filtert, wird nicht vor Gericht entschieden, das war schon immer so und wird hoffentlich auch so bleiben.

    Bei solcherart kategorialer Verwirrung ist es denn auch kein Wunder, dass Sie mit Dingen wie „Bestrafung“ oder gar „Selbstjustiz“ ankommen. Das Wort „Zensur“ fehlt aber noch, dass muss bei diesem Bullshit-Bingo zwingend dabei sein!

    Der Wendler wurde übrigens noch nicht mal angeklagt, geschweige denn verurteilt – weil er halt, bislang und soweit ich sehe, nichts gesetzwidriges getan hat. (Nicht mal seine „Musik“ wurde als Körperverletzung verfolgt, eine schwere Gesetzeslücke.) War es also ganz schlimme Selbstjustiz von RTL, ihn rauszufiltern? Man kann so argumentieren, aber vor der „Strafe“, nicht mehr ernst genommen zu werden, wird einen dann kein Gericht dieser Welt bewahren.

  15. Ja, diese doppelstandards, da muss man jede windung und wendung benutzen, um da wieder rauszukommen. Muss ich hier nicht nachzeichnen, meine vorredner waren so nett , das für mich und sich dabei vorzuführen.
    Lustig ist aber die dreistigkeit der behauptung von #6, nur der wendler habe medien benutzt für die begehung seiner taten. Also heideggers rekoratsrede oder benns brief an die emigranten, die wurden medial zum zeitpunkt ihrer begehung schon ganz gut medial verbreitet.
    Um den jackson drücken sich eigentlich alle hier. Den hören halt auch alle. Wenn man aber seine öffentliche verklärung der unschuldigen sicht von kindern und jugendlichen auf die welt, earthsong zb, gegen seinen missbrauch von jungen eben dieser altersgruppe stellt, dann sollte einen das erbrechen schon kommen. Heuchelei in der musik, die jackson sich selber sicher auch noch glaubte, gegen die realität in neverland. Jackson benutzte medien viel schlimmer als der wendler: zu seiner verklärung und reinwaschung. Und darf es bis heute. Die mielkenummer: ich liebe doch alle menschen. Fragt sich nur wie.

  16. „Ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Schon mal über die aus guten Gründen getrennten Sphären von Politik bzw. Gesellschaft auf der einen und Recht auf der anderen Seite nachgedacht?“ Ja, schon öfter. Recht soll u.a. das Individuum vor der Gesellschaft schützen.

    „Beim Recht geht es um erlaubt oder verboten, gesellschaftlich darum, was man machen sollte und was nicht.“ Ja und nein. Ich bin ein freier Mensch, wenn ich Jackson hören will, darf ich das tun, ohne mich vor Gericht, vor der Gesellschaft oder vor sonstwem rechtfertigen zu müssen. Wenn ich das nicht will, darf ich das lassen, gleichfalls, ohne mich rechtfertigen zu müssen. Die Diskussion „darf ‚man‘ Jackson noch hören?“ geht aber genau darum, ob, und wenn, _wer_ sich gefälligst rechtfertigen soll. (Und, ob man das Ergebnis der Diskussion in Gesetze gießen soll, denn welchen Sinn hätte eine Diskussion, wenn hinterher doch alle machen, was sie wollen, woll?)

    „Ob ein Kino Filme von Polanski zeigt, ein Radiosender Musik von Michael Jackson spielt oder RTL den Wendler filtert…“ sollte das jeweilige Kino, der jeweilige Radiosender oder halt RTL entscheiden, nicht „die“ Gesellschaft. Ist also was anderes als die pseudo-unschuldige Frage: „Darf man noch…?“, wenn eigentlich gemeint ist: „Wir wollen nicht, dass…“ Wer einfach Jackson, Polanski und/oder Wendler nicht mag (auch aus Gründen, die mit dem Werk der Künstler gar nichts zu tun haben), könnte auf diesen Konsum einfach verzichten, weshalb ich die ganzen Beteuerungen, man wolle nichts verbieten und niemanden bestrafen, ganz einfach nicht glaube.

    „Das Wort „Zensur“ fehlt aber noch, dass muss bei diesem Bullshit-Bingo zwingend dabei sein!“ Zensur geht doch immer nur vom Staate aus. Haben Sie nicht aufgepasst?

    „Der Wendler wurde übrigens noch nicht mal angeklagt, geschweige denn verurteilt“ RTL behauptet ja nicht, dass der Wendler etwas illegales getan hätte und der eigentliche Sachverhalt ist nicht strittig. Wendler saß wegen seiner „Beliebtheit“ bei DSDS, dann zerstört er diese „Beliebtheit“ eigenmächtig, so dass die Vertragsgrundlage nicht mehr besteht, und RTL kann sich aus dem Vertrag verabschieden (soweit das noch geht).
    Ist etwas anderes als: jemand wird angeklagt, freigesprochen und andere rufen zum Boykott auf.

    „War es also ganz schlimme Selbstjustiz von RTL, ihn rauszufiltern?“ Ich sprach von Jackson. Zumal Wendler sein Geld wohl schon bekommen hat.

  17. @ gianno chiaro, #17
    „heideggers rekoratsrede oder benns brief an die emigranten, die wurden medial zum zeitpunkt ihrer begehung schon ganz gut medial verbreitet“
    Genau. Zum Zeitpunkt ihrer Begehung. Merken Sie noch irgendwas? Sie wollen wirklich, dass heutige Medien im Jahr 2021 jemanden für krude Nazivergleiche ein Forum geben müssen, weil die Medien das mit Heidegger und Benn ja schließlich auch gemacht haben? Zur Nazizeit!? Was ist denn das für ein hanebüchener Unsinn? Herrjeh, ich hab‘ Ihre Vergleiche im P.S.-Abschnitt überhaupt nicht gemeint, weil es so völlig abstrus ist, das Verhalten heutiger Medien mit dem Verhalten der damaligen Medien zu vergleichen. Ich hab‘ die einfach ignoriert. Wohlwollend ignoriert, wohlgemerkt. Und bei den kontemporären Vergleichen halte ich, in meiner großen Dreistigkeit, an der Aussage fest, dass es einen grundlegenden Unterschied gibt. Hätten Polanski, Jackson und Spacey ihre Öffentlichkeit dafür genutzt, zu sagen, dass es absolut richtig ist, eine Machtgefälle-Situation für sexuellen Missbrauch auszunutzen, oder sogar andere davon überzeugen zu wollen, es Ihnen gleich zu tun, dann hätte man auch Ihnen die Öffentlichkeit dafür verwehrt. Das ist der Vergleich, den man zu Herrn Wendler ziehen müsste. Die Filme und die Musik haben aber nicht ausgesagt, dass es absolut richtig ist, eine Machtgefälle-Situation für sexuellen Missbrauch auszunutzen. Aber Herr Wendler nutzt die Öffentlichkeit, um zu sagen, dass es absolut richtig ist, Verordnungen, Gesetze und Institutionen zu missachten und versucht damit andere davon zu überzeugen, es ihm gleich zu tun.

  18. @Mycroft: Ach so, jetzt soll doch nicht mehr der Rechtsstaat darüber urteilen, sondern das soll eine rein private Entscheidung natürlicher oder juristischer Personen sein. Was Sie bei sich zu Hause hören oder gucken, entscheiden natürlich Sie. Und was ein Kino zeigt oder ein Radiosender spielt, entscheidet das Kino oder Radiosender, klar, ganz einfach. Und was der CD-Laden und die Buchhandlung verkauft, entscheiden deren Inhaber. Und was bei Netflix und Spotify angeboten wird, entscheiden Netflix und Spotify. Und wer was bei Twitter oder Facebook schreiben darf, entscheiden Dorsey und Zuckerberg. Alles ganz einfach.
    Und natürlich ist es meine ganz private Entscheidung, von Anbietern, die irgendwas von Jackson und Polanski führen (oder im Gegenteil aus dem Programm genommen haben), nichts mehr zu kaufen (auf fremdwörterisch: sie zu boykottieren). So wie das die private Entscheidung von ganz vielen anderen Menschen ist. Und es ist die private Entscheidung von Werbeträgern, wo sie ihre Werbung platzieren oder eben nicht.

    Also, alles ganz einfach! Hier kann jeeeder machen, was er will! (Im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, versteht sich.) Oder fallen Ihnen da nicht doch gewisse Unterschiede auf? Oder erst, wenn Sie zwar frei entscheiden können, was Sie zu Hause hören oder sehen wollen, aber das gewünschte Werk aufgrund ganz privater Entscheidungen anderer nirgendwo mehr kriegen?

  19. @ gianno chiaro: Ach, Michael Jackson darf bis heute die Medien für irgendwas benutzen? Mannomann, ein wahrlich unsterblicher Künstler!

    Ansonsteb schließe ich mich Wildtyp an.

  20. „Und natürlich ist es meine ganz private Entscheidung, von Anbietern, die irgendwas von Jackson und Polanski führen (oder im Gegenteil aus dem Programm genommen haben), nichts mehr zu kaufen (auf fremdwörterisch: sie zu boykottieren).“
    Nein, boykottieren ist was anderes.
    Wenn EIN Kino (oder mehrere vereinzelte) Polanski nicht mehr führen, ist das kein Boykott, jedenfalls nicht im Endeffekt, da das interessierte Publikum mit vertretbaren Aufwand ja ins Kino in der Nachbarstadt fahren kann.
    Wenn mehrere Kinos sich absprechen, Polanski nicht mehr zu zeigen, ist das nicht mehr die eigene, private Entscheidung, so dass man schon eher von einem Boykott sprechen kann. (Nebenbei frage ich mich dann als Kinogänger, was die wohl sonst noch so absprechen, vllt. Preise?)
    Und wenn über die private Entscheidung, einen bestimmten Film zu sehen, öffentlich diskutiert wird, ob man das noch „darf“, dann ist die Privatheit der Entscheidung auch nicht mehr so richtig gegeben.

    Um jetzt auf den Rechtsstaat zurückzukehren – wenn man denn schon meint, bestimmte Leute müssten boykottiert werden, weil sie diese Strafe verdienten (und natürlich ist das eine), dann sollte man trotzdem einen Unterschied machen zwischen verurteilten Verbrechern einerseits und freigesprochenen Angeklagten andererseits. Sonst hat man die Situation, Mensch wird angeklagt, freigesprochen, und die Öffentlichkeit treibt ihn in den Bankrott, weil sie keine rechtsstaatlichen Urteile akzeptieren will.

  21. @Mycroft: „Wenn mehrere Kinos sich absprechen, Polanski nicht mehr zu zeigen, ist das nicht mehr die eigene, private Entscheidung“ -> Ähm, wieso? Und wenn der Boykott ohne direkte Absprache stattfindet?
    Also wenn man weiter darüber nachdenkt, führt das schon in eine sinnvolle Richtung…

    …im Gegensatz zur Strafdiskussion:
    „… dann sollte man trotzdem einen Unterschied machen zwischen verurteilten Verbrechern einerseits und freigesprochenen Angeklagten andererseits.“
    Naja, zum einen ist die Aussagekraft rechtsstaatlicher Verfahren auch irgendwo begrenzt, und nicht jedes Urteil ist über alle Zweifel erhaben. In der Kategorie Freisprüche seien da Namen wie Karl-Heinz Kurras, O. J. Simpson oder eben Michael Jackson genannt. Und was ist eigentlich mit verjährten Straftaten? Ist die Öffentlichkeit ebenfalls Verfährungsspannen verpflichtet?
    Zum anderen könnte man die Argumentation auch umkehren und meinen, wer rechtskräftig verurteilt wurde, hat damit seine rechtlich vorgesehene Strafe schon bekommen und sollte nicht noch darüber hinaus „öffentlich bestraft“ werden.

  22. „Und wenn der Boykott ohne direkte Absprache stattfindet?“ Kann ja sein, aber, ganz doof gefragt: woher weiß ich das? Spezieller: warum sollte ich das glauben, falls es vorher eine breite Diskussion in den Medien gab?

    „…und nicht jedes Urteil ist über alle Zweifel erhaben“ Irgendwo muss man eine Grenze setzen. Nebenbei, es würden nach der Logik ja nicht nur Promis boykottiert, sondern auch normale Menschen. Also nicht nur Millionäre, die genug auf der hohen Kante haben, sondern solche, die direkt pleite gehen.

    „Und was ist eigentlich mit verjährten Straftaten?“ Sie meinen solche, die nicht mehr rechtsstaatlich untersucht werden? Da ist natürlich das meiste Willkürpotential vorhanden.

    „Zum anderen könnte man die Argumentation auch umkehren und meinen, wer rechtskräftig verurteilt wurde, hat damit seine rechtlich vorgesehene Strafe schon bekommen“ Gut, dann lassen wir das öffentliche Strafen einfach ganz bleiben.
    Aber von der Logik her, wäre Weinstein ein verurteilter Postbote, könnte er während seine Haftstrafe ja auch kein Geld verdienen. Warum sollte dann Weinstein im Gefängnis Geld aus Filmrechten gewinnen? Der Einkommensverlust ist ja Teil der Strafe.

    Andererseits, ist Weinstein der einzige, der aus seinen Filmen noch Geld verdient? Was ist mit Regie und Schauspielern, kriegen die keine Tantiemen? „Sorry, das hättet Ihr Euch überlegen müssen, bevor Euer Produzent angeklagt wurde!“? Was ist mit Filmen, bei denen nicht Produzent, Regiesseur oder Hauptdarsteller wegen Vergewaltigung im Gefängnis sitzen, sondern Drehbuchautor, Nebendarsteller oder Kameramann? Was ist mit Komparsen, Technikern oder dem Hausmeister? Was ist mit anderen Verbrechen? Wo setzt man die Grenze?

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