Wochenschau (79)

Dunja Hayalis Walk of Häme: Journalismus als Performance

Am Samstag begab sich die ZDF-Journalistin Dunja Hayali in Berlin auf die Demonstration gegen die pandemiebedingten Einschränkungen, die auf der Straße des 17. Juni stattfand. Mit einem Kamerateam, Security und Mund-Nasen-Schutz, der sonst von kaum einem der Teilnehmer getragen wurde, fiel sie sofort als störende Persona non grata auf, die nicht zu den Protestierenden gehörte, und schlimmer noch: als Journalistin, als Vertreterin der „Lügenpresse“.

Die Bilder, die dabei entstanden, werden am Donnerstag in ihrer Sendung zu sehen sein. Da sie diesen Dreh selbst über einen Instagram-Livestream begleitete und kontinuierlich kommentierte, konnte man schon vorab einen Eindruck gewinnen, unter welchen Umständen sie ihrer Arbeit nachging – bis sie sie aus Sicherheitsgründen abbrach.

Wie schon bei anderen Versammlungen war es die Absicht der ZDF-Moderatorin, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, ihnen zuzuhören, um zu verstehen, so ein wichtiges Verb in Hayalis Arbeit: „Ich will es nur verstehen“, sagt sie manchmal, wenn es ihr dann doch gelingt, mit mehr oder weniger Kommunikationsbereiten ein paar Worte zu wechseln.

In ihren Gesprächsversuchen wird deutlich, dass mit Verstehen nicht Akzeptieren gemeint ist, aber man merkt ihrer Grundhaltung den Wunsch an, die Wirklichkeit zu durchdringen. Dabei wird auf geradezu unerträgliche Weise erkennbar, mit welcher Ausdauer und Entschlossenheit sie gegen den Vorwurf ankämpft, die öffentlich-rechtlichen Medien würden bestimmten Personengruppen nicht zuhören, würden nicht fair berichten und unerwünschte Überzeugungen zensieren. Immer wieder weist sie darauf hin, dass diese Aufnahmen ungeschnitten online zu sehen seien, so könne sich jede und jeder selbst ein Bild machen.

So bewundernswert ich diese Beharrlichkeit und Geduld finde, so glaube ich doch, dass dieses Reportieren in eine Falle der Unauflöslichkeiten tappt, wenn die Menschen, die abgebildet werden sollen, nicht wirklich verstanden werden wollen. Hayali begibt sich als Journalistin in das Auge eines antijournalistischen Sturms, um mit Leuten zu reden, die das nicht wirklich möchten, weil sie sich ohnehin falsch dargestellt wähnen.

Performance-Journalismus

Das Ergebnis: Die Aufnahmen veranschaulichen die Kommunikationslosigkeit, man dokumentiert Feindseligkeit, man bleibt ratlos zurück. Der Erkenntnisgewinn ist, dass es keinen Erkenntnisgewinn gibt – bis auf einen, nämlich Hayalis Fazit am Ende des Walk of Häme: Egal wie man es als Journalistin auch macht, man macht es falsch. Spricht man nicht mit den Demonstrierenden, fühlen die sich in ihrem Narrativ bestätigt, dass sie von der Presse stumm gemacht werden. Spricht man mit ihnen, wird unterstellt, dass die Aussagen verfälscht wiedergegeben werden, dass man lügt oder als Agent Provocateur der Lügenpresse agiert, die die Protestierenden absichtlich erregt, um sie vorführen zu können.

Der Mehrwert, der in Hayalis Stream sichtbar wird, ist kein besseres Verstehen der KritikerInnen der Corona-Maßnahmen, zu deren Pose und Selbstverständnis ja gerade gehört, dass sie niemand verstehen will. Vielmehr ist es diese Unverständigkeit, diese Unüberbrückbarkeit im Aneinander-Vorbeireden, die als ein schwer erträglicher Spießrutenlauf dokumentiert werden. Der Instagram-Stream ist eine durchgehende Live-Schalte direkt in ein pressefeindliches No-Mans-Land, dem ich seinen journalistischen Wert nicht absprechen möchte, aber ich würde ihn nach der Sichtung von Hayalis Bildern anders einordnen: Journalismus wird hier zu einer sozialexeprimentellen Performance.

Als Performance-Kunst wird die Kunst bezeichnet, in welcher der menschliche Körper zum künstlerischen Medium wird, ohne dass es sich um eine geprobte Inszenierung wie im Theater oder im Tanz handelt. Das Spezifische an einer Performance ist die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der Ereignisse.

Die Moderatorin und das wütende Publikum

Als eine Vorform der Performance entwickelte der Surrealist Antonin Artaud das Konzept seines Theaters der Grausamkeit (Théâtre de la cruauté), durch das er eine direkte Verbindung zwischen den ZuschauerInnen und dem Spektakel herstellen wollte, um die normalerweise passiv Zuschauenden an der Inszenierung zu beteiligen.

„Wir beseitigen die Bühne und das Auditorium und ersetzen sie durch einen einzigen Ort ohne Trennwand oder Barriere jeglicher Art, der zum Schauplatz der Aktion wird.”

Die Werke des Theaters der Grausamkeit haben einen fragmentarischen Charakter, ihre narrativen Elemente sind unzusammenhängend; die Körper, die an dieser Form von Performance beteiligt sind, vermitteln auf expressive Weise Aggressionen und persönliche Wünsche. Und auch die unterdrückte Stimme, die Blockade der Artikulation und das Sich-Gehörverschaffen spielten bei Artaud thematisch und performativ eine wichtige Rolle.

Hayalis Instagram-Stream läuft auf dasselbe hinaus: Auf einer offenen Bühne werden die Grenzen zwischen ihr, der Moderatorin, und dem wütenden Publikum überwunden.

Ein soziales Experiment

Das Video beginnt als Versuch, zu verstehen, und endet als Dokument der ausweglosen Kommunikationslosigkeit. Betrachtet man ihren mühsamen Weg durch die Menschenmenge, erinnert das an performative Prämissen: eine Teilnehmerin, die immer wieder mantrahaft „Heimgehen! Heimgehen!“, „Manipulation!“ und „Keine Interviews!“ ruft; die allgegenwärtige Wut; die hartnäckigen Monologe einiger Teilnehmer, die immer assoziativer und bruchstückhafter werden und die in persönlichen Anekdoten enden, denen man kaum noch folgen kann.

Die ungeschnittene Liveübetragung unterscheidet sich von betont konfrontativen Reportagen, die gerne das „Kein Kommentar!”-Rufen und Weglaufen der Akteure als journalistische Trophäe dokumentieren. Sie ist auch anders als die verdeckten investigativen Recherchen mit versteckter Kamera oder Verkleidung wie beispielsweise bei Günther Wallraff, als der Selbsttestjournalismus eines „Jenke-Experiments“ und als klassische Presenter-Reportagen, in denen ReporterInnen als sichtbare BeobachterInnen einem Geschehen beiwohnen, wie zum Beispiel bei der „Panorama“-Reportage von Nadia Kailoul, Jonas Schreijäg und Johannes Edelhoff, die ihre komplette Zeit an Bord der Sea-Watch 3 dokumentierten.

Die Emotionsableiterin

Die Frage ob es Querverbindungen zwischen dem Performativen und Journalismus geben darf und soll, wurde unter anderem von Ori Tenenboim und Natalie Jomini Stroud betrachtet: Sie argumentieren, dass Journalismus eine Verantwortung gegenüber dem öffentlichen Leben hat, die über das bloße Erzählen von Nachrichten hinausgeht, die Aufklärungsarbeit also auch durch Storytelling, Inszenierung und dem Theater selbst erfolgen kann und muss.

Trotz der Vorhersehbarkeit der Abwehrreaktionen, ist es bemerkenswert, wie sehr Hayalis bloße Anwesenheit, die schlichte Existenz ihres durch eine Maske geschützten Körpers schon als Provokation ausreicht.

Und wenn ich hier Körper schreibe, dann meine ich diesen auch im politischen Sinne, also ihren journalistischer Körper, der zur Projektionsfläche wird, für einen enthemmten Zorn auf die öffentlich-rechtlichen Medien, der sich an ihr entlädt und den sie selbst freiwillig als Ableiter anbietet.

Hayali wie einst Marina Abramović

Diese Bereitschaft Hayalis, unkontrollierte Emotionen am eigenen Körper zu ertragen, erinnert mich an Arbeiten der serbischen Performance-Künstlerin Marina Abramović. Ich denke hier beispielsweise an „The Artist is Present“, eine Performance aus dem Jahr 2010, bei der sie über zwei Monate täglich während der Öffnungszeit des Museums of Modern Art (MoMA) in New York an einem Tisch vor einem leeren Stuhl saß und MuseumsbesucherInnen ihr gegenüber Platz nehmen konnten, so lange sie wollten.

Betrachtet man Aufnahmen dieser Begegnungen zwischen der Künstlerin und den TeilnehmerInnen dieser Performance, dann sieht man immer wieder aufs Neue wie kraftvoll, verstörend, emotional ergreifend und körperlich anstrengend dieser Moment sein kann, in dem sich zwei fremde Menschen erstmals begegnen und sich dabei in die Augen blicken.

In ihrer anderen legendären Performance mit dem Titel „Rhythm 0“ stellte Abramović 1974 im Studio Morra in Neapel ihren Körper sechs Stunden dem Publikum als Performance-Objekt zur freien Verfügung. Neben ihr war eine Tafel mit 72 Gegenständen aufgebaut, darunter unter anderem ein Skalpell, eine Rose, Honig, eine Säge, Parfüm oder eine geladene Pistole. Zu Beginn waren die Interaktionen noch harmlos, wurden mit der Zeit jedoch immer verletzender, aggressiver und gefährlicher. Nach drei Stunden wurden ihr die Kleider mit einer Klinge abgeschnitten, schließlich ritzte ihr ein Besucher in die Kehle und trank ihr Blut, ein anderer richtete die geladene Waffe auf ihren Kopf – andere Besucher wiederum versuchten sie zu beschützen. Abramović wollte wissen, wie weit die Menschen gehen würden. Ihr Fazit: „Wenn es deinem Publikum überlassen ist, was passiert, besteht die Möglichkeit, dass sie dich töten.“

Erfahrung des Irrationalen

Wenn man Hayalis Auftreten bei der Demonstration als Performance betrachtet, dann stellt sich die Frage, ob oder wie sinnvoll dieses war, nicht mehr. Mehr als um rationalen Austausch geht es bei dieser Demonstration der Grausamkeit um eine Erfahrung des Irrationalen, des Unlogischen, das sich durch fragmentarische Gefühlsregungen, durch ungehemmte Körperlichkeiten ausdrückt, die eine eigene Kraft und Gewalt entfalten, die nicht mehr durch klassische Berichterstattung eingefangen werden können. Eine andere Form, gewissermaßen auf der ganz anderen Seite des Abbildungsspektrums fand „Kontraste“ mit der stakkatohaften Montage und dem kommentierenden Schnitt.

Wenn es dabei dann doch eine kleine Erkenntnis gibt, die über diese mit journalistischen Mitteln schwer greifbare Ästhetik menschlicher Aggressionen hinausgeht, dann ist es vielleicht diese: Dunja Hayali ist die Marina Abramović des Journalismus.

71 Kommentare

  1. … und dann war da noch Roland Tichy, der meinte die armen Gebührenzahler, die in Berlin „Lü-gen-pres-se“ grölten, als Opfer der pöhsen Dunja darstellen zu müssen.

  2. Es ist vllt. auch nicht die taktisch klügste Idee gewesen, ausgerechnet eine Person, deren Eltern aus dem Irak kamen, ausgerechnet zum Interviewen von Leuten zu schicken, die überproportional häufig etwas gegen Leute aus dem Irak und angrenzenden Ländern haben.
    (Dass es auch irakische Christen gibt und Hayalis Familie dazu gehört, ist umgekehrt eine Information, die Leute, die sich nicht für andere Länder und Menschen interessieren, mangels Interesse nicht haben.)
    Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.

  3. @ Mycoft: wollen Sie damit sagen, dass nur noch die Personen von Demonstrationen berichten sollten, die den Demonstranten genehm sind? Sind das die Grundrechte und die Freiheit, für die sich die Demonstranten in Berlin vorgeblich eingesetzt haben?

  4. Es wird mal wieder Zeit für ein aktuelles „Secret Diagram“ von Seyfried.

    Der Exkurs über Abramović war sehr interessant, danke dafür!

    Diese Torte der Wahrheit fand‘ ich ja auch ganz gut:
    https://bit.ly/30xIJ7L

  5. @Mycoft: „taktisch klügste Idee“ impliziert, dass es eine Taktik seitens der Presse gegeben haben muss, also eine Strategie, möglichst die maximale Provokation bei einen dumpf geframten Zielpublikum herauszuziehen: ÖR, Frau, erfolgreich, irakische Wurzeln, „integriert“. Klingt für mich nicht nach stichhaltigem Argument sonder eher wie ein Einwand, den sie beim Mitmarschieren mit diesem wirren Mob aufgeschnappt haben könnten. ;-)

  6. @Woitoll: Mundschutz, ok, vllt haben die sie nicht erkannt.
    @Andreas: Es gibt kein Grundrecht auf eine bestimmte Person als Interviewpartner, oder auf einen bestimmten Einsatz als Arbeitnehmer.
    @Alex: Ich halte diese Demo für Blödsinn, und unterstelle Hayali und dem ZDF, ein Interview, das zustande gekommen wäre, veröffentlicht haben zu wollen.
    Bei 1.3 Mio wäre das schon rein statistisch passiert, aber wenn nur 1,5 Prozent von denen da sind, tja…

  7. @Mycroft: Dunja Hayali wurde sicherlich nicht vom ZDF dort hingeschickt. Sie ist keine Praktikantin, Volontärin oder „einfache“ Redakteurin, der man einen Auftrag erteilt. Frau Hayali war für ihre Sendung „dunja hayali“ auf der Demo. Die Entscheidung, dort hin zu gehen, hat sich sicherlich selbst getroffen

  8. Hayali ist naiv und selbstdarstellerisch.
    Sie hätte – das wäre taktisch klüger gewesen – ohne Kamera Leute ansprechen können, schauen ob man mit denen reden kann und sich dann später zum Reden verabreden können.
    So „platzt“ sie in den Augen der Demonstranten ins aufgeheizte Geschehen und will in Ruhe reden. Das ist so als ob man im WM-Finale 2014 2 Minuten vor der 120. Minute einen Argentinien- oder Deutschland-Fan über das Land Brasilien als WM-Veranstalter befragen möchte.

  9. @7: „(…) auf einen bestimmten Einsatz als Arbeitnehmer.“
    Ergänzend: Grundrecht nicht, aber es kann (sollte) vereinbart werden – z. B. Einsatzbeschreibung im A-Vertrag. Das entbindet den Azubi aber nicht vom Kaffeekochen ;)

    Und ich bin Ihrer Meinung, dass hinter jedem Einsatz von Arbeitszeit auch eine „Taktik“ stecken sollte. Die sollte m. E. aber nicht davon geleitet sein, ob man z. B. mit seinem Stammbaum-Hintergrund
    jemandem auf die Füße tritt.
    Obwohl mich schon interessieren würde, wie die Meute auf z. B. Judith Rakers reagiert hätte. Was wiederum auch nur Ausdruck meines persönlichem Bedürfnis nach Bestätigung meines Vorurteils, „die sind eh alle Rassisten“ ist.

  10. @8: Das ist ja die gleiche Debatte, wie bei AfD-Sommerinterviews: Muss man es einem Interviewpartner kuschelig machen, der für die Abschaffung der eigenen Berufssparte ist?
    Der Fußball-Vergleich hinkt so gewaltig.

    Ich finde das Video gerade nicht, aber irgendein AfD-Landsabgeordneter wurde kürzlich an seinem Wahlkampfstand nach QAnon-Inhalten, die er teilte, befragt. Er wollte aber nur über seine Wahlkampfinhalte sprechen.
    Die Bereitschaft zum Diskurs wird ja nicht von Journalisten abgeblockt sondern von denen, die ihre „unangenehmen Inhalte“ lieber nicht in der Öffentlichkeit sehen wollen. Aber das ist doch journalistische (Teil-)Aufgabe, auch die unangenehmen Inhalte offenzulegen.

    „Hayali begibt sich als Journalistin in das Auge eines antijournalistischen Sturms, um mit Leuten zu reden, die das nicht wirklich möchten, weil sie sich ohnehin falsch dargestellt wähnen.“
    Wie ist dieser Knoten zu lösen? Ich weiß es nicht.

  11. Interessant in diesem Zusammenhang finde ich, dass die Zeitschrift ‚der Spiegel‘, bzw. deren Hauptstadt-Reporter Dirk Kurbjuweit,
    a) der Lügenpresse auch nicht traut: „Am Samstag demonstrierten in Berlin zehn- bis zwanzigtausend Menschen gegen die Corona-Politik, gegen Beschränkungen ihrer Freiheit. Ich war den ganzen Tag zu Hause, bekam nicht viel mit von den Ereignissen. Die Fenster standen alle offen, es war ein heißer Tag. Am Abend fiel mir irgendwann die ungewohnte Geräuschkulisse auf. Ständig Polizeisirenen, ständig Hubschrauber in der Luft. Es klang ein wenig nach Bürgerkrieg, über Stunden.

    Ich checkte häufig Nachrichtenportale und erwartete, Berichte über Straßenschlachten zu lesen. Aber sie blieben aus. Auch die Berichte in den Zeitungen von heute decken sich nicht mit dem Eindruck, den ich von der Geräuschkulisse hatte.“
    b) COVID-19 nicht für eine Krankheit, sondern für eine Erzählung hält: „Ich stelle sie nicht infrage, aber ich würde die Demonstranten auch nicht pauschal „Covidioten“ nennen, wie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. Es ist noch weniger als sonst die Zeit, in der man etwas genau wissen kann. Und deshalb ist derjenige, der eine andere Meinung hat, nicht ein Idiot, sondern einer, der einer anderen Erzählung folgt.“
    https://www.spiegel.de/politik/deutschland/news-mecklenburg-vorpommern-schule-demo-saskia-esken-donald-trump-sandro-wagner-a-fef01e7f-7ada-4bc2-b781-d83a6c266692

  12. @12, Jochen Kruse
    „“Es ist noch weniger als sonst die Zeit, in der man etwas genau wissen kann. Und deshalb ist derjenige, der eine andere Meinung hat, nicht ein Idiot, sondern einer, der einer anderen Erzählung folgt.““

    Genau deshalb ist das Wort Covidioten eben doch berechtigt.
    Genau wissen tut niemand etwas, weshalb man gerne anderer Meinung sein kann.
    Aber eben weil man nicht weiß, ob solche Zusammenkünfte ohne Schutzmaßnahmen nicht auch dramatische Auswirkungen haben kann, muss man schon Idiot sein, trotzdem auf diese Art seine Meinung zu demonstrieren.

  13. Ich habe mir jetzt mal die Instagram Materialien komplett angeschaut. Ein paar Anmerkungen:
    1. An keiner Stelle wird Frau Hayali angefeindet, weil sie iranisch oder eine Frau ist. Alle Anfeindungen beziehen sich auf ihren Arbeitgeber (ZDF) oder auf eine Gleichsetzung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit dem Staat und mit Polizeibehörden. Mycroft hat daher unrecht.
    2. Am Anfang des Videos ist auffällig, dass Personen, die etwas sagen wollen, nicht zugehört wird. Menschen setzen an und die Kamera dreht ab. Plakate werden Richtung Fernsehteam gehalten, man ist nicht interessiert. Dies wird ab Minute 10 besser durch dass Verhalten von Frau Hayali selbst, die mehreren Personen zu hört. Allerdings wird dann recht schnell die Kommunikation abgebrochen, durch Aussagen wie „Sie stellen nur Behauptungen auf“. Trotzdem erfährt man in dieser Phase mehr über die Teilnehmer als in allen anderen, was ich bisher gesehen habe. Hier hat sich der Einsatz von Frau Hayali gelohnt.
    3. Während des gesamten Videos macht Frau Hayali keinen Hehl daraus, wie sie zu der Demo steht. Indem sie ihr Unverständnis vor sich hersagt, und die Aktionen kommentiert. Kann man machen, ob das so besonders hilfreich ist, wage ich zu bezweifeln.
    4. Kurz nach Minute 10, fasst Frau Hayali einen ihr fremden Mann an und zeigt damit, dass sie trotz Maskentragens die Virenschutzmaßnahmen nicht verinnerlicht hat.
    5. Die Aussage der Kolumnistin Frau Hayali hätte eine „Performance“ abgeliefert, wird der Situation nicht gerecht und ist erstaunlich nah an Tichys Vorwurf der Provokation. Frau Hayalis Ansatz war wesentlich breiter und nachvollziehbar auf Informationsgewinnung ausgerichtet. Aber für die Kolumnistin ist ja im Zweifel jeder, der ihre Meinung nicht teilt, einer „der andere Menschen umbringen will“.

  14. @13, Micha

    Es ist doch noch schlimmer. Natürlich wissen wir, dass COVID-19 hochansteckend ist und wie die Ansteckungswege sind.

    Mich erschreckt einfach zutiefst, dass dies vom Spiegel abgestritten wird.

  15. Um in diesem Verschwörungsmythensumpf dermassen zu versinken gehört in großem Maße eine gewisses Überlegenheitsbedürfnis dazu. Die Demonstranten schimpfen ja häufig gegen „Eliten“, tatsächlich sehen sie sich ja selbst als „elitär“ an. Während alle anderen Mainstream und Schlafschaafe sind, sind sie selbst ja „Querdenker“ und im Besitz von „elitärem“ Wissen, das sie sich er-googelt oder er-youtubt haben.
    Von daher ist Kommunikation auf gleicher Ebene ja gar nicht erwünscht und stört nur das Opfernarrativ und das Gefühl als Freiheitskämpfer unterwegs zu sein.

  16. „Interessant in diesem Zusammenhang finde ich, dass die Zeitschrift ‚der Spiegel‘, bzw. deren Hauptstadt-Reporter Dirk Kurbjuweit,
    a) der Lügenpresse auch nicht traut“

    Sie lesen das verkehrt rum. DK meint, dass der Staat mit seinen Lärm erzeugenden Machtmitteln überreagiert hat, nicht, dass die Presse gelogen habe.

  17. @17, Stefan Pannor
    I stand corrected, dankeschön.

    Lese ich in Pkt. b) auch falsch ? Ich habe gelesen „Zu COVID-19, insbesondere der Ansteckungsgefahr und den dagegen notwendigen Maßnahmen, gibt es keine Tatsachen, die man sicher wissen kann. Und daher ist jede Erzählung so richtig oder falsch wie jede andere“

  18. „COVID-19 nicht für eine Krankheit, sondern für eine Erzählung hält“

    Jeder bekannte Fakt ist zugleich eine Erzählung. Ich halte DKs Aussagen in dem fall auch für unnötig verschwurbelt, allein dass wir hier rumexegesen … anyway: Ihre Behauptung, es gäbe „keine Tatsachen, die man sicher wissen kann“, ist Humbug. Nach dem alten Rumsfeld-Motto: es gibt Dinge, die wir wissen, Dinge, die wir nicht wissen, und Dinge, von denen wir nicht mal wissen, dass sie existieren. DK schreibt: „Es ist noch weniger als sonst die Zeit, in der man etwas genau wissen kann.“ „Weniger“ heisst nicht „nicht“.

    Das Schwinden von Gewißheiten ist nicht die Absenz von Gewissheiten.

    Aber ich gebe zu: was DK uns wirklich sagen will, ist mir ein Rätsel. Wer aber meint (und man kann das so lesen), dass Anhänger kontrafaktischer Ansichten nur „eine andere Meinung“ hätten, der vergaloppiert sich.

    Ja, ne, kurz gesagt: Ich weiß auch nicht, was DK uns sagen will. Oder ob er es weiß.

  19. @16: Nennt sich Projektion. Ist niemand vor gefeit, aber das Wissen, dass es derartige Suggestionseffekte gibt hilft, sie auch bei sich selbst zu erkennen, bestenfalls Schlussfolgerungen daraus zu ziehen und sein Verhalten zu ändern.

  20. Irakisch, nicht iranisch.
    Da ein Rassist(m/w/d) nicht unbedingt offen rassistisch ist, belegt das wenig.

  21. Ansonsten, gibt es beim ZDF keine Besprechungen?
    Klar, wenn Hayali das gerne machen will, darf sie. Aber wollte niemand sonst? Hat keine/r gesagt: „Meinst Du wirklich?“
    Kann ja sein, dass alle vom ör dieselben Reaktionen geerntet hätten, aber nun ja…

  22. „Kommunikationslosigkeit“? Was soll das sein? Mit Watzlawick kann es die gar nicht geben. Und ich sehe auch keine solche, sondern eine Kommunikation bei der der Beziehungsaspekt den Sachaspekt vollständig, quasi tot-dominiert.

  23. „Ja, ne, kurz gesagt: Ich weiß auch nicht, was DK uns sagen will. Oder ob er es weiß.“
    @ Stefan Pannor
    Dann hat DK ja praktisch alles, was er bei der nächsten Covidioten-Demo zum Mitlaufen braucht. Kann er auch gleich nach den Hubschraubern gucken, den lärmenden.

  24. „Ansonsten, gibt es beim ZDF keine Besprechungen?“

    Vor allem gibt es nicht DAS ZDF.

    Das sind ganz oft diverse Produktionsfirmen, die intern auch nochmal aufgeteilt sind, und die einen zugeteilten Timeslot bespielen.

  25. D.h., theoretisch hätten auch zwei Teams zur selben Demo gehen können, weil die eine Hand nicht weiß, was die andere macht?
    Ok, wieder was gelernt.

  26. Praktisch waren doch mindestens zwei Teams da, eins für „heute“, eins für Dunja.

    Allerdings auch mit komplett anderen Zielsetzungen, also durchaus sinnvoll.

  27. Ach, dann haben die sich doch abgesprochen? Und wieder was gelernt.

    Ok, ich sollte mich nicht immer über alles lustig machen, aber ich habe mir eine halbe Stunde Filmmaterial mit pöbelnden Menschen nicht angesehen, weil da nicht annähernd neugierig oder leidensfähig genug für bin.
    Und ich sehe das ähnlich wie Anderer Max, das ist eigentlich dieselbe Debatte wie mit dem Seeinterview und dem Waldspaziergang, nur mit dem Ausschlag ins andere Extrem: man sollte es den Leuten nicht zu kuschelig machen, aber zu unkuschelig bringt auch nicht viel.

  28. „´Hayali begibt sich als Journalistin in das Auge eines antijournalistischen Sturms, um mit Leuten zu reden, die das nicht wirklich möchten, weil sie sich ohnehin falsch dargestellt wähnen.´
    Wie ist dieser Knoten zu lösen? Ich weiß es nicht.“

    Vielleicht, in dem die Journalisten von Propaganda zu Journalismus zurückfinden.

    Wenn man davon ausgehen muss, dass eine vernünftig begründete abweichende Meinung eh nicht publiziert wird, kann man sich das alles sparen.
    Und wenn man davon ausgehen muss, dass die Rede der Befragten nur in Fragmenten gesendet wird, sieht´s genauso aus.

    Im Übrigen staune ich, dass hier in den letzten Tagen immer so getan wird, als wären die Propagandisten ganz scharf drauf, mit Abweichlern zu reden und auch noch deren Meinung zu publizieren. Wo es doch bis gerade eben hieß Nazis keine Plattform geben.

  29. Die Aufnahmen auf instagram und dieZDF-Sendung Donnerstag Abend sind grundverschieden, die ZDF-Sendung war keine Performance, gar keine Kunst, sondern filmische Vorlage zur nicht gerade aufschlussreichen Diskussion, wer da alles vereint demonstrierte. Dass Hayali – wie im instagram-stream zu sehen – einem lange monologisierenden Interviewten zusagte, seine Aussagen würden im ZDF genau so live gesendet, ohne dass der Mann dann in der Sendung zu sehen war, ist schlechter journalistischer Stil. Schade.

  30. @25

    Stefan, so ganz autark läuft es aber nicht. Produktionsfirma in diesem Fall ist eine Firma, die als Tochterfirma einer Tochterfirma zu 49% dem ZDF gehört (die ÖR haben inzwischen ein kaum noch durchschaubares Geflecht an Tochterfirmen), und wie fast immer bei solchen outgesourcten Sendungen gibt es eine verantwortliche Redakteurin des Senders, die die Aufsicht hat – und engen Kontakt zum Lerchenberg hält.

  31. Schön, wie die Kommentare am Artikel von E.Quassil vorbei gehen und jeder sein Steckenpferd reitet. Kluger Artikel übrigens, der sich mit der Sprachlosigkeit der Covidioten auf einer Ebene beschäftigt, der die Kommentatoren augenscheinlich nicht gewachsen sind. Wer meint, „das hätte besser gemacht werden können“, hat nicht verstanden, worum es im Artikel geht. Hier hat ein „Teil der Lügenpresse“ sich der Kritik gestellt, auch wenn das Ergebnis vorhersehbar war. Wer aber die „Erzählung“ der Covidioten ernst nimmt und sich der Situation stellt, muss an der Berichterstattung gehindert werden, da das Narrativ sonst zusammenbricht. Übrig bleibt tatsächlich nur eine Art von konfrontativer Performance, die anzusehen so schwer erträglich ist wie die Performances von Frau Abramowic. Da das von der Moderatorin nicht beabsichtigt war, ist es ihr auch nicht vorzuwerfen.

  32. „…die anzusehen so schwer erträglich ist wie die Performances von Frau Abramowic.“ Kann sein, aber letztere kenne ich gar nicht.
    „Da das von der Moderatorin nicht beabsichtigt war, ist es ihr auch nicht vorzuwerfen.“ Jein. Es ist die Schuld der Pöbler(m/w/d), dass sie pöbeln.
    Aber grundsätzlich kann man jemanden auch etwas vorwerfen, was soe nicht beabsichtig hat.

  33. Erste Lektion bei Kommunikation: Man kann das nicht einseitig aufnötigen. Wenn man reden will, lässt sich das organsisieren, aber da einfach aufkreuzen und zu glauben, dort die konstruktive Debatte zu bekommen, oder vielmehr die Demonstranten vom Gegenteil zu überzeugen, das riecht eher nach “vorführen wollen“. Und auch wenn es nicht so gedacht ist, kann man den Demonstranten diese Wahrnehmung nicht übel nehmen.
    Es wäre bequemer, Kritiker in den Foren anzuquatschen und nach diskussionswilligen zu suchen.

  34. Samira El Ouassil kann ja gerne selber mal versuchen mit laufender Kamera durch einen „schwarzen Block“ zu gehen. Trotz ihrer ähnlich linken Gesinnung wird dieser Versuch -anders als hier- sicher körperlich beendet werden.

    Ansonsten finde ich den Versuch aus Demonstrationen von Menschen (egal ob links, rechts, sonst wie, oder verschwörungstheoretisch abstrus) zu berichten und diese Menschen auch im O-Ton zu Wort kommen zu lassen nicht nur begrüssenswert sondern für ein ö-r Medium für geradezu für geboten.

  35. @2 Mycrosoft
    Würde ich so unterschreiben. So sehr ich auch die Meinung vertrete dass man den Strippenziehern im Hintergrund maximal Contra geben sollte.

    Doch hatten wir diesen unsäglichen Fall:
    https://www.stern.de/panorama/pegida-demonstrant-enttarnt–rtl-feuert-undercover-reporter-3474644.html

    Man wird das Gefühl teils nicht los daß die Funktion des Reporters sich über den Entertainer hin zu einer Personality-Show entwickelt, wo nicht die Nachricht und die Betroffenen sondern das Ego der Presse die Hauptrolle spielen. Beim ZDF genauso. Wir brauchen unsere Medien, für sachliche Nachrichten, gerne auch einmal mit einem als solches gekennzeichneten Kommentar, aber nicht für die Eitelkeiten Einzelner.

  36. @37 Vielen Dank für den Link. Insbesondere das Video mit den Interviews ist für mich sehr aufschlussreich. Wäre evtl. auch etwas für Dunja Hayali.

  37. @37

    Telepolis ist nun ganz unten angekommen. Schrecklicher Artikel und schreckliches Video, die deutlich die wachsende Parallelrealität und die von ihr ausgehende Gefahr für die demokratischen Verhältnisse in Deutschland aufzeigen.

  38. Ich schließe mich den Foristen an, die den Auftritt von Hajali als naiv und selbstdarstellerisch bezeichnen. Nach 20 Jahren als Journalistin darf ich einschätzen, dass es unprofessional ist, auf Demos echte Gespräche auftun zu wollen. Und: der Vergleich mit denArbeiten vonMarina Abramović soll wohl ironisch sein. Oder die Autorin mag/kennt Abramović zu wenig. Anders kann ich ihn mit nicht erklären.Es ist ein Vergleich wie zwischen Michelangelo und einer Schülerin im Malgrundkurs. Da ist wohl die Begeisterung mit der Autorin durchgegangen.

  39. „Wie schon bei anderen Versammlungen war es die Absicht der ZDF-Moderatorin, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, ihnen zuzuhören, um zu verstehen“

    Natürlich. Das ist ja generell das Wesensmerkmal der Journaille allgemein und des Staatsfunks insbesondere.
    Bleibt die Frage, warum die Demonstranten das nicht begreifen.
    Warum ist das so, dass die Demonstranten die Realität höher priorisieren als die Selbstdarstellung der Geschwätzklasse?

  40. @40

    „Telepolis ist nun ganz unten angekommen. Schrecklicher Artikel und schreckliches Video, die deutlich die wachsende Parallelrealität und die von ihr ausgehende Gefahr für die demokratischen Verhältnisse in Deutschland aufzeigen.“

    „Ganz unten angekommen“ ist doch selbst wieder nur eine unnötig extremistische Position. Ja, die Unzufriedenheit wächst und Irrationalität hat Konjunktur. Das gilt leider für beide (besser „alle“, es gibt mehr als zwei) Seiten, wenn auch in verschiedenem Maß. (Man kann kaum noch vermeiden, ähnlich wie Trump zu klingen, allein das ist ein schlechtes Zeichen.) Paranoides Denken auf der einen Seite trifft auf hilflos inszenierte Abwehr- und Enttarnungsreflexe auf der anderen. Es ist nichts klar, außer, daß man so nicht weiterkommt.

    Der letzte Satz im Telepolis Artikel trifft es sehr gut: „Die voreingenommene Diffamierung schafft ein politisches Vakuum, das die AfD natürlich gerne füllt.“ Hierin liegt die größte Gefahr der Berichterstattung, nicht nur der im Stil von Hayali. Auch Ouassil befördert in ihren Texten zu oft die Vergrößerung des besagten Vakuums.

    Für Hayali wäre es z.B. besser gewesen, die Demonstranten an einem neutraleren Ort und in Ruhe zu befragen. Für Ouassil wäre es besser, weniger klappentextintellektuelle Haltungslinien in den Sand zu ziehen. Beides trägt nicht zur dringend benötigten Entspannung der Verhältnisse bei.

    Weder „die anderen mit Argumenten überzeugen“ noch „der Gegenseite zuhören“ sind inzwischen noch produktive Ansätze. Das „man muß nur über alles reden“ Dogma ist schon in den 80ern sichtbar gescheitert. Dies funktioniert, wenn überhaupt, nur in einem weniger angstbestimmten Klima. Was also tun? Es müssen Wege gefunden werden, und hier sind Politik wie Bevölkerung gleichermaßen gefragt, Ohnmachts- und Richtungslosigkeitsgefühle einzudämmen. Bildung, Familie und Gemeinschaft müssen von übertriebenem Individualismus befreit werden. Hier liegt die wahre „Spaltung“ der Gesellschaft, nämlich in der Abspaltung des Einzelnen von einer sinnstiftenden Teilnahme und Teilhabe am Ganzen. Projekte zur Förderung solcher Teilhabe müssen sich auf die Ausbildung von überindividuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen konzentrieren und dürfen nicht von ideologischen „progressiv-gegen-traditionalistisch“ Debatten sabotiert werden, wie es im Moment der Fall ist. „Alt gegen Neu“ lenkt immer wieder ab und befördert kulturelle Grabenkämpfe, in denen die Teilnehmer außer maximalem Beleidigtsein nichts vorzuweisen haben. Es entsteht eine Gesellschaft aus jammernden Teenagern aller Altersklassen, oder zumindest der Eindruck einer solchen. Der Effekt ist in beiden Fällen lähmend.

    Letztlich ist die Diskussion um die COVID Maßnahmen „nur“ ein weiterer Ausdruck einer wachsenden generellen Unzufriedenheit, die sich aus einer Überforderung von Menschen mit der Moderne speist. Die Spezifika der Unzufriedenheit sind nicht deren Ursache, sondern immer nur Aufhänger — Anlässe, um sich Luft zu machen. Sozusagen das „I can’t breathe“ der Massen, die mit den Freiheiten der Spätaufklärung (Leben ohne Gott) nicht zurechtkommen. Man zieht sich daher auf sich selbst zurück; was bleibt, ist das Bestehen auf „Identitäten“ — sich allein über seine unveräußerlichen und unkompromittierbaren Eigenschaften zu definieren. Wenn man nichts mehr hat, hat man immer noch seinen Stolz.

    Dieses Problem kann nicht direkt angegangen werden, indem man die Gegner einer Problematik wie „Masken oder nicht“ von der „richtigen“ Meinung versucht zu überzeugen, oder „seine Leute“ (die Guten) versammelt und seine haltungstechnische Unbeugsamkeit demonstriert. Denn dann ist demonstrieren und dagegen-sein am Ende alles, was man tut. Erneut: auf beiden Seiten. („Auf Biden Seiten.“) Dieses Lied ist wie gesagt keinesfalls neu, wir spielen es seit Jahrzehnten. Es darf nicht immer lauter werden.

  41. Die Referenzierung auf Abramovic klingt beinahe entschuldigend dafür, dass Hayalis Aktion ohne journalistischen Mehrwert blieb. Ich unterstelle, dass der auch gar nicht gewollt war. Frau Hayali wird nicht im Ernst erwartet haben, auf dieser Demo, deren Teilnehmer außer massivem Vertrauensverlust in den Staat und in die sog. Mainstram-Medien fast nichts eint, tiefere Wahrheiten oder Verständnis zu finden. Das erinnert in der Herangehensweise sehr an ihre Pegida-Besuche. Bleibt also nur die Motivation der Provokation und Selbstinszenierung.
    Dunja Hayali ist aus meiner Sicht mittlerweile in die Riege der Selbstvermarkter einzuordnen – was sie von jedem journalistischen Anspruch enthebt. Fleischhauer, Augstein, Broder, Lanz oder Jörges denken auch, sie wären Journalisten, sind es aber nicht (mehr). Korrumpiert durch überproportionale mediale Präsenz und kommerziellem Erfolg wird man zum Promi. Frau Hayalis Sendung ist nach ihr benannt – das wird gern mit „der Einfachheit halber“ begründet, weil es bescheidener klingt, ist aber reines Marketing. In der öffentlichen Wahrnehmung werden diese Selbstvermarkter als Vertreter der Medien allgemein wahrgenommen und damit tragen sie eine große Mitverantwortung am massiven Vertrauensverlust in eben diese. Alle echten Journalisten werden per Pauschalurteil mit abgewatscht – genauso ungerechtfertigt, wie man die Teilnehmer solcher Demos pauschal „Covidioten“ nennt.
    Angst ist zwar immer ein Faktor, den es einzukalkulieren gilt, aber bei Corona scheint diese alles andere an den Rand zu drängen und macht eine echte Debatte – wissenschaftlich und gesellschaftlich – anscheinend unmöglich.

  42. @Buttle, 45
    Ist das aber nicht der innigste Wunsch aller Covidioten, Pigadisten etc. unkommentiert so gehört zu werden, wie man sich äußert. Unkommentiert und ungeschnitten. Weil man doch mal sagen können dürfen muss, in der Lügenpresse und im Staatsfunk aber nicht zu Wort kommt.

  43. @JOCHEN KRUSE, 46
    Sie stellen eine rhetorische Frage zu (m)einem Kommentar, den Sie offensichtlich nicht richtig gelesen haben. Der zu erwartende Mehrwert ist also auch hier gleich Null.

  44. @47 BUTTLE

    Nein, das ist keine rhetorische Frage (auch wenn ich das ? vergessen habe), sondern eine Frage als Antwort auf Ihre Unterstellung Frau Hayali gegenüber: „Bleibt also nur die Motivation der Provokation und Selbstinszenierung.“

  45. @JOCHEN KRUSE, 48
    Wenn man sich die Antwort mitliefert, ist das immer rhetorisch gemeint – ob mit oder ohne Fragezeichen. Genau diese Pauschalisierung in „Covidioten“ signalisiert Desinteresse an einer differenzierten Betrachtung und einem echten Diskurs. Journalisten sind im Übrigen nicht dazu da, Wünsche zu erfüllen. Da hakt’s also schon im Ansatz.

  46. @BUTTLE, 49

    Eine rhetorische Frage ist eine, auf die man keine Antwort erwartet (weil diese offensichtlich ist). Sie scheinen ja zuzustimmen. Dann ist alles gesagt. Und ein paar Beleidigungen finden die Demonstranten, die angeblich für, in Wirklichkeit aber gegen die Grundrechte der deutschen Verfassung („Grundgesetz“) demonstrieren, sicher ganz schick.

    Und ja, Journalismus ist nicht dazu da, Wünsche der Objekte der Berichterstattung zu erfüllen (Wünsche der Leser, Hörer, Seher schon). Daher drehte sich das ganze Stück hier ja auch um die Frage: Ist es Kunst? Oder Quatsch?

    Schönen Abend noch.

  47. @46: Da legen Sie m. E. einen wichtigen Aspekt offen:
    Man behauptet, etwas nicht sagen zu dürfen, indem man es sagt. Man beklagt das „nicht reden dürfen“ indem man drüber redet. Und wenn ein Gesprächsangebot kommt möchte man nicht seine Position artikulieren, sondern weiter davon reden, dass man nicht reden darf – Oder schlimmer, man wird direkt beleidigend.
    Und wenn auch nur eine kritische Rückfrage kommt, wird von Meinungsdiktatur oder so gesprochen.

    Das ist ein Immunisierungsprozess, meiner Meinung nach: Ich darf etwas nicht sagen, dann sage ich es, mir wird widersprochen – Beleg dafür, es nicht sagen zu dürfen.
    Aber genau das ist der Fehlschluss: Nur weil jemand anderer Meinung ist, heißt das nicht, dass meine Meinung unterdrückt wird. Und wenn meine Meinung in der Minderheit ist, dann ist es genau das: Eine Minderheitenmeinung, die selbstverständlich artikuliert, aber eben auch (evtl. negativ) kommentiert werden darf.
    Recht auf Meinung ist kein Recht auf Publikum.

    Dazu kommt, dass die Positionen in den sog. Alternativmedien durchgehend runtergespult werden, kommentarlos, unwidersprochen – dort gibt es gar keine Gegenpositionen. Dort wird alles als Beleg für Unterdrückung genommen, was nicht der eigenen Meinung entspricht.

    Und da wiederum kommt hinzu, dass einige diese Zielgruppe haargenau zu monetarisieren wissen. Das geht dann so weit, dass ein Donald Trump, der POTUS himself als Messias gegen den „Deep State“ gefeiert wird. Oder ein Tilo Sarrazin als Freiheitskämpfer des Proletariats gefeiert wird.

    Man solle doch „selber denken“ und „recherchieren“ – Wenn man aber zu einem anderen Schluss kommt ist man Systemling. Geduldet wird nicht „selber denken“ sondern ausschließlich „zur gleichen Schlussfolgerung gelangen“.

    Das inhärent anti-elitäre wird selbst zu einer Elitenmeinung: Wir haben die Wahrheit herausgefunden, du muss nur zur gleichen Schlussfolgerung gelangen (und die gleichen Quellen nutzen, andere sind verboten) um dazuzugehören.
    Die Geldelite hat sich eine Wahrheits-Konsumelite geschaffen, in der der gemeinsame Feind eine vermeintlich gleichgeschaltete Bevölkerung / Presse ist. Wer widerspricht, gehört dazu.

    Es macht mich tatsächlich traurig, dass man da auch nicht so leicht rauskommt. Je intensiver und länger diese Radikalisierung nun voranschreitet, desto versperrter wird der Weg zurück in eine diskursive Gesellschaft – Man müsste mit seinem inzwischen liebgewonnenen (weil tatsächlich gleichgeschaltetem) Umfeld brechen, verliert die Freunde mit denen evtl. seit Jahrzehnten zu Demonstrationen geht, etc.
    Man würde selbst zum Nestbeschmutzer – Aber genau da sollte man m. E. ansetzen: Wenn ich von einer Gruppe dämonisiert werde, weil ich eine andere Meinung vertrete, wie tolerant / offen / diskursiv / „selber denken zulassend“ ist diese Gruppe dann tatsächlich?
    Manchmal möchte ich schreien: „Ihr werdet verarscht!“ Aber genau das macht es wohl noch schlimmer. Man muss erst selbst drauf kommen, dass man verarscht wird, vorher ist kein Umdenken möglich.

    Anekdotisch: Das erinnert mich an meinen alten Vermieter. – Gar nicht so alt ist er. Der hat ein Malerunternehmen und beschäftigt größtenteils osteuropäische, schwer integrierbare Leute schwarz (lapidar: Größtenteils „Ex-Knackis“). Die stehen aber wie ein Mann hinter dem Kerl, weil der gibt ihnen ja unversteuertes Geld (böser Staat). Stundensatz liegt zwar unter Mindestlohn, keine Solzialversicherung, was vor Allem im Alter total supi ist und Vermieter selbst investiert mittlerweile in Immobilien – Wahrscheinlich, bis er seine Malerfirma nicht mehr braucht.
    In den Immobilien quartiert er nun nach und nach seine Arbeiter ein und kriegt so das bisschen Geld was er ihnen illegal auszahlt auch noch min. zur Hälfte legal zurück.
    Die Leute merken schlicht nicht, dass sie verarscht werden.
    In dem konkreten Fall mag das daran liegen, dass sie auf dem normalen Arbeitsmarkt wenig Chancen hätten und daher dankbar sind, so wenigstens ihren Lebensunterhalt ohne staatliche Hilfen bestreiten zu können.
    Ich halte das Beispiel dennoch für extrem vergleichbar mit einem Meinungsmarkt, auf dem einige Meinungen halt weniger Chancen haben als andere. Das aber auch nicht grundlos.

    Sorry für Wall-of-Text … Ich versuche hier eigentlich nur meine eigenen Gedanken zu ordnen.

  48. @Anderer Max (#51)
    Die Leute grenzen sich solange selber aus, bis sie ausgegrenzt werden, weil sie sich zu weit von einem rationalen Diskurs entfernt haben.
    Wenn dann der richtige Rattenfänger kommt…

  49. „Und wenn ein Gesprächsangebot kommt möchte man nicht seine Position artikulieren, sondern weiter davon reden, dass man nicht reden darf“

    Woher wissen Sie das?

  50. @FIXUNDFOXI

    Schauen Sie doch mal das Video oben. Oder ein Video von allen möglichen journalistischen versuchen bei den „Hygienedemos“ „Pegida“ oder sonstigem.
    Dann sehen Sie genau das Phänomen.

  51. „Ich halte das Beispiel dennoch für extrem vergleichbar mit einem Meinungsmarkt, auf dem einige Meinungen halt weniger Chancen haben als andere. Das aber auch nicht grundlos.“

    „Die Leute grenzen sich solange selber aus, bis sie ausgegrenzt werden, weil sie sich zu weit von einem rationalen Diskurs entfernt haben.“

    Beides vollkommen richtig. Bemerkenswert nur immer wieder, wieviel Hoffnung auf den „Meinungsmarkt“ und den „rationalen Diskurs“ gesetzt wird. Ich kann davon kaum etwas erkennen (RD) bzw. noch den Wert darin sehen (MM). Was konkret haben uns den MM und RD in den letzten 40 Jahren gebracht? Was ist (positives) geschehen, das ohne diese nicht geschehen wäre? Umweltschutz und Anti-Atomwaffenprogramme fallen mir aus den 80ern noch ein. Danach wird es sehr sehr dünn. Die Welt wird zu Dampf. Unsere Allgemeinbildung ist derart im Keller, daß „rational“, was ja nichts weiter heißt, als daß man gute Gründe angeben kann, in sog. „Diskursen“ praktisch gar nicht mehr auftaucht außer als Platitüde, Sonntagsrede oder blind nachgeplapperte Trendvokabel.

    Statt uns von der Diskussion (Nachvollziehen der Standpunkte des Gegners) zum Dialog (gemeinsames Streben nach der besten Erkenntnis) weiterzuentwickeln, haben wir uns zur Debatte (Redekampf, der zu „gewinnen“ ist) zurückentwickelt.

    Beispiele für Trendvokabeln sind z.B. „tief verwurzelt“ und „strukturell“ beim Thema „Rassismus“. Bis vor kurzem noch hat in der Öffentlichkeit kaum jemand so geredet. Jetzt sind diese Worte Aushängeschilder geworden, „ich gehöre zu euch“ Signale. Sie werden jedoch völlig unabhängig von Faktenlagen und Verständnis auf der Seite der Sprecher verwendet. „Rational“ ist da nichts, ein „Diskurs“ kann auf dieser Basis gar nicht stattfinden. Was stattfindet, ist eine Kompensation des Gefühls der Richtungslosigkeit der eigenen Existenz. Die unübersichtlich gewordene moderne Welt soll wieder Sinn ergeben, und das tut sie, wenn es klare wir-gegen-die Fronten gibt. Und wenn es diese nicht gibt, müssen sie eben erfunden werden.

    Genauso ist der vielgepriesene „Meinungsmarkt“ des Internets zu einer Stimmen-Müllhalde geworden, die täglich undifferenzierter und bedeutungsloser wird. Es macht keinen Unterschied, ob man „eine Stimme hat“, wie es von allen Seiten gern reklamiert wird. Wichtig ist, daß man das _Gefühl_ hat, gehört zu werden. Dies stellt sich genau dann ein, wenn der Eindruck entsteht, zu einer „Mehrheit“ zu gehören. Ist dies nicht der Fall, ist man „unterdrückt“.

    Dies gilt sowohl für „Covidioten“ wie auch für Anti-Covidioten. Denn Hauptmotivator für _beide_ Gruppen sind Ängste, _nicht_ etwa die Resultate eines „rationalen Diskurses“. Sogenannte „Argumente“ (meist reine Behauptungen) dienen zur Absicherung des Gefühls der Korrektheit der eigenen Position. Es geht um MEINungen als Indentitätsmerkmale, nicht um Wissen oder Urteilsfähigkeit. Denn Urteilsfähigkeit, also Rationalität, kostet viel Zeit und Arbeit, oft ein ganzes Leben lang. So entstehen Situationen, in denen zwar eine von zwei oder mehr konträren Positionen die objektiv richtige oder bessere ist, die Vertreter der besseren diese aber nicht besser begründen können als die objektiv schlechtere Gegenseite. Die Ängste der Vertreter der besseren Seite stimmen nur _zufällig_ mit der Realität überein. Daraus kann sich natürlich keine „Rationalität“ oder ein entsprechender „Diskurs“ entwickeln. Einsicht muß jeder für sich selbst _entwickeln_, diese _Arbeit_ kann einem niemand abnehmen. Es reicht auch nicht, von respektierten Fachleuten abzuschreiben und damit rhetorisch aufzutrumpfen. Recht haben ist kein Ersatz für geistige Aktivität. Es gibt keine Abkürzungen zur Kompetenz.

    Die Corona Situation mit ihrer unklaren, sich ständig wandelnden Fakten- und Einschätzungslage, sowie wissenschaftlichen Unsicherheiten, ist das perfekte Beispiel hierfür. Man muß sich nur an die Male erinnern, in denen C. Drosten aufgrund neuer Forschung seine Sichtweisen und Empfehlungen geändert hat. Das ging für viele einfach nicht, unabhängig von ihren Ansichten zu Gefahrenlage und Schutzmaßnahmen. Die Unsicherheiten wurden noch größer als zuvor, trotz Verbesserung des Standes der Wissenschaft, was in einer rationalen Umgebung eigentlich nur auf Begrüßung hätte stoßen dürfen.

    Mit Unsicherheiten leben zu können ist in der Moderne eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen. Statt diese Fähigkeit auszubauen tun wir das Gegenteil und werden immer paranoider und ideologischer, und zwar über alle politischen Grenzen hinweg. AfD und progressive Linke z.B. sind zwei Seiten der gleichen identitären Medaille geworden. Beide haben ihre Verschwörungstheorien: Z.B. EU gesteuerte „gewollte“ Migrantenflut auf der einen Seite und ein an jeder Ecke lauernder „systemischer Rassismus“ auf der anderen. Je besser es uns geht, desto kleinlicher, empfindlicher und neurotischer reagieren wir auf Negatives („Mikroaggressionen“, „Femizide“, „Ausländerkriminalität“). Vor ein paar Jahren hätte ich die „linke“ Seite der Medaille noch als weniger radikal bewertet, wenn auch nicht als besonders hilfreich. Aber selbst dieser Bonus ist nun erodiert durch die Übernahme der „gutmenschlichen“ Ideologie durch große Teile der Medien (Guardian, New York Times, Spiegel, um nur einige zu nennen) und der daraus resultierenden massiven Verflachung journalistischer Inhalte.

    Die größte Meinungsfreiheit besteht in der Freiheit von zu vielen Meinungen. Erst wenn Meinung uns wieder weniger interessiert als Fakten, Logik und Klarheit, werden wir aus dem Spiegellabyrinth kindlicher Unsicherheiten wieder herausfinden.

  52. Sind die letzten Absätze (nach Drosten) absichtlich als Karikatur der ersten Absätze (über „Diskurs“) zu verstehen? Ich hoffe es ja …

    Institutioneller Rassismus ist also genauso Quatsch wie die Behauptung, die Regierung würde „Ausländer importieren“ um die reinrassigen Deutschen auszutauschen?
    https://de.wikipedia.org/wiki/Institutioneller_Rassismus
    Systemischer Rassismus existiert, das ist Fakt und keine Ideologie.

    „(…) Übernahme der „gutmenschlichen“ Ideologie durch große Teile der Medien (…) und der daraus resultierenden massiven Verflachung journalistischer Inhalte.“
    Also der Bonus, von Ihnen als nicht so radikal angesehen zu werden, wie rechte Verschwörungsideologien ist weg, weil Ihrer Meinung nach einige Medien „Gutmenschen“-Positionen übernommen haben?
    Das meine ich mit Karikatur – Sie machen ja nichts anderes, als sich auf ihr Gefühl zu verlassen.
    Ich bin sogar bei Ihnen bei der Bewertung „nicht besonders hilfreich“ wenn es z. B. um „Mikroaggressionen“ geht. Oder Lieblings-Rubbelthema der selbst ernannten krtitischen Geister „Sprache Gendern“. Nicht hilfreich, aber inhärent positiv-idealistisch und vor allem ungefährlich.
    Aber einfach systemischen Rassismus in einen Topf mit übelsten rechten Verschwörungsphantasien zu rühren … ist mehr als Äpfel mit Birnen zu vergleichen … Eher fliegende Rosa Elefanten mit der Katze auf meinem Schoß.
    Zumal im Kontext: Rechtsradikale vs. linksradikale Gewaltverbrechen.
    Mir fehlen ein wenig die Worte.

    Ich bin bereit meine Meinung zu ändern, aber da müssten jetzt ein paar Fakten und Argumente kommen, z. B. dass Medien eine „gutmenschliche Ideologie“ übernommen hätten und diese zur „Verflachung“ von Inhalten führe.
    Oder dass systemischer Rassismus nicht existiert (Teekanne, ich weiß).

    Ich glaube, Ihr persönliches „Spiegellabyrinth kindlicher Unsicherheiten“ ist, aus eben jenem herausfinden zu können, bzw. jemals außerhalb gewesen zu sein („wieder“).
    Fakten und Logik sollten mehr zur Meinungsbildung beitragen, als Gefühl, keine Frage. Über Fakten kann man (eigentlich) nicht debattieren, sondern über die Ansichten, die sich aus der Sammlung und Bewertung Fakten ergeben.
    Über Quatsch, der sich als Fakt tarnt muss man debattieren. Hier stehen u. a. die Mittel der Erkenntnistheorie zur Verfügung. Dazu gab es hier erst kürzlich einen Artikel.

    „Klarheit“ halte ich in dem Kontext für absolut unangebracht, ist sie doch eher der Feind von Differenzierung. Hohle Phrasen kann jeder dreschen.
    Nach Klarheit sehnen wir uns, deshalb verkauft sie sich so gut.

  53. Ergänzend, weil passend zum OT der letzten 5 Beiträge, der Spiegel Artikel von Stokowski zum Thema „Debatte über Cancel Culture“:
    https://bit.ly/3gQoyry

    Zitat:
    „Während (…) viele Leute das Gefühl haben, mit dem Newsgeschehen nicht immer Schritt halten zu können, gibt es im deutschen Feuilleton kleine Oasen der Entschleunigung, vor allem dann, wenn Sie einfach noch mal sagen wollen, wie militant und kurz vor Hitler die Linke oder der Feminismus inzwischen ist, da findet sich immer ein Plätzchen.“

  54. @57

    Mein moralisches Hauptanliegen ist ein simples und praktisches: Es ist _nicht_ wichtiger, sich auf eine Seite eines Arguments oder einer Ideologie zu schlagen, als sich konkret um die Verbesserung von Mißständen zu kümmern. Meinen ist nicht wichtiger als Handeln. Wenn Handlung nur noch bis zur Demonstration von Meinung kommt und dann keinen Schritt mehr weiter, und dies ist seit Jahrzehnten in unseren „Diskursen“ der Fall, führt dies erfahrungsgemäß zu nichts außer einem noch größeren Bedürfnis, die Welt in Lager und Gegenlager aufzuteilen. Diesen Kreislauf der Frustrationen gilt es zu durchbrechen. (Was um so schwieriger ist, da auch die Kritik des Bestehens eines Kreislaufs bereits mit in den Kreislauf integriert ist.)

    So passiert dann mit nahezu perfekter Vorhersagbarkeit das folgende:

    „Aber einfach systemischen Rassismus in einen Topf mit übelsten rechten Verschwörungsphantasien zu rühren“

    Es ging mir nicht darum, zwei Positionen in einen Topf zu rühren, sondern die Gemeinsamkeiten der _Ursprünge_ dieser Positionen zu benennen. Das kann man miteinander verwechseln, es ist aber nicht dasselbe. Auch gegenteilige Auffassungen haben häufig denselben Motivationshintergrund, hier speziell die Unsicherheiten und Ängste der Moderne, die zu paranoidem Denken führen, rechts wie links.

    Meine Aussage war, daß davon alle politischen Lager mittlerweile gleich stark betroffen sind. Das heißt aber weder, daß auch die _Auswirkungen_ paranoiden Denkens überall gleich sind, noch, daß die Spezifika politischer Ausrichtungen die Ursachen der Paranoia sind. Vielmehr ist die Paranoia die Folge der Unübersichtlichkeit der Moderne und drückt sich durch die Filter unterschiedlicher Ideologien unterschiedlich aus.

    Ich hoffe, es ist jetzt klarer.

    Ich behaupte nicht, daß „struktureller“ oder „institutionalisierter“ Rassismus nicht existieren (können), sondern daß diese inzwischen mit einer Häufigkeit und emotional aufgeladenen Intensität „entdeckt“ werden, die an ein Suchtverhalten grenzt. Die Debatte ist empirisch wie konzeptionell größtenteils leer. Was „strukturell“ überhaupt heißen soll, kann bestenfalls ein winziger Bruchteil der Diskussionsteilnehmer erklären. Die allermeisten meinen damit einfach nur „überall“. Das hat zwar nichts mit dem Begriff „Struktur“ zu tun, aber „strukturell“ klingt halt schön schlau, als befände man sich im Besitz einer Wahrheit, die andere nicht sehen, eines Musters der Erkenntnis, das nur Erweckten (Stichwort „woke“) zugänglich ist. Derartige Rede unterscheidet sich kaum noch von der über „Schlafschafe“, die Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme gern verwenden.

    Diejenigen, die tatsächlich sagen können, was sie unter „strukturell“ verstehen, sind wiederum nur zu einem Bruchteil konsistent oder übereinstimmend in ihrer Definition _und_ nehmen darauf im Gespräch mit anderen Rücksicht. Von der Faktizität der Aussagen oder der Nützlichkeit der Begriffsbildung haben wir dann noch gar nicht geredet.

    Der _Klang_ des Wortes „Struktur“ suggeriert in diesen Debatten daher einen Grad von Erkenntnis und Verständnis, der zu 99% überhaupt nicht vorhanden ist.

    „Zumal im Kontext: Rechtsradikale vs. linksradikale Gewaltverbrechen.
    Mir fehlen ein wenig die Worte.“

    Falls es beruhigt: Ich bewerte rechtsradikale Gewalt (gegen Menschen) als deutlich negativer als linksradikale Gewalt (gegen Sachen). Meine Kritik bezog sich aber nicht darauf. Es ging um den Wert der sog. „rationalen Diskurse“. Insbesondere darum, daß das ewige Aufwiegen solcher Positionen gegeneinander immer im Nichtstun endet und zu mehr als einem kurzen moralischen Kick nicht taugt. Ihr „mir fehlen ein wenig die Worte“ ist ja auch wieder nichts weiter als ein Nachhaken nach meiner moralischen Integrität. Weniger sensible Zeitgenossen als Sie machen daraus schnell ein „Wie kann man nur!“, und dann ist der „Diskurs“ bereits tot, weil man sich nur noch gegenseitig seinen Ekel voreinander um die Ohren haut. Hier zeigt sich die Isolation des Individuums in der Moderne, die mich vor allem langfristig viel mehr stört als auseinandergehende Meinungen.

    Der Baseballschläger schwingende Neonazi ist hier nicht mein Thema.

    ‚Ich bin bereit meine Meinung zu ändern‘

    Meinung sollte vor allem, jedenfalls wenn’s nach mir geht, unwichtiger werden. Objektivität und Distanz sind nötig, wenn man über Probleme nicht immer nur reden will. Mit etwas Distanz zu sich selbst kann man auch in Gemeinschaft mit anderen Meinungen leben, wenn die anderen ebenfalls Distanz aufzubauen in der Lage sind. Das ist keine leichte Aufgabe und insbesondere keine Entscheidung, die man schlagartig für sich treffen kann, sondern ein Orientierungspunkt des Willens, d.h. eine Art zu leben, die man ständig trainieren muß, und in der man von Perfektion immer deutlich spürbar weit entfernt bleiben wird.

    ‚aber da müssten jetzt ein paar Fakten und Argumente kommen, z. B. dass Medien eine „gutmenschliche Ideologie“ übernommen hätten und diese zur „Verflachung“ von Inhalten führe.‘

    Die Fakten liegen doch unmittelbar vor uns. Sie sind klar sichtbar im Nichtvorankommen des „Diskurses“ seit Jahrzehnten. Was hat der „Diskurs“ politisch gebracht? Fast nur immer mehr Paranoia. George Floyd stirbt und ruck zuck ist die _deutsche_ Polizei „tief verwurzelt rassistisch“ und gehört am besten auf den Müll. Harvey Weinstein fliegt auf und sofort sind 90% aller Frauen (mal wieder) Opfer sexuellen Mißbrauchs geworden, schwer traumatisiert und strukturell unterdrückt seit allen Ewigkeiten. „People of Color“ können sich angeblich kaum noch auf die Straße trauen, weil sie dort sofort umgebracht werden, und Ehefrauen wissen gar nicht mehr wohin, weil der Ehemann ihr größtes Risiko ist, getötet zu werden. Solches Zeug steht regelmäßig im Spiegel und im Guardian. Das ist nicht mehr nur peinlich, sondern wird langsam gefährlich, weil sich mittlerweile auch Politik und Bildungsinstitutionen substantiell nach diesen paranoiden Ideologien, die als „fortschrittlich“ daherkommen, auszurichten beginnen, und das, obwohl keine Mehrheiten dahinter stehen.

    Das Problem ist hier nicht, daß dieser emotionale Ramsch gesellschaftsweite _direkte_ ernste Konsequenzen hat, sondern daß er dringend benötigte Zeit und Energie raubt für das Angehen wirklicher globaler Probleme wie Klimawandel und Konsumwahn. Der mittel- und langfristig dringend benötigte Umbau der Systeme westlicher Industrienationen wird seit einem halben Jahrhundert ignoriert, blockiert und hinausgeschoben, weil das halt sehr sehr schwer ist. Lieber erfindet man Probleme, die man nicht lösen muß, weil sie gar nicht existieren (jedenfalls nicht in der behaupteten Dimension). Der Spiegel baut sich zum Lifestylemagazin um und „berichtet“: Flugzeugabsturz, 100 Tote, davon 30 Frauen; Überschrift: „Die Luftfahrt hat ein Frauenproblem.“ Bestenfalls liest man zwischen 10-20 solcher Artikel darüber, daß mal wieder ein „Linker“ den Kapitalismus überwinden will und ein neuer „Starphilosoph“ sagt, „das Böse“ habe „spürbar zugenommen“.

    In den letzten 20 Jahren lese ich immer weniger im Spiegel oder im Guardian, wonach ich anschließend sagen kann, daß ich nun mehr wüsste als vorher. Die Texte sind wie von Mittelstufenschülern geschrieben, die gerade zum ersten Mal entdeckt haben, daß es auf der Welt nicht immer ganz gerecht zugeht. Eine Weile lang habe ich meinen Ermüdungseffekt dem Alter zugeschrieben. Man hat halt alles schon mal gesehen, und der 27te Western kann es nun nicht mehr reißen. Aber gelegentlich kommt dann doch wieder einen Text, dessen Grundzüge mir zwar nicht neu sind, der aber dennoch Inhalte trägt und interessant ist. Ich merke das immer zuerst daran, daß ich mich zum weiterlesen nicht zwingen muß. Es geht also besser.

    Es interessiert mich weniger, ob Leute Ihre Meinungen ändern, als daß sie Substanz in ein Gespräch bringen können, die Grundlage für konkrete Änderungen unserer Lebensweisen und unseres Umgangs miteinander sein kann. Dazu gehört auch der auf den ersten Blick nicht so konkrete „Geist“, in dem jemand sich führt. Mir ist ein ehrlicher Austausch mit einer „gegenteiligen“ Meinung lieber als ein unehrlicher mit einer übereinstimmenden. Das ist kein Vorschlag, öfter mit Nazis zu reden, sondern sein eigenes Haus zuerst aufzuräumen (das kann man auch ohne Befehl von Jordan Peterson) und dies anderen nicht vorzuPREDIGEN, sondern vorzuLEBEN.

    ‚Ich glaube, Ihr persönliches „Spiegellabyrinth kindlicher Unsicherheiten“ ist, aus eben jenem herausfinden zu können, bzw. jemals außerhalb gewesen zu sein („wieder“).‘

    Es ist eben nicht mein _persönliches_ Labyrinth, sondern das einer ganzen Gesellschaft und einer Zeit, die die (grundsätzlich begrüßenswerte) Trennung von Kirche und Staat, d.h. den Wegfall des gesellschaftlichen Überbaus der Religion, weder verkraftet noch reflektiert (wenn wir schon von Spiegeln und vom Spiegel reden) hat. Wir haben heute (im Westen) jede erdenkliche Freiheit und wir wissen nichts damit anzufangen. Wir haben jede denkbare Möglichkeit der Kommunikation, aber sehr wenig zu sagen. Der meiste Internettraffic besteht aus facebook Katzenvideos und Pornhub.

  55. @57 (Philosophischer Teil, es wird technisch)

    ‚Fakten und Logik sollten mehr zur Meinungsbildung beitragen, als Gefühl, keine Frage. Über Fakten kann man (eigentlich) nicht debattieren, sondern über die Ansichten, die sich aus der Sammlung und Bewertung Fakten ergeben.‘

    Das ist nicht ganz richtig. Bevor man von Fakten überhaupt reden kann, muß man erst mal festlegen, was als Fakt überhaupt zählt. Jedes Sprachspiel braucht seine Spielregeln und letztere können nicht durch ihre interne Logik festgelegt, gerechtfertigt oder gar daraus abgeleitet werden. Denken Sie an die Regeln des Schachspiels. Erst wenn diese feststehen, gibt es das Konzept „korrekter/inkorrekter Zug“. Ebenso ist es für „Wahrheit“, nur daß den Schachregeln hier durch _Wortgebrauch_ (im gemeinsamen Leben von Menschen) unscharf etablierte Regularitäten entsprechen.

    Die Wahrheitsbegriffe etwa der Wissenschaften werden dann als formale Begriffe von umgangssprachlichen abgeleitet und sind präziser festlegbar. Die Kriterien solcher Festlegungen variieren mit der Disziplin und mit dem Typ der Fakten. Etwa empirische Fakten in der Naturwissenschaft (Gravitationskraft F=g*m1*m2/r^2) gegen konzeptionelle Fakten in formalen Kalkülen (Mathematik: 1+1=2, Schach: „Der König im Schach zieht höchstens ein Feld pro Zug.“). Im Alltag dagegen: „Der Kühlschrank ist leer“ (unscharf, aber das reicht meistens).

    Ab wann man in welchem Kontext von einem Fakt redet, wird durch _Nützlichkeit_ festgelegt, nicht durch Wahrheit.

    Diese Ausführungen mögen akademisch erscheinen (sind sie auch), spielen aber implizit (und daher meist unbemerkt) in Debatten wie über Rassismus eine erhebliche Rolle. Es ist kein Zufall, daß es z.B. immer wieder um „Deutungshoheit“ geht. Das ist immer ein Zeichen dafür, daß dasgleiche Wort unterschiedlich verwendet wird/werden soll.

    ‚Über Quatsch, der sich als Fakt tarnt muss man debattieren. Hier stehen u. a. die Mittel der Erkenntnistheorie zur Verfügung.‘

    Ich hatte im Mathematikstudium Philosophie als Nebenfach und beschäftige mich seit 20 Jahren damit. Ich will nur soviel sagen, daß Erkenntnistheorie keine Theorie im Sinne der Naturwissenschaften ist und sein kann. Es gibt keine mechanisch anwendbaren Methoden, um „Quatsch, der sich als Fakt tarnt“ zu ermitteln. Das spricht nicht gegen erkenntnistheoretische Bemühungen. Man sollte nur nicht erwarten, daß das „Streben nach Erkenntnis“ von sich selbst auf eine Theorie abwälzbar ist oder sein könnte. Genau das versuchen aber z.B. „Genderwissenschaften“ und Theorien über „Intersektionalität“. Dieselben Fehler machen auch Biologen, die behaupten, man könne „wissenschaftlich beweisen“, daß es „nur 2 Geschlechter gibt“. Richtig ist: Man kann wissenschaftlich begründet _nahelegen_, daß es nützlich/sinnvoll ist, von 2 Geschlechtern zu reden, solange man von Reproduktion redet. Das nur mal als Beispiel für den Maßstab für Präzision, den eine ehrliche Debatte haben müsste. Wie man sieht, reichen die Amateurergüsse im Netz da nicht heran. Dies zu ändern wäre Aufgabe der Bildungssysteme.

    ‚„Klarheit“ halte ich in dem Kontext für absolut unangebracht, ist sie doch eher der Feind von Differenzierung. Hohle Phrasen kann jeder dreschen.
    Nach Klarheit sehnen wir uns, deshalb verkauft sie sich so gut.‘

    Mit „Klarheit“ war nicht „unumkehrbare Überzeugung“ gemeint (so wird „Klarheit“ gelegentlich von Sekten oder Kulten verwendet), sondern das Resultat unideologischer Überlegung. Ich hatte weiter oben entsprechend von „Distanz“ gesprochen. Ideologie bedeutet, schon vor aller Differenzierung und vor allen Fakten zu wissen, wo man am Ende landen will, was das Gegenteil von Klarheit (in meinem Sinne) ist.

  56. @58

    (Stokowski): „Während (…) viele Leute das Gefühl haben, mit dem Newsgeschehen nicht immer Schritt halten zu können, gibt es im deutschen Feuilleton kleine Oasen der Entschleunigung, vor allem dann, wenn Sie einfach noch mal sagen wollen, wie militant und kurz vor Hitler die Linke oder der Feminismus inzwischen ist, da findet sich immer ein Plätzchen.“

    Es ist richtig, daß solche Kritik überzogen ist, allein schon weil „DIE Linke“ und „DER Feminismus“ nicht existieren, aber daraus folgt nicht, daß eine weniger vehement formulierte Version davon ebenfalls unberechtigt ist. Stokowski reagiert ja auch gern extrem empfindlich auf das Wort „Hufeisentheorie“, obwohl die zumindest in Teilen schlicht nicht zu leugnen ist. Was weder für (moderate) Rechte noch Linke ein Problem sein sollte. Außer man ist paranoid und berufsbeleidigt.

    Zudem versteigt sich Stokowski selbst schon länger in Aussagen und Forderungen ähnlicher Extremität, inklusive nur noch schlecht verdeckter Aufrufe zur Gewalt oder zur Toleranz derselben, solange es nur gegen die „richtigen“ geht. Ernst nehmen konnte ich die aber auch in ihren weicheren Tagen noch nie, dazu ist sie zu irrational und ungebildet.

    Der neue Artikel „argumentiert“ dann auch wieder mit gewohnten Grad an offensichtlichen Falschaussagen („cancel culture existiert nicht“) und Verdachtshermeneutik („Lisa Eckhart macht antisemitische Witze“).

  57. @Ringsofsaturn: Aus Ihren 100.000 Zeichen Textwüste picke ich mir nur einen Aspekt heraus. Sie schreiben „Die Fakten liegen doch unmittelbar vor uns. […] Was hat der „Diskurs“ politisch gebracht? Fast nur immer mehr Paranoia. […] Harvey Weinstein fliegt auf und sofort sind 90% aller Frauen (mal wieder) Opfer sexuellen Mißbrauchs geworden, schwer traumatisiert und strukturell unterdrückt seit allen Ewigkeiten. „People of Color“ können sich angeblich kaum noch auf die Straße trauen, weil sie dort sofort umgebracht werden, und Ehefrauen wissen gar nicht mehr wohin, weil der Ehemann ihr größtes Risiko ist, getötet zu werden.“
    Sie schreiben, ‚die Fakten‘ könne ja jeder sehen, nennen dann aber keine. Sie schreiben stattdessen, dass ‚der Diskurs‘ bloß Paranoia erzeugen würde. Dann schreiben Sie polemisch über Sexualstraftaten und Tötungen. Und das nennen Sie dann einen konstruktiven Beitrag? Frauen haben sich Vergewaltigungen bloß ausgedacht, weil das nach Weinstein en vogue war? Wo genau haben Sie im Spiegel oder Guardian gefunden (nicht: gefühlt), dass PoC nicht mehr auf die Straße gehen vor Angst? Dass 82% aller Partnerschaftsgewaltopfer Frauen sind, ist auch bloß Paranoia des Diskurses (https://www.deutschlandfunk.de/gewalt-in-deutschland-jeden-tag-versucht-ein-mann-seine.2852.de.html?dram:article_id=433613)?

  58. @Saturn
    Hab jetzt auch nicht alles gelesen, weil da inhaltlich nicht ganz so viel stand, wie wahrscheinlich gedacht.

    Daher auch nur nen Schnipsel:
    „Ich behaupte nicht, daß „struktureller“ oder „institutionalisierter“ Rassismus nicht existieren (können), sondern daß diese inzwischen mit einer Häufigkeit und emotional aufgeladenen Intensität „entdeckt“ werden, die an ein Suchtverhalten grenzt. “
    Wo soll das in der Realität der Fall sein?
    Es wird vieles angesprochen, aber eben jeweils von der betroffenen Gruppe, weil die endlich mal handeln will und merkt, jetzt kann man handeln. Da sucht nicht eine Gruppe aus dem linken Spektrum nach neuen Skandalen (wie nach einem Suchtmittel), sondern einzelne betroffene Gruppen, oft eher aus dem linken Spektrum, merken, dass sie endlich mal handeln sollten. Und bekommen dann Unterstützung, auch eher aus dem linken Lager.

    Sie schreiben, handeln ist wichtiger als Meinung zu haben.
    Gerade bei den oben zitierten Themen ist es ja gerade Handlung, etwas dagegen zu sagen, was ewig einfach hingenommen wurde. Das ist nun mal der erste Schritt des Handelns.
    Bei Ihnen lese ich eher Meinung, die dann auch noch irgendwie nicht begründet wird.
    Sorry.

  59. @62 Mr RE

    „Aus Ihren 100.000 Zeichen Textwüste“

    Kein guter Anfang für jemanden, der mir später „Polemik“ vorwirft. Zumal ich nirgends polemisch war.

    „Sie schreiben, ‚die Fakten‘ könne ja jeder sehen, nennen dann aber keine. Sie schreiben stattdessen, dass ‚der Diskurs‘ bloß Paranoia erzeugen würde.“

    Wieso „stattdessen“? Was ist das für eine absurde Rhetorik? Erwarten Sie hier ernsthaft, daß ich einen Negativbeweis antrete? Wenn Sie meinen, daß der „Diskurs“ soviel erreicht hat, was ich eben bezweifle, dann müssen natürlich _Sie_ sagen, worin diese Errungenschaften denn bestehen.

    „Dann schreiben Sie polemisch über Sexualstraftaten und Tötungen.“

    Nein, ich schreibe (völlig unpolemisch) über paranoide Überhöhungen in der _Darstellung_ solcher Probleme.

    „Und das nennen Sie dann einen konstruktiven Beitrag?“

    Ich habe meine Ansichten über die „konstruktiven Beiträge“ von linksprogressiven Ideologen dargelegt. Und sie nach 35 Jahren Erfahrung mit dem immer gleichen „wir müssen das Bewußtsein ändern“ Gerede als wenig konstruktiv befunden.

    „Frauen haben sich Vergewaltigungen bloß ausgedacht, weil das nach Weinstein en vogue war?“

    Es werden sich ständig Sexualstraftaten ausgedacht. Die Frage ist, wieviele? Das weiß keiner, die Schätzungen liegen zwischen 2 und 80%, je nach dem, wen man fragt. Es gibt aber seit Jahrzehnten einen ideologischen Grabenkrieg, der keinem weiterhilft, schon gar nicht den tatsächlichen Opfern von Sexualstraftaten. Darauf bezog sich meine Kritik. Sexualstraftaten nehmen seit den 70ern stetig und deutlich ab. Daher mussten radikalfeministische Ideologien der Begriff „Sexualstraftat“ immer weiter ausdehnen, um die Beschwerde einer (wie es jetzt heißt) „rape culture“ aufrechtzuerhalten. Der „Diskurs“ ist inzwischen so weit, daß bereits unerwünschte Blicke als „Gewalt“ gelten, oder noch besser, „der männliche Blick an sich“ („male gaze“). Im echten Leben ist davon relativ wenig angekommen, aber es ging ja um den Wert des „Diskurses“. Der zieht sich auf immer kleinere, radikale Gruppen zurück. Spiegel und Guardian aber erwecken den Anschein (durch die Vielzahl der Kolumnen zu diesen Themen allein), als handle es sich um wichtige Probleme unserer Zeit. Ebenso wie BLM gern so tut, als ob weiße Polizisten die Nummer eins auf der Liste der gewaltsamen Todesursachen schwarzer US Bürger wären.

    Wenn Wellen wie #metoo oder BLM in größerem Rahmen anlaufen, hat die Opferkultur immer Hochkonjunktur. Das ist aber nicht mein Kritikpunkt. Der ist, daß Trittbrettfahrern und Ausbeutern der „grievance culture“ inzwischen ein Raum im „Diskurs“ der Mainstream Presse eingeräumt wird, der jedes vernünftige Maß übersteigt. Was man z.B. an ewig wiederholten Sätzen wie „man muß den Opfern glauben“ sieht. Logisch und inhaltlich widersprüchlich und nutzlos, aber sehr brauchbar für alle, die meinen, nicht bekommen zu haben, was sie glauben zu verdienen. Immer mehr dieser Gestalten bevölkern nun auch die Redaktionen von einst wichtigen Nachrichtenmagazinen und Zeitungen.

    „Wo genau haben Sie im Spiegel oder Guardian gefunden (nicht: gefühlt), dass PoC nicht mehr auf die Straße gehen vor Angst?“

    Solches Zeug wird dort seit Jahren geschrieben, wenn nicht explizit, dann wird es impliziert. Natürlich wird es (meist) nicht direkt faktisch behauptet, denn es stimmt ja nicht. Was geschrieben wird, sind wir-gegen-die Jammer- und Anklageschriften, in denen die „Opfer“ unter einer unendlich erdrückenden Last leiden, die die „Täter“ schon durch ihre bloße Existenz erzeugen. Jede Ungleichheit wird in einem Automatismus zu einer Ungerechtigkeit erklärt, ohne nach Ursachen zu fragen. (Standardbeispiel Gender Pay Gap, von Spiegel und Guardian auch nach 50 Jahren unwiderlegbarer Kritik ungebrochen weiter propagiert.)

    Im Guardian ist praktisch jeder „Opinion“ Beitrag „woke“. Im Spiegel sind es ca. 3 von 4. Oft sind es Stimmungskolumnen, die einzelne, besonders brutale Fälle von Gewalt oder Ungerechtigkeit als repräsentativ für die Gesellschaft behandeln. Die werden dann mit spürbarer Lust am Grauen so emotional wie möglich aufgezogen. Der einzige, der das (im Spiegel) noch regelmäßig kritisiert, ist Thomas Fischer.

    „Dass 82% aller Partnerschaftsgewaltopfer Frauen sind, ist auch bloß Paranoia des Diskurses“

    Ein perfektes Beispiel für Paranoia. 82% OMG. 82% von _wieviel_? Schon allein, daß Sie keine absolute Zahl nennen, zeigt, wie beeinflussbar Menschen mit simpelsten Tricks sind.

    Aus dem DLF Link:
    „Jeden Tag versucht ein Mann, seine Frau zu töten.“

    Und Sie fragen mich, wo die Paranoia zu finden ist?

    Weiter:
    „Das ist für ein modernes Land wie Deutschland eine unvorstellbare Größenordnung“, sagte Giffey in Berlin.

    Nein, ist es nicht. Giffey produziert kindliche Irrationalität. Es werden in Deutschland jedes Jahr ca. 400 Menschen ermordet. Jeder einzelne Fall ist natürlich eine Katastrophe für alle Betroffenen. Es folgt aber nicht, daß Deutschland ein „Land der Mörder“ ist, denn wir sind 80 Millionen und damit eines der sichersten Länder der Welt. Dieses Durcheinanderwerfen von Perspektiven ist eines der Probleme, die mich zur 100.000 Zeichen Textwüste veranlasst haben. (Und nun können Sie sich gleich über die nächste beschweren.) Es ist leicht, wie in Ihrem Fall geschehen, in wenigen Zeilen mehr Unsinn zu produzieren, als man in mehreren Buchkapiteln klarstellen kann. Unehrliche Rhetoriker sind insofern immer klar im Vorteil.

  60. @63 Micha

    „Hab jetzt auch nicht alles gelesen, weil da inhaltlich nicht ganz so viel stand, wie wahrscheinlich gedacht.“

    Woher wissen Sie das, wenn Sie nicht alles gelesen haben? Vielleicht haben Sie auch einfach nicht ganz so viel verstanden wie gehofft.

    [Suchthaftes Entdecken von strukturellem Rassismus]
    „Wo soll das in der Realität der Fall sein?“

    So ziemlich überall, wo linksprogressiv geschrieben wird. Zuletzt waren es angebliche Nazi „Netzwerke“ in der Polizei und der Bundeswehr. Null Beweise, aber überall herbeigeredet. („Ich kann mit das sehr gut vorstellen.“; „Da gab es doch einen Fall in [irgendwo in D]“; „Beweis mir das Gegenteil!“)

    „Es wird vieles angesprochen, aber eben jeweils von der betroffenen Gruppe, weil die endlich mal handeln will und merkt, jetzt kann man handeln.“

    Schön wär’s ja. Aber wo soll das in der Realität der Fall sein? Daß _nicht_ gehandelt wird (und dies aufgrund von Fehleinschätzungen der Realität auch gar nicht möglich ist), ist ja gerade meine Behauptung.

    „Da sucht nicht eine Gruppe aus dem linken Spektrum nach neuen Skandalen (wie nach einem Suchtmittel), sondern einzelne betroffene Gruppen, oft eher aus dem linken Spektrum, merken, dass sie endlich mal handeln sollten. Und bekommen dann Unterstützung, auch eher aus dem linken Lager.“

    Diese „Unterstützung“ ist eine rein verbale. Die einzigen Handlungen, die da vollzogen werden, sind Sprachhandlungen.

    Das war schon Mitte der 80er das Problem der Grünen. Realos wollten handeln, Fundis wollten reden, bzw. alles, was nicht „perfekt“ für sie war, ablehnen. Joschka Fischer hat die Grünen damals vor dem Untergang durch Zersplitterung gerettet, indem er sich mit seinen Realos ohne die Fundis getroffen hat. Ich war nie besonders begeistert von Joschka Fischer, aber das war Politik, das muß man ihm lassen. Grüne Fundis sind nie zu irgendwas konkretem gekommen. Und heute gibt es in der linken/grünen Politik nicht mal mehr einen J. Fischer, sondern nur noch reine Faselköpfe, wie auch im „Aktivismus“ (der nie aktiv wird). Politik von links ist zum endlosen Jammeraktivismus verkommen. (Ausnahme könnte Wagenknecht sein, wenn die nicht _alle_ hassen würden.)

    Einziger Lichtblick, wenn auch nicht von links: Merkel. Sehr solide und in der Lage, zu handeln, was sie auch tut (aber nicht die CDU als Ganzes, wenn auch aus anderen Gründen als die Linken). Es gibt woanders noch ein paar weitere, z.B. Lauterbach, aber solche Leute landen immer schnell im Abseits, gerade weil sie was tun wollen und nicht den „Diskurs“ als einziges politisches „Ziel“ haben. SPD und Grüne sind insgesamt programmatisch tot, was extrem bedauerlich ist.

    Die Identitätspolitik des linken Spektrums zertrümmert die Möglichkeit für linke Politik seit Jahrzehnten und macht indirekt (durch Vertrauensverluste) Raum für die Identitätspolitik der Rechtsextremen. Es gibt seit spätestens dem Ende der 80er keinen nennenswerten politischen Fortschritt, den SPD oder Grüne erreicht haben. Fragen Sie sich mal selber, was ist Gutes passiert, das klar auf linke Politik zurückgeht, in den letzten 30 Jahren? Die Agenda 2010 ist es jedenfalls nicht.

    „Sie schreiben, handeln ist wichtiger als Meinung zu haben.
    Gerade bei den oben zitierten Themen ist es ja gerade Handlung, etwas dagegen zu sagen, was ewig einfach hingenommen wurde. Das ist nun mal der erste Schritt des Handelns.“

    Das ist richtig, aber es bleibt dann eben immer bei diesem ersten Schritt. Und dann heißt es, „gut, daß wir drüber geredet haben“ und NICHTS passiert. Und dann geht es wieder von vorn los, mit neuen „ersten Schritten“. Mein Bruder hat nach 10 Jahren die UNESCO verlassen, weil es dort genauso läuft. Ich habe mich in den 90ern vom Aktivismus getrennt und mich von „direkter“ Politik abgewendet, weil Meinungsabtausch mit Meinungsfreudigen zu 95% Zeitverschwendung ist. Ich mache seit damals lieber gemeinnützige Arbeit, da sehe ich auch mal Ergebnisse. Und raten Sie mal, wieviele Stokowskis, Ouassils oder andere Töchter aus gutem Hause regelmäßig im Containerdorf für syrische Flüchtlinge zum Helfen aufkreuzen. Keine einzige. Denn die treffen sich nur untereinander, um sich auszudenken, was alles wieder ungerecht ist und wie schlecht es ihnen deswegen geht. Als nie endende Therapie für die eigene gequälte Seele in der richtungslosen Moderne. Daß es angeblich um andere, „Unterdrückte“, dabei gehen soll, ist pure Fassade.

    „Bei Ihnen lese ich eher Meinung, die dann auch noch irgendwie nicht begründet wird. Sorry.“

    Da brauchen Sie nicht sorry zu sein. Ich habe von meinen Erfahrungen berichtet. Wenn Sie mal 35 Jahre lang Nichtstun beobachtet haben, was ich Ihnen nicht wünsche, werden Sie anders denken. Oder auch nicht, und Sie werden ebenfalls ein Dauermeiner. Was ich Ihnen ebenfalls nicht wünsche.

    Begründet habe ich übrigens durchaus, z.B. 1) warum der unreflektierte Gebrauch von „Struktur“ die „Diskurse“ sabotiert, 2) daß die Paranoia der Moderne u.a. eine Folge der Unsicherheit ist, die die Spätaufklärung durch der Trennung von Kirche und Staat hinterlassen hat, und 3) daß man den Begriff „Fakt“ sprachphilosophisch analysieren kann/muß, um grundlegende Verwirrungen in Diskussionen wie etwa über Rassismus zu vermeiden.

    Das alles gehört aber wohl zu dem, was Sie nicht gelesen haben. Ist ja auch anstrengend. Meinung soll lieber kurz und knackig sein, damit man schnell zum angenehmen Teil des Abends kommen kann. Schnell einen „Ungerechtigkeit ist doof, und ich bin total dagegen“ Spruch rausdrücken, mit „wissenschaftlichem“ Link als Beweis (weil: fühlt sich schlau an), und dann ist man aber so was von weg in die Kneipe. Auch daran hat sich in 35 Jahren nichts geändert.

  61. @ringsofsaturn:
    Ich habe Ihre Beiträge nun teils mehrfach gelesen.
    Ich will da nicht so viel Zeit investieren, auf jedes Detail zu antworten.
    Das hat vor allem den Grund, dass sich die Antworten sehr ähneln würden, weil sich eben Ihre Thesen auch immer Wiederholen.

    Ja, Thesen. Die allermeisten Behauptung von Ihnen basieren auf „meine Erfahrung mit X in den letzten X Jahren“. Das ist bestenfalls anekdotisch, schlechtestenfalls kommt es verbittert rüber.
    Das finde ich schade, weil ich viele Dinge erkenne, die mich überzeugen könnten, wenn sie denn nicht ausschließlich anekdotisch begründet würden.

    Ich sage es mal so: Viele Ihrer Thesen halte ich für so komplex, dass sie m. E. akademisch untersucht werden müssten, um daraus (nicht-anekdotische) Feststellungen zu machen.
    Sowas z. B.:
    „Die Identitätspolitik des linken Spektrums zertrümmert die Möglichkeit für linke Politik seit Jahrzehnten und macht indirekt (durch Vertrauensverluste) Raum für die Identitätspolitik der Rechtsextremen.“
    Puh. Um zu so einer Feststellung zu gelangen schreiben Einige sicher soziologiesche Doktorarbeiten.

    Ich glaube es würde Ihnen gut zu Gesicht stehen, öfter mal zu erwähnen, dass es um Ihre Meinung geht, nicht um absolute Wahrheiten, wie es die Ihre Formulierung hergibt.
    Andererseits formulieren Sie „ebenfalls ein Dauermeiner werden“ und beziehen das ebenfalls wohl auf sich.
    Ich hoffe Sie verstehen, dass das beim Empfänger anders ankommen kann, als Sie es womöglich gemeint haben.

  62. @Saturn
    Ich gebe Ihnen Recht, dass viel zu oft nur geredet wird, anstatt dann zu handeln.
    Aber Ihre tatsächlich heraus zu lesende Verbitterung vertrübt Ihnen doch sehr den Blick.
    Bei den aktuellen Geschichten sind wir gerade erst dabei, bestimmte Strukturen zu benennen. Das geschieht durch Öffentlichmachung, gemeinhin durch Reden. Und auch das drüber reden hat schon einen Effekt. Wie wir heute sehen können, wenn wir die Gesellschaft heute mit der vor 35 Jahren vergleichen. Ich hab als Kind auch ml Kümmeltürke gesagt, weil das alle getan haben und außer den türkischen Mitschülern niemand schlimm fand. Ich fand es als Teenager auch cool, wie einer aus dem Jahrgang über uns Mädels an die Brust gefasst hat. Ja, das war auch damals nicht erlaubt, aber man hat so darüber geredet, dass es unter den Jungs Anerkennung gab.
    Meine Mum war auch mal überfordert und ich habe ne Backpfeife bekommen. Wurde damals drüber geredet, dann war das schon ok.
    In rechten Kreisen ist das auch heute noch ok.

    Soll heißen, selbst nur über Themen zu reden ist schon ein guter Schritt nach vorne. Und auf jeden Fall mehr Handeln, als sich über das ewige Gerede aufzuregen und sich drin selbst zu gefallen.

  63. @66 Anderer Max

    „Ja, Thesen. Die allermeisten Behauptung von Ihnen basieren auf „meine Erfahrung mit X in den letzten X Jahren“. Das ist bestenfalls anekdotisch“

    Das kann doch jetzt keine Überraschung sein. In Kommentarbereiche stellt man Thesen ein, dazu sind sie da. Sie hatten z.B. einen Link auf eine Wikipedia Seite über strukturellen Rassismus gepostet, auf der der Begriff _definiert_ wird. Als „Beweis“, daß struktureller Rassismus _existiert_. Alle reden darüber, also wird/muß es das geben.

    Niemand hat logisch oder naturwissenschaftlich-empirisch „präzise“ Beweise für kulturelle oder gesellschaftliche Themen, und das weiß letztlich auch jeder. Es wird nur immer wieder einseitig vom „Gegner“ verlangt, wenn man rhetorisch punkten will.

    „schlechtestenfalls kommt es verbittert rüber“

    Das wäre natürlich bedauerlich!

    „Das finde ich schade, weil ich viele Dinge erkenne, die mich überzeugen könnten, wenn sie denn nicht ausschließlich anekdotisch begründet würden.“

    Wie gesagt, es interessiert mich eher weniger, ob andere meiner Meinung sind, oder ob ich jemanden „überzeuge“. Überzeugen tut man sich besser selbst, durch Arbeit am jeweiligen Thema. Dazu gehört, gelegentlich mal ein anderes paar Augen auf die eigenen Ansichten werfen zu lassen, um der Gefahr entgegenzuwirken, daß man sich verrennt.

    Es gibt diese Tendenz, nach einer „OMG, was soll ich denn nun glauben“ Anlaufstelle zu suchen oder rufen. Das Bedürfnis nach einem geordneten Weltbild mit klaren Trennlinien, insbesondere zwischen gut und böse, das sich in Foren wie diesem immer wieder findet, ist Ausdruck genau dessen, worüber ich geschrieben habe, nämlich der Suche nach Richtung und Orientierung in der Moderne. Darüber wird meiner Ansicht nach viel zu wenig nachgedacht. Stattdessen immer wieder dieselben öden Moraldebatten, in denen man sich gegenseitig seinen Edelmut bestätigt und Feindbilder konstruiert.

    „Ich sage es mal so: Viele Ihrer Thesen halte ich für so komplex, dass sie m. E. akademisch untersucht werden müssten, um daraus (nicht-anekdotische) Feststellungen zu machen.“

    Das ist absolut(!) richtig.

    ‚„Die Identitätspolitik des linken Spektrums zertrümmert die Möglichkeit für linke Politik seit Jahrzehnten und macht indirekt (durch Vertrauensverluste) Raum für die Identitätspolitik der Rechtsextremen.“
    Puh. Um zu so einer Feststellung zu gelangen schreiben Einige sicher soziologiesche Doktorarbeiten.‘

    Ja. Mein Bruder ist Soziologe, der macht sowas. Allerdings werden Sie auch in der Soziologie praktisch immer nur Thesen finden. Weil man keine Experimente mit Testgesellschaften im Reagenzglas machen kann. Die Chinesen arbeiten dran, aber es gibt noch keine Publikationen.

    In jeder Wissenschaft gibt es Erwartungshaltungen, die man handhaben muß. Das hat z.B. Niklas Luhmann (auch so ein Thesenwiederholer) immer wieder betont. Es ist fast wie im richtigen Leben. Ein Physiker hat andere Erwartungshaltungen an seine Forschung als ein Soziologe und das kann auch gar nicht anders sein. Nun „von außen“ dieselben Erwartungshaltungen (bzgl. „Beweiskraft“) an die Physik wie an die Soziologie zu stellen, wäre daher sinnlos. Es gibt Naturwissenschaftsfans, die die Geisteswissenschaften meinen verlachen zu können, weil sie deren Geltungsbereiche nicht verstehen (wollen). Gleichzeitig kennt man die Geltungsbereiche der Naturwissenschaften nicht, oder meint, diese seien beliebig groß. Solche Leute nennen sich dann gern noch „rational“. Menschen wollen Sicherheit. Die gibt’s aber oft entweder gar nicht oder nur auf Raten. Erneut sind wir beim Stichwort „mit Unsicherheiten leben können“.

    „Ich glaube es würde Ihnen gut zu Gesicht stehen, öfter mal zu erwähnen, dass es um Ihre Meinung geht, nicht um absolute Wahrheiten, wie es die Ihre Formulierung hergibt.“

    Ich habe das vor vielen Jahren tatsächlich noch getan, aber irgendwann gemerkt, daß es keinen Unterschied macht. Es gibt Leser, die sich von Texten anderer zu eigenen Gedanken inspirieren lassen und _inhaltlich_ antworten, und es gibt die, die sich abgrenzen oder bestätigen lassen wollen und hauptsächlich mit _Gefühlen_ reagieren. Ich schreibe für erstere, und die brauchen kein „Ich denke, daß …“ Präfix vor jedem Absatz. Beim Gefühlsleser dagegen hilft auch ein solches Präfix nicht weiter. Gefühle kann man nicht wegargumentieren oder durch kleine verbale Plüschpuffer beschwichtigen.

    Wer also meint, ich wolle „absolute Wahrheiten“ verkünden, der hat das Problem zwischen den eigenen Ohren.

    „Andererseits formulieren Sie „ebenfalls ein Dauermeiner werden“ und beziehen das ebenfalls wohl auf sich.“

    Sie überschätzen meine Bescheidenheit. Mit „Dauermeinern“ waren Leute gemeint, die außer Meinungen nichts haben, d.h. einen Erfahrungshintergrund, der praktisch nur aus Texten besteht. Die sagen dann zwar auch mal was richtiges, wie sprechende Puppen, aber es ist nichts wert, weil alles nur auswendig gelernt ist.

    „Ich hoffe Sie verstehen, dass das beim Empfänger anders ankommen kann, als Sie es womöglich gemeint haben.“

    Das ist eine Erfahrung, die ich in 35 Jahren durchaus gemacht habe. (Sie ahnten es.) Die Schwelle des sich-angegriffen-fühlens ist deutlich niedriger geworden. Bei Teenagern verstehe ich das noch, bei Erwachsenen kann ich dazu nur sagen, arbeitet an eurer Souveränität. Mir wurde auch schon gesagt, ich würde durch meinen Tonfall andere bewusst einschüchtern wollen, oder, mein Lieblingszitat, ich würde „aus dem Adlerhorst des Herrschaftswissens“ heraus argumentieren. Dazu kann ich nur sagen: Geht in die nächste Unibibliothek, Herrschaftswissen gibt es nicht mehr. Und wenn ich mich schon zum Horst mache, kann ich mich ja genausogut gleich zum Adlerhorst machen. (Geheimtip: So steht man auch seinen ersten Vortrag vor Publikum durch.)

    Sogar ich verstehe andere gelegentlich falsch. Wer mich kennt, sagt nun „Du doch nicht, das kann doch unmöglich sein!“
    Es ist aber so. Für diesen (natürlich extrem seltenen) Fall gibt es dann das übermächtige Sprachwerkzeug der (Rück-)Frage, „Wie meinst du das?“

    Früher, als der Himmel noch blau und das Gras noch grün war, wurde das größtenteils als Interesse am Thema verstanden, heute oft schon als Vorwurf, man würde unterstellen, daß sich der Gegenüber nicht präzise ausgedrückt habe, oder daß man ihn gar (als Person) abwerten würde. Ein wachsendes Problem der letzten 20 Jahre sind die vielen permanent Erniedrigten und Beleidigten. Deswegen gibt es ja Triggerwarnungen, safe spaces, usw. Ängste und Depressionen haben stark zugenommen, nicht zuletzt durch social media und die Omnipräsenz digitaler Medien. Im Rahmen der Unsicherheiten der Moderne wirken diese Faktoren stark transformierend, insbesondere auf menschliche Reifeprozesse. An seinem Reifeprozeß muß jeder selbst arbeiten. Wenn man Glück hat, findet man ab und zu ein paar Leute, mit denen man das gemeinsam tun kann.

    „Ich habe Ihre Beiträge nun teils mehrfach gelesen.“

    Und das ist kein Zufall.

  64. @67 Micha

    „Ich gebe Ihnen Recht, dass viel zu oft nur geredet wird, anstatt dann zu handeln.
    Aber Ihre tatsächlich heraus zu lesende Verbitterung vertrübt Ihnen doch sehr den Blick.“

    Sie lesen etwas zuviel in meinen Schreibstil hinein, ich bin nicht verbittert. Ich bin persönlich von den meisten Problemen unsere Zeit gar nicht allzu stark betroffen und werde es aller Wahrscheinlichkeit auch nicht mehr sein, dafür bin ich mit 52 zu alt. Ich habe ein besseres Leben gehabt als die allermeisten, die auf diesem Planeten jemals herumgekrochen sind.

    Verbitterung, Verzweiflung, Angst und Hilflosigkeit sind aber in der Tat große Themen unserer Zeit, mit denen, wie ich finde, nur selten auf sinnvolle Art umgegangen wird. Es gab nach dem kalten Krieg mal ein paar Jahre, da sah es so aus, als könne sich das ändern. Es lag ein gewisser Enthusiasmus in der Luft, sowas wie Freude auf die Zukunft. Das sehe ich heute nur noch selten. Vielleicht habe ich damals auch einfach nur zuviel Star Trek geschaut.

    Sie verstehen vor diesem Hintergrund vielleicht, warum ich es traurig finde, wie sich politische Kräfte des linken Spektrums, die dringend gebraucht würden, immer wieder selbst neutralisieren. Ich habe für mich selbst nie großes Interesse an Parteizugehörigkeiten gehabt, seien es politische oder andere. Die meisten Menschen brauchen aber eine Religion, eine Ideologie, ein Lager, eine Seite, an die sie sich klammern und auf die sich moralisch schlagen können, und dieses Phänomen war schon immer sowohl eine der größten Antriebsfedern der Menschheit, wie auch Quelle von gewaltigen Problemen. Das Stichwort hier ist „Hoffnung“. An falschen Hoffnungen geht vieles zugrunde. So auch die Linken. Aufgabe von Politik ist es unter anderem, Leute weniger abhängig von Hoffnung zu machen, und ihnen dadurch, paradoxerweise, Hoffnung zu geben in Form von Fähigkeiten zur Eigenständigkeit.

    „Bei den aktuellen Geschichten sind wir gerade erst dabei, bestimmte Strukturen zu benennen.“

    Mit „aktuelle Geschichten“ meinen Sie was genau? Wahrscheinlich social justice Probleme, die u.a. auf social media Plattformen verhandelt werden. Tun Sie sich mal den Gefallen und schreiben Sie auf, was eine von diesen „Strukturen“ ist, über die Sie reden. Wo haben Sie die Redeweise her? Was ist „Struktur“, und wo und wie weisen Sie (oder andere) diese nach? Jenseits einer langen Liste von Anekdoten über Ungerechtigkeiten, die Sie irgendwo gehört oder gelesen haben, was haben Sie dann vorzuweisen? Worauf _mehr_ verweist der „Struktur“-Jargon als auf die Liste von Anekdoten?

    Ich behaupte, „Struktur“ ist eine Wohlfühlvokabel, die zu 99% verwendet wird, um Wissen zu simulieren, das gar nicht vorhanden ist.

    Wie komme ich darauf? „Struktur“ ist ein FORMbegriff. Einfaches Beispiel: In der Wüste ist alles voll mit Sand. Der Sand _ist_ aber nicht die Struktur der Wüste, sondern macht Struktur _möglich_, etwa in der _Form_ von Dünen.

    Über „Struktur“, z.B. bei der Polizei, können wir reden etwa bei polizeilichen Dienstvorschriften, die das Verhalten der Beamten regeln (formen). Eine Dienstvorschrift, die besagt, „Kontrolliere immer nur Menschen mit Migrationshintergrund“ wäre eine strukturelle Diskriminierung.

    Diese Art von Diskriminierung ist aber bei der Polizei bislang nirgends gefunden worden. Deswegen musste man sie herbeireden mit einem Endlosschwall von Verwendungen des Wortes „Struktur“. Irgendwann hört man dies dann so oft, daß man dem Begriff eine Bedeutung beimisst, die er gar nicht hat. Das ist dann die berüchtigte Filterblase, Indoktrination, oder wie man das auch nennen will.

    Strukturdebatten sind nur sinnvoll, wenn man Strukturen klar benennen kann. Ansonsten befördern sie paranoides, verschwörungstheoretisches Denken, weil man sich die Strukturen dann einreden muß als unsichtbar kontrollierende Fäden im Hintergrund.

    Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Begriff des „Patriarchats“. Es gibt keinen Zweifel darüber, daß Männer in vielen gesellschaftlichen Bereichen dominant gegenüber Frauen vertreten sind. Daß diese Ungleichverteilungen aber Resultate „gesellschaftlicher Strukturen“ sind, die „tief verwurzelt“ (die nächste Jargon Vokabel) in der Gesellschaft verankert sind und aus dieser Tiefe (it’s gruseltime) sich gar bis ins Privateste auswirken (am besten noch _unbewußt_, damit sich der superschlaue Sozialjustizler noch schlauer und woker fühlen kann), ist einfach Unsinn. Es gibt für die besagten Ungleichverteilungen wesentlich bessere Erklärungen, z.B. aus der Biologie und der Soziologie, die ohne Männerverschwörungsstruktur auskommen. Die Resultate _dieser_ Ursachen sind dann tatsächlich (mit-)strukturiert durch sie. Die Kausalität läuft also genau anders herum: Nicht „patriarchale Struktur“ erzeugt die m/f Verteilung, sondern die Verteilungsstruktur _wird_ erzeugt durch biologische und gesellschaftliche Faktoren, darunter auch bereits bestehende Verteilungen (man hat dann Wirkungskreisläufe). Man kann die Verteilungen dann immer noch ungerecht oder „falsch“ finden, das ist aber eine andere Frage.

    Die Vertreter von Patriarchatstheorien glauben ihre eigene Theorie dann auch plötzlich selbst nicht mehr, sobald man sie auf Bereiche anwendet, in denen Frauen dominieren. Dort ist es dann natürlich so, daß sich heldenhafte Frauen ihre Plätze „erkämpft“ haben, etwa das Wahlrecht. (Tatsächlich wurde das allgemeine Wahlrecht für Frauen nicht von Frauen, sondern von Sozialdemokraten erstritten.) Solche Asymmetrien in der Argumentation sind typisch für ideologische und vor allem paranoides Denken.

    Und so geht es munter weiter in den Kaninchenbau. Man macht sich über die dummen Flacherdler und 9/11 Spinner lustig und merkt nicht, daß man selbst kein Stück besser ist. Es fehlt an Bildung und intellektueller Integrität. Dadurch wird das viele Reden mehr zum Problem als zur Lösung.

    „Das geschieht durch Öffentlichmachung, gemeinhin durch Reden. Und auch das drüber reden hat schon einen Effekt.“

    Ich weiß, daß Sie das glauben (möchten), ich nehme es jungen Leuten auch nicht übel. Es hat aber nichts mit der Realität zu tun. Es ist auch nichts neu daran. Das alles habe ich wortwörtlich (und ich meine „wortwörtlich“ wortwörtlich) auch schon 1985 gehört. Und es ist nicht viel daraus geworden. Umweltzerstörung, atomares Wettrüsten, Wachstums-, Wirtschafts-, und Konsumwahn, alle großen Probleme unserer Zeit sind heute eher noch größer als je zuvor.

    Öffentlichmachung, „Aufdecken“, etc. sind wie Rockmusik. Als es neu war, haben noch alle hingesehen/gehört, jetzt ist es Mainstream. Tagesgeschäft, das in die Medien und die Wirtschaft integriert wurde. Selbst Enthüllungen wie die von Edward Snowden bewirken wenig bis gar nichts. Ja, es wurde/wird viel geredet. Und wie sieht es heute aus mit Überwachung, Transparenz, Privatsphäre im Internet? Kein Stück besser. Wir haben uns dran gewöhnt, wie damals an die Atomwaffen. Über die haben wir auch ohne Ende geredet.

    Natürlich hat Reden einen Effekt, Sprache ist das Werkzeug, das den Menschen zur dominanten Spezies des Planeten macht. Öffentlichmachung hat ebenfalls Effekte, und wie wir auf Social Media Plattformen und anderen digitalen Medien sehen, oft auch sehr negative. Sprache ist wie jedes Werkzeug, man muß damit umgehen können, sonst wird es gefährlich.

    Was fehlt, um dem Reden einen positiven Effekt zu geben, ist Bildung. Damit die Enthüllungen von Snowden für den einzelnen Bürger nutzbar werden können, muß dieser sich auskennen mit gewissen technischen Details, etwa wie Datentransfer im Netz funktioniert, oder ein Browser bzw. Webseiten. Für den informierten und selbstbestimmten Umgang mit IT haben wir in der Bildungslandschaft aber keinen Platz geschaffen, außer natürlich für die Fachleute.

    Das Snowden Beispiel ist aktuell, aber das Prinzip ist immer dasselbe. Da unterscheidet sich 2020 nicht von 1985. Wenn man sich damit beschäftigte, wusste man auch damals bereits, daß der Klimawandel kommen würde. Ganz ohne Internet und FFF. Leider wurde die Bildung seit dem Ende der 70er immer mehr einer „pragmatischen“ Orientierung unterzogen und zum Durchlauferhitzer für das Berufsleben umkonzipiert. Das Denken wurde weitgehend mechanisiert, was ein weiterer Hauptgrund für die gegenwärtige Malaise der Moderne ist. Menschen, die wie Automaten funktionieren sollen, werden damit nicht glücklich. Dagegen helfen auch keine Konsum- und Spaßorgien.

    „Wie wir heute sehen können, wenn wir die Gesellschaft heute mit der vor 35 Jahren vergleichen.“

    Können Sie das? Wie alt sind Sie denn? Es hört sich an, als würden Sie die Welt von damals nur aus Geschichten kennen. Ich erlebe das gelegentlich, daß die Gerechtigkeitskämpfer von heute überhaupt nichts über die 70er, 80er oder gar 90er wissen, aber meinen, 2020 wäre „aufgeklärter“.

    Was tatsächlich passiert ist, ist eine Beschleunigung. Man wird heute immer früher mit immer mehr konfrontiert. Das führt aber nur selten dazu, daß Leute schneller erwachsen werden. In den meisten Fällen stellt sich eine Überforderung ein, die zu einem Zurückziehen ins Schneckenhaus führt. So erklärt sich die extreme Neurotizität vieler junger Leute bis ins Erwachsenenalter. Man sieht 35-45jährige, die sich wie Teenager benehmen. Weil sie emotional und intellektuell immer noch welche sind.

    Überforderung produziert ein Verlangen nach Sicherheit, die nun viele hoffen im Netz in ihren Meinungsblasen und virtuellen „Communities“ finden zu können. Die digitale Welt bietet fantastische Möglichkeiten, aber als Hauptaufenthaltsraum – als Ersatz statt als Ergänzung – ist sie für die menschliche Lebensform nicht geeignet.

    „Ich hab als Kind auch mal Kümmeltürke gesagt, weil das alle getan haben und außer den türkischen Mitschülern niemand schlimm fand. Ich fand es als Teenager auch cool, wie einer aus dem Jahrgang über uns Mädels an die Brust gefasst hat.“

    Ich fand sowas und vieles mehr schon als Kind in den 70ern abstoßend. Ich war „sprachsensibel“ u.a. weil meine Mutter (die heute als „konservativ“ bezeichnet würde) mir noch vor der Schule Lesen und Schreiben beigebracht hat. Ich hatte sie darum gebeten, weil sie mir abends immer vorgelesen hat und ich das selber können wollte. Es liegt nicht nur an der Zeit, sondern daran, _wie_ man aufgewachsen ist.

    Die Art in der man aufwächst prägt sich als „das Normale“ ein, gegen das man dann später alles andere misst, so wie Temperaturen gegen die Null Grad Markierung auf einem Thermometer gemessen werden. Treffen zwei Menschen mit verschiedenen Hintergründen aufeinander, gibt es Reibungen, wenn man nicht weiß, wo für den jeweils anderen dessen Nullwert liegt. In dieser simplen Erkenntnis liegt tausendmal mehr Möglichkeit für ein besseres gemeinsames Zusammenleben als in sämtlichen Empathieheulkrämpfen, die irgendwelche Prediger des „Diversen“, der Quoten und der „Repräsentation“ absondern.

    „Ja, das war auch damals nicht erlaubt, aber man hat so darüber geredet, dass es unter den Jungs Anerkennung gab.“

    Das ist jetzt nicht so unbedingt die einschlagende soziopsychologische Erkenntnis, die neue Dimensionen des Denkens eröffnet. Es ist erneut weniger eine Frage der Zeit als des Milieus, also der gesellschaftlichen Schicht, in der man aufwächst.

    „Meine Mum war auch mal überfordert und ich habe ne Backpfeife bekommen. Wurde damals drüber geredet, dann war das schon ok.
    In rechten Kreisen ist das auch heute noch ok.“

    Über sowas muß ich immer lachen. Soll das heißen, daß „linke Kreise“ bzgl. körperlicher Züchtigungen heute „weiter“ sind als „rechte Kreise“? (Ich weiß nicht so ganz, was der zweite Satz genau heißen soll, der ist doppeldeutig.) Wenn ein Linker nun seine Kinder ohrfeigt, wird er dadurch zum Rechten? Zweimal „nein“ ist hier die Antwort, denn Sie malen mit Pinselstrichen, die so grob sind, daß außer identitätspolitischer Abgrenzung zu „rechts“ nichts dabei herauskommen kann. „Rechte Kreise“ ist eine Fantasieassoziation, die keiner Realität entspricht, genauso wie „linke Kreise“. Als wenn es „DEN/DIE Rechten“ oder „DEN/DIE Linken“ gäbe. Leute, die „Kümmeltürke“ sagen oder Ohrfeigen verteilen, finden Sie in jedem Kreis, wenn Sie nur suchen. Und Sie werden nicht lange suchen müssen.

    Der Sinn solcher Aussagen ist „Seht mal, das bin ich NICHT“. Man könnte einfach sagen, „Ich bin gegen körperliche Gewalt in der Erziehung“. Das ist eine Position, die den Sprecher charakterisiert, aber sonst niemanden. Mit einem „rechte Kreise“ Zusatz wird es zu einer Ideologie — einer Positionierung, die einen Feind mit ins Bild hineinkonstruiert, der als „rechts“ bezeichnet wird. Praktischerweise wird dieser Feind dann zum Kinderschläger und jede reale Figur, die „rechts“ genannt wird, ebenfalls – jedenfalls mindestens verdachtsweise. Man weiß ja, wie die sind, die Rechten. Nicht so wie ich!

    Das ist Identitätspolitik, und sie lähmt, weil sie ihre Hauptbeschäftigung im Kreisen um selbstdarstellerische Moral sucht. Kein Kind hat je auch nur eine Ohrfeige weniger dadurch bekommen.

    „Soll heißen, selbst nur über Themen zu reden ist schon ein guter Schritt nach vorne.“

    Das hatten wir doch schon. Es geht nicht darum, das Reden an sich schlechtzureden, sondern darum, daß nach dem ersten Schritt kein zweiter mehr kommt. „Man muß über alles reden“, „Gewalt ist keine Lösung“, das waren bereits zu meiner Zeit in den 80ern _die_ Leitsprüche, mit denen man unablässig konfrontiert wurde (und auch schon vorher, das nannte/nennt sich „anti-autoritäre Erziehung, kommt aus den 60ern). Dies _allein_ hatte aber nur den Effekt, daß wir uns darüber lustig gemacht haben, weil wir die unglaubliche Naivität in solchen Parolen schon als Teenager sofort sahen.

    Was nämlich nicht unterstützt wurde, war das Erlernen von _Verhalten_, d.h. von konkreten Fähigkeiten im Umgang mit anderen. „Sei mal nett“ ist keine hinreichende Anleitung zum Zurechtkommen mit den Komplexitäten menschlicher Interaktionen. Man kann sich natürlich darüber streiten, wieviel sich jeder junge Mensch selbst formen und wieviel „von außen“ kommen sollte.

    Zwei große Themen des Aufwachsens, Angst und Unsicherheit, brauchen als Gegenmittel _Fähigkeiten_ und _Kenntnisse_, darunter auch, aber eben nicht nur, sprachliche. Ohne Sprache ist alles nichts, aber Sprache allein ist nichts als Sprachlosigkeit mit vielen Worten. Da haben wir mal ein schönes Paradoxon.

    „Und auf jeden Fall mehr Handeln, als sich über das ewige Gerede aufzuregen und sich drin selbst zu gefallen.“

    Es wäre wirklich schön, wenn es so wäre. Ist es aber nicht. Das „ewige Gerede“ ist noch ewiger geworden, denn das Internet vergisst nichts. Aufregung und Selbstgefälligkeit (meist Ausdruck von Unsicherheit) hat absolute Hochkonjunktur und ebenso das Nichtstun aka Leben auf dem Smartphone aka Rumsitzen und ’ne Meinung haben.

    Gerade Linksprogressive gefallen sich in ihren pseudo-intellektuellen Theorien. Am deutlichsten sichtbar in den Gender“wissenschaften“. Man kann sich sicher mit Debatten über eingebildete Nazi Netzwerke in der Polizei oder dem jüngsten „Femizid“ oder antisemitischen Anschlag durch den Tag bringen, um die Sinnlosigkeit seiner Existenz ein bisschen auszublenden, in der Illusion, man könne sich sowas wie Sinn und Richtung in Lebens hineinmeinen oder durch „Haltung“ erkaufen. Aber Bullshit ist als Grundnahrungsmittel ungeeignet.

    So vergehen dann die Wochen, Monate, Jahre. Plötzlich ist man 30, 40, 50, die Zeit ist weg, und das schwarze Loch in der Seele wird immer größer.

    Ich weiß aus 10 Jahren Erfahrung mit Lehrtätigkeiten, die ich nebenbei immer mal gemacht habe, daß junge Leute auf Orientierung ansprechen wie verrückt. Denn die ist es, die sie von Familie, Schule und Internet-Ideologieblase nicht bekommen. 1985 und 2020 war/ist die Frage, über die wir NICHT reden bzw. geredet haben: „Was soll ich denn nun machen?“ Und wer die nicht beantworten kann, wird auch an der Frage „Wer bin ich?“ verzweifeln. Das ist dann die Quelle für Identitätspolitik, die das (eigene) _Machen_ ins _Fordern_ (an die „Gesellschaft“) verdreht und damit versucht, die eigenen Probleme und Unfertigkeiten anderen anzulasten.

    Wenn „links“ noch eine Chance haben soll, dann mit einem Bildungsansatz, der sich nicht um identitäres Lager- und Anspruchsdenken dreht. Es muß wieder eine Nachfrage nach Bildung geben, nicht nur nach Ausbildung. Nach Sinn, Verantwortung und gemeinschaftlichem Wohlwollen, nicht nach immer mehr Individualität, die zu nichts weiter als Isolation führt. Dann findet der Rest unseres Zusammenlebens hoffentlich neue Bahnen, die diesen Planet der Lackaffen vor dem abschmieren bewahren.

  65. Alles gut und schön, gerade das mit dem Reifeprozess kann ich durch meine persönliche Erfahrung bestätigen.
    Ich frage mich derzeit aber, wer das „verbockt“ hat.
    Es ist, mit Verlaub, ja die ältere Generation, die ihre Kinder erzogen hat, dass sie safe spaces brauchen – Im Sinne von „widerspruchsfreien Wohlfühloasen“ nicht im Sinne von Schutzräumen vor Übergriffen.
    Woran kann es denn liegen, dass z. B. Menschen sich persönlich angegriffen fühlen, weil ihnen Rückfragen gestellt werden? Das kommt ja nicht einfach so.
    Jetzt meine These: Das ist auch gar nicht immer so.
    Die Veränderung unserer Kommunikation mit dem Internet hat einfach nur dazu geführt, dass laute Menschen noch lauter werden. Der Ruf nach „safe spaces“ wird durch die einfachere Vernetzung der danach Rufenden einfach nur lauter. Die „schweigende Mehrheit“ schweigt einfach weiter, wie sie es immer schon tat.
    Abgesehen davon ist der Vorwurf, jemand sei ein Schneeflöckchen m. E. auch immer ein Stück weit Projektion und Teil eines Immunisierungsprozesses.

    Ich hatte hier noch einen langen Absatz über Generationenungerechtigkeit stehen, aber der passt nicht ganz zum Thema. Nur so viel zum Thema Rückfragen: Wer sich partout weigert, auch nur einfachste Zusammenhänge zu verstehen, weil er „dafür zu alt“ ist, der braucht sich nicht über unreife Jugendliche aufzuregen, die keine Lust haben, auf Rückfragen zu antworten. Aber es stimmt, der Jugendliche muss reifen und statt rumzuzicken einfach souverän mehr Gehalt verlangen.

    Das hat nun wenig mit „safe spaces“ zu tun – Macht aber die Problematik vielleicht klarer: Keine Generation muss so früh so viel leisten, wie die jetzige, die morgige, die übermorgige und wird gleichzeitig immer schlechter bezahlt bei immer besserer Bildung. Sich nicht auch noch mit überholten Altherren-Meinungen auseinandersetzen müssen zu wollen ist da, find‘ ich, durchaus nachvollziehbar, auch wenn diese oftmals richtig sind.

    Ich glaube, ich habe mich ein wenig im Generationenkonflikt verzettelt – Schließlich sind die ganzen Schreihälse ja eher Generation X oder Boomer, als Millennials.

  66. Wei Gespräche mit dem Demonstranten (auch mit widerspruch) aussehen könnten, zeigt Gaby Weber auf ihrem Youtube Kanal. Dort hat sie eine 13 minütige Dokumentation online gestellt, wo sie mit Demoteilnehmern spricht. Ohne diese Aufregung und Unverständnis für andere Meinungen die Frau Hayali innewohnen.

    https://www.youtube.com/watch?v=4KetjwqkkwA

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