Medien, die auf Kurven starren

Im Wellenbad der Gefühle

Ja, wo ist sie denn? Ist sie schon da? Nein? Kommt sie denn noch? Ja? Nein?

Darüber reden ja gerade alle. Gut, was heißt gerade? Seit Wochen, Monaten wird vor dieser so ominösen wie inzwischen berühmten „zweiten Welle“ gewarnt, und wenn ich das kurz zusammenfassen darf, kommt diese Welle mit Sicherheit bald, vielleicht schon übermorgen, wenn sie nicht sowieso schon längst da ist, oder sie kommt möglicherweise auch nicht. Das ist sicher.

Woher ich das weiß? Hab’s gelesen.

Die große Medien-Welle

„Kommt nach dem Urlaub die zweite Welle?“ (ZDF, 21.7.2020)

„Die zweite Welle droht“ (taz, 26.7.2020)

„Die zweite Corona-Welle kommt bestimmt!“ (DW, 27.7.2020)

„Warten auf die zweite Welle“ (DLF, 27.7.2020)

„Bislang keine zweite Welle“ (ARD, 27.7.2020)

„Mit Partylaune in die zweite Welle“ (ntv, 28.8.2020)

„So fangen zweite Wellen an“ (Zeit, 28.7.2020)

„Warum der Anstieg noch keine zweite Welle ist“ (ZDF, 28.7.2020)

„Kopflos in die zweite Welle?“ (Tagesschau, 29.7.2020)

„Ist das jetzt die zweite Welle?“ (RP, 1.8.2020)

„Söder: ‚Zweite Welle schon fast da'“ (ntv, 1.8.2020)

„Kommt die zweite Corona-Welle?“ (NDR, 3.8.2020)

„Die zweite Welle ist schon da“ (Spiegel, 4.8.2020)

„Die zweite Welle rollt an – das ist keine Überraschung“ (RP, 5.8.2020)

„Steht Deutschland vor der zweiten Corona-Welle?“ (RND, 5.8.2020)

„Zweite Welle: Was bedeutet das überhaupt?“ (RTL, 5.8.2020)

„Expertenmeinungen“ gehen auseinander

Ah, gute Frage, RTL! Woran erkennt man diese „zweite Welle“ denn, wie sieht sie aus, gibt es besondere Merkmale, kann man auf ihr reiten?

Könnte sie das sein, die „zweite Welle“? Foto: Jeremy Bishop / Unsplash

Wie, das weiß man nicht?

„Dieser Begriff ist wissenschaftlich schwer zu fassen, noch unmöglicher klar zu definieren“, schreibt der BR. Und der „Spiegel“ auch. Nicht mal das Robert-Koch-Institut (RKI) soll eine Definition dafür haben, was möglicherweise daran liegt, dass „zweite Welle“ gar kein wissenschaftlicher Begriff ist. RTL weist darauf hin, „Expertenmeinungen“ (!) gingen auseinander, „ob man überhaupt von Wellen sprechen soll und was genau damit gemeint ist“.

Tja, hm.

Wir reden also permanent über etwas, von dem wir nicht mal wissen, was es ist, geschweige denn, ob überhaupt. Ok cool. Auf dieser Basis kann man schon mal ein paar Artikel schreiben oder Statements abgeben.

„Wovor warnen Sie heute?“

Karl Lauterbach zum Beispiel. Der Mahner der SPD warnt so täglich wie möglich vor etwaigen Virus-Entwicklungen und besonders gerne vor einer „zweiten Welle“, nicht erst seit gestern. Lustige erste Frage im „Spiegel“-Interview kürzlich: „Herr Lauterbach, wovor warnen Sie heute?“ Man weiß ja nie. Also, doch: „Vor der zweiten Welle.“ Angeblich komme sie gerade „angerollt“.

Zeit für Glaubensbekenntnisse: „Bild“ hat gestern eine „exklusive Insa-Umfrage“ veröffentlicht, wie viele Menschen glauben – nicht: wissen! – glauben, dass die zweite Welle bereits da ist. Aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht, Wohnort. In Rheinland-Pfalz glauben demnach die meisten, dass diese „zweite Welle“ (von der niemand weiß, was das genau ist) schon da sei, in Sachsen-Anhalt die wenigsten. (Und fragen Sie mal die Menschen in Rheda-Wiedenbrück!)

Laut ZDF ist die Welle übrigens noch gar nicht da, aber vielleicht bald, deshalb kurz nachgefragt, wer überhaupt glaubt, dass sie kommt: „Glauben Sie, dass es in der nächsten Zeit eine zweite Corona-Welle geben wird?“, fragt der Sender in seinem „Politbarometer“ – 77 Prozent glauben das. Es ist wie in der Kirche.

Ein „großes, großes Durcheinander“

Die Epidemiologin Berit Lange glaubt hingegen, dass es gar nicht so gut sei, von einer „zweiten Welle“ zu sprechen, „dies könne ein Bild in die Köpfe der Menschen pflanzen, das falsch sei“. Nicht, dass jemand glaubt, es wäre nur so eine Phase, ähnlich wie im Frühjahr, und dann wieder Ruhe. Nee. Erste, zweite, dritte, vierte Welle, völlig egal. Pandemie halt. Dauert. Macht, was sie will. Ein „großes, großes Durcheinander“, wie der Mediziner Gerd Antes dem SWR gestern sagte. Den Begriff „Zweite Welle“ findet er „grob irreführend“.

Auch der Virologe Hendrik Streeck meidet ihn lieber. Der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ sagte er Ende Juni, er glaube nicht, „dass wir eine zweite oder dritte Welle haben werden“, sondern vielmehr eine kontinuierliche, haha, „Dauerwelle“, die „immer wieder hoch- und runtergeht“.

Oder anders gesagt: Eine (immer noch) recht unbekannte und noch länger andauernde Gefahr. Mal gibt es mehr Ausbrüche, mal weniger.

Immer schon gesagt!

Aber wir brauchen die Erzählung von der „zweiten Welle“ ja so dringend: als griffiges Bild, als düstere Prophezeiung – und als Schuld-Zuweisung! Boots-Rave auf einem Kanal in Berlin? Ja, vielen Dank, dann haben wir ja bald die zweite Welle! Party auf Malle oder der Reeperbahn? Das ist sie jetzt aber! Auslandsurlaub? Zweite Welle, ihr Ungläubigen! Wartet nur, sollte sie doch noch irgendwann vielleicht mal da sein: Siehste, siehste, immer schon gesagt!

Kann nur eben sein, wenn ständig vor etwas gewarnt wird, das nicht eintritt, dass es irgendwann eh keiner mehr glaubt. Seit Jahren vermelden Medien ja auch, es werde „eng“ für Donald Trump und ebenso lange ist bereits „Merkel-Dämmerung“, aber immer noch nicht dunkel.

Andererseits, sorry, ganz vergessen: Sie war ja doch längst da, die „zweite Welle“, am Samstag in Berlin. 2,9 Milliarden Demonstrant*innen, einige von ihnen skandierten: „Wir sind die zweite Welle!“ So sieht sie also aus.

66 Kommentare

  1. „Die zweite Welle kommt nicht, denn es hat ja gar keine erste Welle gegeben!“ (sinngemäßes Zitat eines youtube-Kommentars)

    Jetzt ernsthaft, sollte sich eine Welle nicht einigermaßen sinnvoll definieren lassen als eine Phase, in der die Zahl der Infizierten deutlich exponentiell steigt und somit nur schwer unter Kontrolle gebracht werden kann?

  2. Eine Welle besteht aus einem aufsteigenden und einem absteigenden Ast.
    Man müsste sich nur einigen, wie tief das Wellental sein muss, um als Grenze zwischen zwei Wellenbergen zu gelten, und wie hoch die zweite Welle im Vergleich zur ersten sein müsste, um als erste zu gelten.

    Aber solche Fragen werden mathematisch gelöst, nicht nach Gefühl.

  3. #1 Anonym

    Wenn Sie deutlich exponentielles Wachstum als Kriterium nehmen, dann hatten wir nicht einmal eine erste Welle. Wenn Sie die tatsächliche Wachstumskurve der ersten Welle als Maßstab nehmen, haben wir (derzeit) keine zweite Welle.

    Bei wie zur Zeit insgesamt niedrigen Fallzahlen ist auch die Frage, ob man nur aufgrund eines bestimmten momentanen Wachstums von Wellen sprechen sollte, oder erst ab einer bestimmten Dauer mit entsprechend höheren absoluten Infiziertenzahlen, und wenn ja dann ab welcher Höhe bzw. ab welchem Wachstum über welche Zeit? Die mediale Kakofonie um die zweite Welle spiegelt mE durchaus existierende Probleme des Begriffs bzw. des Konzepts wider, und obiger Artikel fängt das gut ein.

  4. Kritisch wird es sowieso erst, wenn „Perfekte Welle“ von Juli nicht mehr im Radio gespielt werden darf, wie nach dem Tsunami vor ein paar Jahren.

  5. Tja, da fehlt wohl einiges an naturwissenschaftlichem Verständnis. Erinnert an Klimaskeptiker, die fragen: wo ist denn der Klimawandel, heute liefen die Leute doch mit Jacke rum?!

    Es hat sich schon bei der ersten Welle gezeigt, wie tückisch die Sache ist. In Italien ging es sehr früh los, in den USA hat es Monate geschwelt, bis die Infektionen plötzlich durch die Decke gingen.

    Auch in China hatte die Epidemie einen wochen- bis monatelangen Vorlauf.

    Offenbar ist nicht gut berechenbar, wann das exponentielle Wachstum wieder beginnen könnte. Aber wenn es beginnt, ist es nur mit einschneidenden Maßnahmen unter Kontrolle zu bringen. Man muss deshalb so früh wie möglich reagieren. Und deshalb sind wir auch in dieser Hab-Acht-Stellung.

    Wie könnte man es denn besser machen?

  6. Hehe, Dauerwelle. Vielleicht kein allzu schlechter Begriff um den kontinuierlichen Verlauf einer Pandemie in Kontrast zu generell steigenden Infektionsraten im Frühjahr / Herbst (feuchteres / kälteres Wetter) zu setzen. Dort verorte ich ja die „tatsächlichen Wellen“, die auch wohl bei Corona eintreten werden.

    Das mit den Reiserückkehrern / Ballermann-Touristen ist doch eher die „Superspreader“ bzw. „Infektionsstrang“ Sache, oder vertue ich mich?

    Andererseits gerade mal nach „Infektionsstrang“ gegoogelt, da kamen nur „zweite Welle“ Artikel. Komisch das alles, nicht im witzigen Sinn.

  7. Ich verstehe den Artikel nicht. Was soll das sein, pedantische Begriffsklauberei? Oder ist das schon Corona-Leugnung?

    Es ist doch ganz klar, was gemeint ist: ein erneutes sehr starkes Ansteigen der Infektionszahlen. Das ist die große Gefahr, die viele nicht genügend ernst nehmen.

  8. „Dieser Begriff ist wissenschaftlich schwer zu fassen, noch unmöglicher klar zu definieren“
    Sehr schön auf den Punkt gebracht: Es handelt sich also um ein Prachtexemplar medial vermittelter Pseudowissenschaft.
    So etwas kann dauern: Das „Phantom von Heilbronn“ wurde 2007 bis 2009 durchs deutschsprachige Dorf getrieben, bevor es sang- und klanglos als der Bullshit beerdigt wurde, der es immer war.

  9. @Stephan Fleischhauer
    Wie lange soll Ihrer Meinung nach die gesamte Gesellschaft in „Hab-Acht-Stellung“ verharren? Noch eine Woche, einen Monat, ein Jahr, vielleicht so lange bis es einen Impfstoff gibt, bei dem man sehr bald feststellen muss, dass er nicht wirksam ist?

  10. @ Andreas Müller

    Es handelt sich also um ein Prachtexemplar medial vermittelter Pseudowissenschaft.

    Man kann es auch „Metapher“ nennen.

  11. Das ist halt der Wunsch der Menschen nach klarenm, griffigen Worten und einfachen Erklärungen. Man merkt immer wieder, dass ein Großteil an komplexen Geschehnissen und Zusammenhängen immer wieder scheitert. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Grüde. Und wenn der Wunsch nach einfacher Wahrheit nicht erfüllt wird, kommen Zweifel bis hin zu Verschwörungsideen. Das ist ja auch ein wesentliches Problem der Wissenschaftler, die ehrlich sagen, bestimmte Dinge nicht genau zu wissen. Für die Nicht-Wissenschaftler, die sich so sehr nach einfachen Erklärungen und Lösungen sehnen, ist das schwierig, wenn sogar die Leute, die es doch wissen sollten (lies: müssen!), nicht weiterhelfen können.

  12. @Boris Rosenkranz
    Tim hat ihre „Glosse“ wahrscheinlich fehlinterpretiert. Sie machen sich ja nicht über ein eventuelles Ansteigen der Infektionszahlen lustig, sondern über die mediale Verwurstung des Begriffs „zweite Welle“.
    Hoffe ich zumindest!
    Bei ersterer Annahme könnte der Text nämlich auch von Dieter Nuhr sein.

  13. Sonst „könnte der Text nämlich auch von Dieter Nuhr sein“
    Oder von Saibou oder Naidoo oder wie diese Leute auch alle heißen mögen.
    Nur damit die Warnung auch verstanden wird!

  14. @Peter Herrmann
    Das kann ich nur so beantworten: Bis die Gefahrenlage vorbei ist.

    Gegenfrage: Was ist Ihr Problem an der Hab-Acht-Stellung?

  15. @11 Boris Rosenkranz

    Aber wir brauchen die Erzählung von der „zweiten Welle“ ja so dringend: als griffiges Bild, als düstere Prophezeiung

    Hier klingt es so, als würden sie eine zweite „Welle“ (ich benutze das hier ausdrücklich als Metapher) als Gefahr nicht besonders ernst nehmen. Wenn die Infektionszahlen aber noch einmal so stark ansteigen sollten wie im März/April, haben wir gleich noch ein paar tausend Tote mehr.

    Darauf weisen die Medienberichte hin, die das Wort „Welle“ verwenden. Wer das lächerlich macht, relativiert die Gefahr, in der sich die Riskogruppen nach wie vor befinden. Darum sprach ich auch nicht von Virus-Leugnung, sondern von Corona-Leugnung.

  16. „Wenn die Infektionszahlen aber noch einmal so stark ansteigen sollten wie im März/April, haben wir gleich noch ein paar tausend Tote mehr“
    Das ist eine unbewiesene Vermutung. Bereits der bisher erfolgte leichte Wiederanstieg positiver Tests (in erster Linie als von Folge von insgesamt mehr durchgeführten Tests) hat nicht im gleichen Maße (oder auch gar nicht ) zu einem Wiederanstieg bei Schwerkranken und Gestorbenen geführt.
    Vor diesem Hintergrund ist es gar nicht verwunderlich, dass jetzt die Zählung von Corona-Toten nach oben „standardisiert“ wird. Wer in Österreich im Juni positiv getestet wurde und im Juli bei einem Motorradunfall umkam, war kein Corona-Toter. Künftig wird er das aber sein. Viel hilft manchmal viel.

  17. @16 Tim

    Ich nehme die Gefahr sehr ernst. (Während um mich herum in Berlin alles pulsiert wie immer.) Mich nervt bloß die ständige Ankündigung, der bisher (zum Glück) keine sogenannte „Welle“ folgte. So nämlich, finde ich, wird es dann irgendwann lächerlich. Und spätestens dann, wenn Leute in Umfragen sagen sollen, ob sie glauben, dass wir schon usw.

  18. Mit stark steigenden Infektionszahlen konnte man eine Weile lang massive Einschränkungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens rechtfertigen.

    Nun steigen die Infektionszahlen zwar wieder – was zu erwarten war, wenn man erstens wieder viel mehr Kontakte zulässt und zweitens viel mehr testet – aber sie steigen nicht mal ansatzweise exponentiell. Sie steigen aus meiner Sicht viel weniger, als ich das erwartet hätte.

    Wie macht man dem aufmüpfigen Bürger dann klar, dass die Sache noch nicht ausgestanden ist? Dazu taugt die Metapher von der „zweiten Welle“ ganz hervorragend. Zwar hat sich z.B. Streeck längst gegen diesen Begriff gewehrt, aber was hat der schon zu sagen, der ist doch nur Virologe.

    Der Begriff der „zweiten Welle“ taugt den Politikern ganz großartig, um die aktuelle Politik des Aussitzens bis zum Auftauchen eines pharmazeutischen Lösung des Problems zu rechtfertigen. Man hat so gar kein Konzept für ein Leben mit dem Virus, also hält man das Angstlevel hoch und hofft und bangt.

    Keine Verschwörungstheorie, nur eine Erklärung politischen Handelns von den Eigennutz maximierenden Entscheidern in unsicheren Zeiten.

    Ich werde das noch nicht mal. Wenn ich sehe, wie eine Zeitgenossen in diesen Tagen nach Ibiza fliegen, als sei das lebensnotwendig, wenn ich sehe, dass schon wieder Kreuzfahrten gebucht werden, dann verstehe ich, warum man die Wachsamkeit hochhalten will.

  19. @17 Andreas Müller

    Bereits der bisher erfolgte leichte Wiederanstieg positiver Tests (in erster Linie als von Folge von insgesamt mehr durchgeführten Tests) hat nicht im gleichen Maße (oder auch gar nicht ) zu einem Wiederanstieg bei Schwerkranken und Gestorbenen geführt.

    Natürlich nicht, weil die Zahl der Verstorbenen mit etwa 4 Wochen Verzug ansteigt. Ich verstehe nicht, warum wir all das schon wieder durchkauen müssen. Wir sind mitten in einer Pandemie, die Infektionszahlen hängen stark von der Disziplin der Bevölkerung ab. In zahlreichen anderen europäischen Staaten kann man live beobachten, was bei mangelnder Disziplin geschieht. Die Gefahr ist noch längst nicht vorüber, und mir fehlt jegliches Verständnis für Relativierungen.

  20. „Die Gefahr ist noch längst nicht vorüber, und mir fehlt jegliches Verständnis für Relativierungen.“

    Auch ein Weg, jedwede Diskussion im Keim zu ersticken. Das, was du „Relativierungen“ nennst, sind einfach andere Standpunkte als deiner. Du meinst, man könne einen dauerhaften Ausnahmezustand alias „neue Normalität“ einerseits durch hohe Infektionszahlen belegen und bei deren Ausbleiben durch die Gefahr hoher Infektionszahlen. Mit anderen Worten: Irgendwas ist immer und wird in Zukunft immer sein, das die Volksgesundheit bedroht. Stell dir mal z.B. vor, man fände heraus, es stürben täglich Menschen an Krebs, der durch Tabak und oder Alkohol verursacht wird. Da wäre dann aber was los.

    Lass mich raten: Du erleidest durch die Pandemie keinerlei wirtschaftlichen Einbußen, nicht wahr? Du siehst nicht langsam, aber sicher, deine Existenz den Bach runtergehen, nicht wahr?

    Ja, wir befinden uns mitten in einer Pandemie, ja, es ist durchaus sinnvoll, gewisse Regeln gemeinsam einzuhalten. Aber, ganz ehrlich, wenn ich volle Flugzeuge gen Ibiza starten sehe, dann fehlt mir so ein klein wenig der Wille beim Aufstehen aus dem Biergarten für drei Meter zu dessen Ausgang eine Maske aufzusetzen. Ich tu’s aber trotzdem. Solidarität ist nicht immer Zustimmung.

  21. @21 Bazooka Joe

    Du meinst, man könne einen dauerhaften Ausnahmezustand alias „neue Normalität“ einerseits durch hohe Infektionszahlen belegen und bei deren Ausbleiben durch die Gefahr hoher Infektionszahlen.

    Ganz im Gegenteil. Einen erneuten „Ausnahmezustand“ (Du meinst wahrscheinlich die massiven Kontakteinschränkungen) müssen wir unbedingt vermeiden. Genau darum müssen wir alle Disziplin wahren. Und darum dürfen Medien auch warnen, wenn wir jetzt wieder ca. alle 14-16 Tage eine Verdoppelung der Infektionszahlen sehen, auch wenn die Statistik bekannt knifflig ist.

  22. Vielen Dank für den Artikel. M.E. braucht es dringend einen Mittelweg zwischen panischer Sollübererfüllung (z.B. Masken an der frischen Luft) und leugnerischem Covidiotismus. Vertreter letzterer Richtung stehen nämlich derzeit viel zu viele Möglichkeiten offen, speziell Leichtgläubige auf offensichtliche Widersprüche hinzuweisen und ihnen dabei gleich ihren ganzen Verschwörungscocktail miteinzutrichtern.

    Dass die Medien nach den Zugriffzahlen von März und April süchtig geworden sind, ist m.E. so klar wie dass bad news immer schon good news waren. Ich kann mich noch gut erinnern, wie man damals vergeblich nach Artikeln suchte, die eine Entspannung der Lage überhaupt nur für möglich hielten. Statt dessen wurde Panik geschürt bzw. katalysiert. Das war aber eben kein Ergebnis von Bill Gates gelenkter Weltmedien, sondern einfach nur Lust an der Untergangsschlagzeile und mangelnde Coolness in einer außergewöhnlichen Situation.

  23. Mit Ausnahmezustand meine ich, dass wir gerade die Existenz von Millionen von Menschen allein in Deutschland vor die Wand fahren.

    Wie lange willst du das, was du „Disziplin“ nennst, aufrecht erhalten? „Zweite Welle“ klingt trügerisch, als müsse man nur einmal kurz die Luft anhalten, bis auch diese „Welle“ abebbt. Dem ist nicht so. Das Virus bleibt. Für immer. Fragen Sie mal einen Virologen.

    Aktuell wird die Mär von der Zweiten Welle erzählt, um die Moral bei den Leuten hochzuhalten, bis der Heiland kommt/ein Impfstoff bereitsteht. Kein Plan B. Kein „Leben mit dem Virus“, wie es Virologen schon lange fordern.

    Um da nicht missverstanden zu werden: Ich fänd das klasse, wenn sich der ganze Mist einfach durch Impfen in den Griff bekommen ließe. Aber was, wenn nicht? Mit welchen rhetorischen Verrenkungen werden sich nächstes Frühjahr die Betriebe die Insolvenz ausreden lassen, die schon jetzt kurz vorm Exitus stehen? Und glauben Sie wirklich an Disziplin über vielleicht Jahre hinweg, unter schwindenen Perspektiven, und ohne Fußball und Festivitäten zur Ablenkung?

  24. @ 24 Bazooka Joe

    Und glauben Sie wirklich an Disziplin über vielleicht Jahre hinweg, unter schwindenen Perspektiven, und ohne Fußball und Festivitäten zur Ablenkung?

    Ich hatte mir sehr gewünscht, dass das Konjunkturprogramm der Bundesregierung nicht besinnungslos Geld verteilt, sondern gezielt die öffentliche Infrastruktur Corona-fit macht. Also z.B. wirksame Luftfilter (wie im Flugzeug) überall dort eingebaut werden, wo es nötig ist, etwa in Straßenbahnen, Zügen, Bibliotheken … oder vielleicht auch Kinos, Cafés, Kitas? Enttäuscht bin ich auch, dass es immer noch kein systematisches Corona-Monitoring mit repräsentativen Erhebungen gibt. Dabei ist das doch das erste, was man in einer Pandemie braucht.

    Die Strategie der Bundesregierung geht derzeit davon aus, dass das Virus irgendwann weg oder medizinisch beherrschbar ist. Das ist möglich, aber keinesfalls sicher. Solange die Unsicherheit bleibt und die öffentliche Infrastruktur nicht wirklich Corona-fit ist, müssen wir wohl oder übel auf Disziplin setzen.

    Was ist denn die Alternative? Ab und zu einen Ausbruch mit ein paar Tausend Toten dulden und dann wieder in den Lockdown gehen?

  25. @Bazooka Joe, #24

    „Mit Ausnahmezustand meine ich, dass wir gerade die Existenz von Millionen von Menschen allein in Deutschland vor die Wand fahren.“

    Bei Ihnen klingt das so, als gäbe es dazu irgendeine Alternative. Abstandsregeln weg, Maskenpflicht weg, Kontaktverfolgung weg, und dann kommen wir ohne „Ausnahmezustand“ davon? Wie bitte stellen Sie sich das vor?

    „Das Virus bleibt. Für immer. Fragen Sie mal einen Virologen. “

    Kein seriöser Virologe macht solche Maximalaussagen. Das sind Privatmeinungen und keine wissenschaftlichen Erkenntnisse.

    „Ich fänd das klasse, wenn sich der ganze Mist einfach durch Impfen in den Griff bekommen ließe. Aber was, wenn nicht? […] Und glauben Sie wirklich an Disziplin über vielleicht Jahre hinweg, unter schwindenen Perspektiven, und ohne Fußball und Festivitäten zur Ablenkung?“

    Die Alternative zum Eindämmen und Hoffen auf eine Impfung ist kontrollierte Ansteckung bis zur Herdenimmunität, aka „Flatten the curve“. Frühen Abschätzungen aus dem März nach würde das ungefähr 2 Jahre dauern, wenn die Gesundheitssysteme nicht überlastet werden sollen. Bis dahin muss es entweder weiter Einschränkungen geben, oder es wird wegen Überlastung eine höhere Sterblichkeit und noch viel mehr Existenzzerstörungen geben.

    Was, wenn sich die Herdenimmunität nicht einstellt? Das ist aktuell immer noch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Wenn Immunität nur wenige Wochen oder Monate hält? Dann dauert es vielleicht noch länger, bis genug Menschen durchinfiziert sind, oder es geht gar nicht. Dann infizieren sich langfristig fast alle Menschen, es gibt Langzeitwirkungen, es gibt 0,5% Tote, vielleicht infizieren sich Menschen immer wieder neu.

    Im Vergleich dazu wäre es meiner Meinung nach verschmerzbar, Restaurants, Sport und Konzerte weiter einzuschränken und bis in alle Ewigkeit mit Masken rumzulaufen. Das ist scheiße, klar, aber wir wissen eben noch überhaupt nicht genug darüber, wie die Alternative dazu aussieht.

  26. Finde die ständige Orakelei der deutschen Medien zwar auch nervig, aber das Bild von der Welle nicht ganz verkehrt. Nicht als ominöse drohende Gefahr, sondern das ist eben einfach das Bild, das sich beim Blick auf Pandemieverläufe zeigt. In Deutschland (noch) nicht, hier bei uns in Belgien schon – eindeutig ein zweiter, wellenförmiger Anstieg von Neuinfektionen und Krankenhausfällen. Übrigens wird hier auch von einer Welle („vague“ bzw „golf“) gesprochen, ohne übertriebene Dramatisierung allerdings.

    Und die Folgen, die das mit sich bringt (neue Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren, Antwerpen Risikogebiet) nehmen die Leute auch durchaus als eine zweite Welle wahr – von Maßnahmen, die jetzt wieder über ihnen zusammenschlagen.

  27. @ 25 TIM
    > Was ist denn die Alternative? Ab und zu einen Ausbruch mit ein paar
    > Tausend Toten dulden und dann wieder in den Lockdown gehen?

    Das finde ich etwas zu hingeworfen. „Ein paar tausend Tote“ gibt es hierzulande jede Woche (lt. von mir aufgeschnappter Zahl 2500/Tag). Interessant wäre, wie hoch der Anteil der Todesursache Corona daran derzeit eigentlich ist. Und schon im März konnte, wer wollte, wissen, dass das Durchschnittsalter der Gestorbenen selbst im schlecht vorbereiteten China bei 81 lag, also deutlich gegen Ende der statistischen Lebenserwartung. Ist das hier auch mehrheitlich so? Darüber lese ich leider ebenso wenig wie über die aktuellen Ansteckungsorte. Wie viele Infektionen in Supermärkten gab es eigentlich, bevor die Masken kamen? Ich habe von keiner einzigen gehört. Und da eine solche Meldung bad news gewesen wäre und Klicks versprochen hätte, glaube ich kaum, dass sie von den Medien übersehen wurde.

    Ich suche jedenfalls absichtlich nicht gezielt im Netz nach obigen Fragen, weil ich fürchte, dabei ausschließlich auf Verschwörungsseiten zu landen. Und das halte ich für ein Problem.

  28. Um meinen Eingangskommentar aufzugreifen: Wenn ich exponentielles Wachstum als Kriterium nehme, impliziert das nach meinem Verständnis, dass, bevor man von einer „zweiten Welle“ sprechen kann, man erst einmal die Entwicklung über einen nicht zu kurzen Zeitraum beobachten muss. Anders gesagt: Ob eine zweite Welle kommt, weiß man erst, wenn sie da ist.

    Dazu kommt, dass – Achtung, Laienmeinung! – auch „deutliches“ exponentielles Wachstum ja nicht unbedingt in einem epidemiologischen Sinne kritisch sein muss. Wenn ich es richtig verstanden habe, kann man z.B. bei wenigen Infektionsherden und hoher Testkapazität immer noch rechtzeitig reagieren. Wie genau das alles zusammenhängt, wissen natürlich nur die Epidemiologen. Also sag ich lieber nix mehr.

  29. @ TIM #20
    „Natürlich nicht, weil die Zahl der Verstorbenen mit etwa 4 Wochen Verzug ansteigt“
    Das war auch schon im Juni bei den George-Demonstrationen das Argument und dann wieder bei der Tönnies-Welle. Aber hey, selbst die 4 Wochen sind um und die Zahl der Verstorbenen ist nicht gestiegen. Nur 1.1% der Intensivpatienten sind aktuell Corona-positiv, vor ein paar Tagen waren es noch 1.3%.
    Gestern gab es 7 „Corona-Tote“ in Deutschland, und Österreich verhilft jetzt endlich eine europäische Standardisierung zu mehr Toten: wer bei einem Motorradunfall stirbt und innerhalb von 28 Tagen davor einen positiven Test hatte, darf jetzt endlich auch ein Corona-Toter sein.
    „Ich verstehe nicht, warum wir all das schon wieder durchkauen müssen“
    Sie sollen nichts kauen, „mitten in der Corona-Pandemie“ schon gar nicht im Plural, sondern zur Abwechslung mal ein unzerkautes Argument bringen, das auch Bestand hat.

  30. #23 Der Nüchterne

    derzeit [stehen] viel zu viele Möglichkeiten offen, speziell Leichtgläubige auf offensichtliche Widersprüche hinzuweisen und ihnen dabei gleich ihren ganzen Verschwörungscocktail miteinzutrichtern.

    Das ist genau das, was einem wirklich Sorge bereiten muss und was mE auch Herr Rosenkranz‘ Artikel versucht zu illustrieren: Dieses nervtötende Dauerbombardement mit Katastrophen-Metaphern und nach wie vor unlauteren Zahlen („Corona-Ticker mit den neuesten Infizierten!“) bei gleichzeitiger Weigerung, offensichtlichste Widersprüche und Unklarheiten breit zu thematisieren (zB: Massendemos hatten keine Auswirkung auf Coronazahlen), sorgt schlicht für immer größere Skepsis immer größerer Bevölkerungsanteile. Nicht bzgl. der Existenz des Virus, aber bzgl. der Glaubwürdigkeit der politischen und medialen Kommunikation zum Thema. Das ist bereits auf mittlere Sicht mE viel gefährlicher als alles, was Hildman je krakeelen könnte.

  31. Kann es sein, daß Boris Rosenkranz sich da ziemlich verrannt hat in Begriffsdefinitionen? Jedenfalls ist „Zweite Welle“ beileibe nicht der einzige Begriff, den wir benutzen, ohne daß er klar definiert ist.

    In der Berichterstattung tauchen immer wieder Begriffe auf, deren genaue Definition nicht klar ist, die wohl noch nicht einmal eine eindeutige Definition haben. Wann ist jemand ein „Journalist“? Wann ist jemand ein „Experte“? Da müsste Boris Rosenkranz jedesmal einwerfen „Wir reden also permanent über etwas, von dem wir nicht mal wissen, was es ist, geschweige denn, ob überhaupt“. Viele Begriffe sind „wissenschaftlich schwer zu fassen, noch unmöglicher klar zu definieren“. Soll die Konsequenz sein, sie alle nicht mehr zu benutzen?

    Immer wieder begegnet mir in der Presse zum Beispiel der Begriff „Soziales Netzwerk“. Gibt es davon eine streng wissenschaftliche Definition? Was ist ein Soziales Netzwerk, was ist es nicht? Sind die Übermedien, wo beliebige Menschen Artikel kommentieren und sich dabei aufeinander beziehen können, ein Soziales Netzwerk oder nicht? Hat Boris Rosenkranz von diesem Begriff eine klare Definition?

    Die Unklarheit der Begriffe, mit denen wir täglich operieren, wird besonders deutlich, wenn man Begriffe miteinander vergleicht. Wann ist eine Siedlung eine Stadt, wann ein Dorf, wann lediglich eine Häusergruppe?

    Nach welchen Kriterien entscheidet sich bei einer kommunalen Gebietsreform, ob ein bestimmtes Gebiet zukünftig eine Gemeinde innerhalb eines Landkreises sein wird oder ein Stadtteil einer kreisfreien Stadt? Warum beispielsweise ist Herdecke eine Gemeinde im Ennepe-Ruhr-Kreis, das benachbarte Vorhalle dagegen ein Stadtteil der kreisfreien Stadt Hagen?

    Spoiler: Diese Kriterien gibt es nicht. Da sitzen Politiker und Bürger in Sitzungen und Abhörungen und diskutieren über Zugehörigkeiten von Gebietskörperschaften rein nach Gefühl. Sie glauben, daß bestimmte Flächen zukünftig zusammengehörig sein sollen und andere nicht. Es ist kein Wissen, es ist Gefühl und Glaube. Boris Rosenkranz würde sagen: „Es ist wie in der Kirche“.

    Sarkastisch schreibt Boris Rosenkranz dazu: „Auf dieser Basis kann man schon mal ein paar Artikel schreiben oder Statements abgeben“. Tatsächlich hängt von den Gefühlen und dem Glauben, aufgrund dessen schließlich bei Gebietsreformen kommunale Grenzen gezogen werden, sehr viel ab. Zum Beispiel sind kommunale Grenzen meistens sehr harte Grenzen im Tarifsystem und im Netz von Bus&Bahn. Die Zeit, die ein Pendler mit Bus&Bahn zu seinem Arbeitsplatz braucht, hängt sehr entscheidend davon ab, wie Politiker aufgrund ihres Gefühls (man könnte auch sagen: aufgrund ihres Glaubens) mal die kommunalen Grenzen gezogen haben.

    Aber sollen wir das alles sein lassen? Sollen wir nicht mehr darüber sprechen, solange wir keine wissenschaftlichen Definitionen haben?

    Wir haben aktuell einen intensiven gesellschaftlichen Diskurs um Geschlecht (oder Gender), um Etnien, um soziale Herkunft. Von alledem gibt es keine klaren Definitionen. Sollen wir deshalb diese Begriffe gar nicht mehr verwenden? Sollen sie nicht mehr in Schlagzeilen in der Presse mehr auftauchen?

    Wenn Boris Rosenkranz sich nur über den Begriff „Zweite Welle“ empört, und ihm ansonsten alles klar ist, dann möchte ich gerne wissen: Was ist die genaue Definition der Begriffe „untersagt“, „verboten“, „streng verboten“, „strengstens verboten“?

    https://twitter.com/bilderbein/status/1117813163485990912

  32. Was soll dieses Befindlichkeitsstück? Ist das hier ein Poesiealbum geworden. Ist doch mir egal, was Herrn Rosenkranz gewaltig nervt. Schade um die Lesezeit, außer Semantik nichts gewesen.

  33. Ich möchte noch mal dazu anregen, über die „tatsächlichen“ Wellen der steigenden Infektionsraten im Frühjahr und Herbst nachzudenken. In meinem Kopf war das immer als „zweite Welle“ gespeichert, aber das überschreibe ich gerne bei neuen Infos.

  34. @BAZOOKA JOE

    gehen Sie doch nochmal auf die von Ihnen zitierte: https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Deutschland#Testkapazit%C3%A4ten_und_durchgef%C3%BChrte_Tests
    und schauen sich das Wachstum der prozentualen Infizierten an. Letztens hatten Sie noch richtigerweise gesagt, dass das konstant bei 0,6% bleibt, jetzt steigt es aber stetig und ist schon bei 1%. Ich gehe jede Wette ein, dass das nächste Woche noch höher ist.

    Was ist das sonst, wenn keine 2. Welle (mir auch egal wie der Begriff genau ist, aber irgendwie müssen wir es ja beschreiben).

    Und Ihre Alternative ist — wie schon beim letzten Thema — keine. Wir können nicht „einfach alles aufmachen“ und schauen, was passiert. Denn das sieht man auch jetzt schon in Brasilien/USA etc. Und das ist nicht schön. Dann lieber Maske auflassen und sich damit arrangieren, auch wenn es leider wirtschaftliche Folgen haben wird. Die sind immer noch geringer, als wieder in den Lockdown zu gehen.

    Und ja, es gibt sowohl unsinnige Maßnahmen (Masken im Freien) als auch Sachen, die merkwürdigerweise erlaubt sind (volle Flugzeuge). Das hat aber nichts mit COVID-19 zu tun, sondern damit, dass halt einige Industriezweige eine gute Lobby haben, andere nicht. Das liegt aber auch nicht an COVID-19, sondern ist ein generelles Problem.

  35. #35 Ichbinich

    Aber finden Sie es nicht ein wenig schief, bei einem Anstieg von 0,6% auf 1,0% von einer zweiten Welle oder dem Beginn einer zweiten Welle zu reden? Ende Juni waren wir sogar kurzzeitig auf 1,4%. Dann ist das jetzt vielleicht sogar die dritte Welle?

    Das Bild von der „Welle“ impliziert nun einmal eine gewisse Wucht der Ereignisse. Die Medienkritik, dieses Bild nicht allzusehr abzunutzen, solange die Zahlen es nicht hergeben, ist unter den derzeitigen Bedingungen doch nachvollziehbar?

  36. Was Daniel Rehbein (wenn auch etwas zu langatmig) sagt.

    Mit Verlaub, Herr Rosenkranz, aber dieser Text ist fast schon auf dem Niveau von Augstein-Fleischhauer-Fragen. Was eine Welle ist, kapiert jedes Kind. Schauen Sie sich halt eine beliebige mathematische Kurve mit mindestens zwei „Bergen“ und deutlich erkennbaren „Tälern“ dazwischen an. Dat sin Wellen! Klar könnte man das mathematisch definieren, ab wann so ein „Berg“ eine Welle ist. Wenn das RKI das macht, ist es auch noch quasi-amtlich. Und, was wäre damit gewonnen?

    Dass man von Wellen spricht, hängt mit dem üblichen Verlauf von Epi- und Pandemien ab. Schauen Sie sich die Entwicklung einer beliebigen historischen Epi-/Pandemie an (Spanische Grippe zum Beispiel), die verlaufen praktische immer in (meist mehreren) Wellen. Was nicht zwangsläufig heißt, dass unsere Pandemie genauso verlaufen muss, weil das erstens im Detail chaotisch ist und zweitens früher halt manches anders war. Aber es ist auch nicht weit hergeholt, mit ähnlichen Verlaufsmustern zu rechnen.

    Ob der gegenwärtige Anstieg der Beginn einer zweiten Welle ist oder eher ein kleines Wellchen, wird man in ein paar Monaten sehen.

  37. @ILLEN

    Ich halte es nicht für abwegig, bei einem steten Anstieg der Zahlen vor einer 2.welle zu warnen, nein.

    Ob es wirklich eine Welle wird oder sich wieder abschwächt liegt natürlich im wesentlichen an dem Verhalten der Menschen und Politik in den nächsten Wochen/Monaten.
    Aber dass die Gefahr einer 2.welle besteht, ist zumindest für mich offensichtlich.

  38. #37 Earendil

    Was eine Welle ist, kapiert jedes Kind. Schauen Sie sich halt eine beliebige mathematische Kurve mit mindestens zwei „Bergen“ und deutlich erkennbaren „Tälern“ dazwischen an. Dat sin Wellen! Klar könnte man das mathematisch definieren […]

    Wenn Sie sich jetzt aber die tatsächlichen Daten anschauen, sehen Sie weit und breit keinen zweiten Berg, nur ein auf und ab auf einem so niedrigen Niveau, dass es noch nicht einmal Hügelchen sind. Was nicht heißen soll, dass ein zweiter Berg nicht noch kommen kann. Aber die Kritik von Rosenkranz ist doch gerade, dass die Berichterstattung sich liest, als hätten wir längst den zweiten Berg, oder als sei jedenfalls sicher, dass er kurz bevor stünde. Das ist es aber nicht, und selbst welches menschliche Verhalten wie zur Entwicklung beiträgt ist noch wenig gesichert (siehe zB mein obiger Link in #31, dass die Massendemos der letzten Monate trotz zahlreicher „Hygieneverstöße“ keine messbaren Auswirkungen auf die Zahlenentwicklung hatten). Noch einmal: das heißt sicher nicht, dass wir das Virus nicht ernst nehmen sollten. Aber ganz offensichtlich ist vieles nach wie vor völlig unklar, und das sollte eine seriöse Berichterstattung auch widerspiegeln.

  39. @Illen: Nunja, wir haben nach den konstant niedrigen Ansteckungszahlen der vergangenen Monate (um die 500 täglich, mit Ausreißern wie Tönnies) nun einen deutlichen und offenbar anhaltenden Anstieg auf mehr als 1000 neue Fälle pro Tag. Das ist schon was anderes als ein ungerichtetes Auf und Ab, auch wenn es noch nicht die Dimensionen von März/April hat. Vielleicht ist es der Beginn einer neuen Welle, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall sollte es Anlass sein zu überlegen, wie man da gegensteuern kann und vielleicht verhindern kann, dass aus diesem Anstieg eine richtige Welle wird. (Wie man das vernünftig macht, weiß ich natürlich auch nicht.)

    Und genau diese Fragen und Unsicherheiten spiegeln sich in den Medien wieder. Welches Problem Herr Rosenkranz damit hat, erschließt sich mir nicht.

  40. @ILLEN

    Ich bin da auch bei EARENDIL. Der Artikel oben kritisiert ja — nach meiner Wahrnehmung — eher das diskutieren darüber bzw. die Unsicherheit der Bevölkerung.
    Bzw. deutet an, dass die Gefahr vor der 2. Welle nur „als griffiges Bild, als düstere Prophezeiung – und als Schuld-Zuweisung!“ benötigt wird, aber keinen realen Hintergrund hat.
    Und das ist und bleibt nunmal Unsinn. Die Gefahr einer 2. Welle besteht durchaus.

    Wenn Herr Rosenkranz nur kritisiert hätte, dass die Medien so tun als ob die 2. Welle schon da ist (was sie natürlich noch nicht ist), wäre ich auch bei ihm (oder bei Ihnen).
    Nur lese ich das aus dem Artikel oben eben nicht.

  41. Der Punkt ist vor allem, daß Boris Rosenkranz hier genau dasselbe tut, was Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner immer wieder tun: Sie eine Selbstverständlichkeit hernehmen und diese zu einer großen Geschichte aufbauschen.

    In Kommentar Nr. 11 hat Boris Rosenkranz darauf hingewiesen, daß er die Existenz des Coronavirus nicht leugne. Aber das muß er ja auch gar nicht explizit. Der gemeine Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner ist ja bekanntermaßen ein Selber-Denker. Dem muß man nicht explizit sagen, daß es dieses Virus gar nicht gibt. Den muß man nur mit ein paar Andeutungen füttern darüber, daß die Presse nicht korrekt berichtet. Ihm muß man nur ein paar Andeutungen geben über Widersprüche in den Presseartikeln. Den Rest denkt er sich dann schon selbst. Und dann ist er stolz darauf, daß er selbst gedacht hat.

    Wenn zusätzlich der Text noch gespickt wird mit Hinweisen, daß es sich ja um einen Glauben handelt, daß es ist „wie in der Kirche“, dann ist der Text geradezu perfekt für alle Quer- und Selber-Denker. Es ist das, was Stefan Niggemeier auch gerne als „Raunen“ bezeichnet: Man findet irgendwelche vermeintlichen Fehler und Widersprüchlichkeiten in der Berichterstattung, und diese trägt man dann in die Öffentlichkeit.

    Wenn dieser Text nicht bei den Übermedien erschienen wäre, sondern in einer anderen Publikation, würde Stefan Niggemeier vermutlich etwas schreiben wie: „Boris Rosenkranz raunt bedeutungsschwanger über begriffliche Ungenauigkeiten in Presseartikeln“.

    Es fehlt im Grunde nur noch die Aufforderung: „Denke selber!“. Attila Hildmann würde schreiben: „Verbinde die Punkte!“

    Dieses Muster, daß Selbstverständlichkeiten zu einer großen Sache aufgebauscht werden, findet man immer wieder. Meist ist es in einem lustigen, ja humorvollen Kontext, dann ist das auch kaum angreifbar, wenn man nicht als humorlos gelten will:

    * In einem föderalen Staat ist es selbstverständlich so, daß die Infiziertenzahlen nicht für das gesamte Staatsgebiet gleichzeitig vorliegen. Man muß mit Verzögerungen bei der Datenzusammenführung, mit Schätzungen und auch mit Fehlern leben. Corona-Leugner machen sich darüber lustig und teilen zum Beispiel Bilder einer Losbude oder eines Gerätes zur „Ziehung der Coronazahlen“. Soll man sich darüber aufregen? Es ist doch bloß eine Karrrikatur!

    * Selbstverständlich halten sich auch Politiker nicht an alle Regeln. Und so kommt es auch vor, daß Frank-Walter Steinmeier im Urlaub mal nicht an Abstände und Schutzmasken denkt. Das Bild seines Regelverstoßes wird gerne geteilt, es wird versehen mit lachenden Emoticons oder mit Sprüchen wie „Genau mein Humor“. Soll man sich darüber aufregen? Es ist doch bloß eine lustige Anekdote!

    * Selbstverständlich sind die Begriffe, mit denen wir Sachverhalte beschreiben, nicht alle eindeutig definiert. Und so kann man natürlich unterschiedlicher Meinung sein, was eine „zweite Welle“ ist. Boris Rosenkranz schreibt darüber einen launischen Text, in dem er der Presse vorwirft, nicht mehr über Tatsachen, sondern über einen Glauben zu berichten. Soll man sich darüber aufregen? Es ist doch bloß eine Glosse!

    Ein weiterer Aspekt ist, daß Begriffe, die mehrere Bedeutungen haben zum Ziehen falscher Analogien oder zur Verdrehung der Wahrheit verwendet werden. Auch das hat System:

    * Wir sprechen statt von „Covid-19“ meist salopp von dem „Coronavirus“. Tatsächlich gibt es eine ganze Gattung von Coronaviren, und bisher waren die für uns Menschen relativ harmlos. Deshalb schließen manche Menschen aus dem Begriff „Corona“ darauf, daß auch das aktuelle Virus für uns harmlos sei.

    * In der Diskussion um den weiteren Verlauf der Pandemie wird immer wieder der Begriff „Herdenimmunität“ verwendet. Manche Menschen leiten aus dem Begriffsbestandteil „Herde“ ab, daß wir für „die da oben“ (die Eliten, wer auch immer) so etwas wie Schafe seien. Alleine aus diesem Begriff leiten sie ab, daß wir fremdgesteuert seien wie eine Schafherde auf dem Weg zum Schlachter.

    * Sowohl für eine bestimmte Kurvenform in der Statistik als auch für die Bewegung eines Mediums (wie z.B. Wasser) wird der Begriff „Welle“ verwendet. Boris Rosenkranz vermischt einfach beide Begriffsbedeutungen und fragt zu der Welle in der Statistik dann hämisch „Wie sieht sie aus, gibt es besondere Merkmale, kann man auf ihr reiten?“. Und das bebildert er dann auch noch mit dem Bild einer Wasserwelle mit der Frage „Könnte sie das sein?“. Wenn das keine Verächtlichmachung von Statistik ist, was ist es dann?

    Und das ganze wird dann auch noch garniert mit einer penetranten Wiederholung des Mantras, daß es sich ja bloß um Glauben handele, es ist alles „angeblich“, es ist ein „Durcheinander“, es ist „grob irreführend“.

    Dieser ganze als „Glosse“ betitelte Text könnte genauso auch vom Anmelder eine „Hygiene-Demo“ geschrieben sein. Er ist die perfekte Vorlage für Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner. Der siehst sich bestätigt, daß die ganze Presse ohnehin nicht weiß, was wirklich los ist, sondern daß sie bloßem Glauben hinterherläuft. Der Quer- und Selber-Denker zieht seine Schlußfolgerungen, daß es diese ganze Pandemie in Wirklichkeit gar nicht gibt. Er macht lieber das, was am Ende des Textes aufgezählt wird: Boots-Rave auf einem Kanal in Berlin, Party auf Malle oder der Reeperbahn, Auslandsurlaub.

  42. Der nervigste Beitrag, den ich auf übermedien bislang gelesen habe! Über was regen Sie sich eigentlich auf? Offensichtlich nur über die Wortwahl „zweite Welle“? Letzte Woche ist ein Freund von mir an/mit Corona gestorben. Ich habe es satt diese Relativierungen zu ertragen. Jede Nachlässigkeit führt zu neuen Infektionen. Mich widern diese Idioten in Berlin, Stuttgart und sonstwo an. Wohin bitte soll uns eine semantische Diskussion über den Begriff „zweite Welle“ führen?

  43. „2,9 Milliarden Demonstrant*innen“
    Wow, das macht bei einer Fläche von 892 Quadratkilometern rund 3.25 Personen pro Quadratmeter! Definitiv maskenpflichtig, da der Mindestabstand bei Weitem nicht eingehalten wurde.

  44. #42 Daniel Rehbein

    Das meiste von dem, was Sie anführen, sind doch mit Verlaub nur ihre eigenen (Vor)Urteile über die Corona-Debatte und die Psychologie diverser Corona-Gegner. Nicht jedes Abwägende, Zweifelnde oder Unscharfe ist nur als Aufforderung da, zwischen den Zeilen eine ganz bestimmte Wahrheit herauszulesen. Dass Gestalten wie Hildmann das praktizieren, macht es nicht universell. Zwischen „denke selbst!“ und „verbinde die Punkte“ besteht z.B. schon auf der obersten sprachlichen Ebene der offensichtliche Unterschied, dass letztere Aussage einen inhaltlichen Zusammenhang voraussetzt (sonst müsste man die Punkte nicht verbinden) und somit gerade keine ergebnisoffene Aufforderung ist.

    Dass eine bestimmte Argumentation so oder ähnlich auch von einem Corona-Gegner stammen könnte scheint mir auch ein so nichtssagendes wie gefährliches Argument zu sein. Die NPD bekennt sich bekanntlich seit vielen vielen Jahren zu mehr Ausgaben für Schulen und Bildung. Deshalb ist nicht plötzlich die Forderung als solche rechtsradikal.

    Herr Rosenkranz kritisiert den gedankenlosen bis gefährlichen Umgang einiger Medien mit dem „Zweite Welle“-Begriff. Gefährlich, soweit der Umgang auch bei wohlwollenden Bevölkerungsteilen zum Crying-Wolf-Syndrom führen könnte. Die Berichterstattung macht mE durchaus den Eindruck, als wäre es keine publizistische Option mehr, wenn die zweite Welle nicht innerhalb der nächsten Wochen auch tatsächlich käme. Oder anders: sie orientiert sich in zu großen Teilen derzeit nicht an den verfügbaren Fakten zur statistischen Entwicklung der Infektionszahlen.

    Würden Sie denn nicht sagen, dass Exzesse wie die Berichterstattung über (eigene) Umfragen darüber, was die Leute glauben, wann eine zweite Welle kommen könnte, problematisch sind?

    Das nicht anzusprechen, nur weil es Hildmann & co. für ihre dämlichen Videos verwursten könnten, ist mE genau die Art pädagogischer Belehrungs- und Bevormundungsjournalismus, der ein maßgeblicher Antreiber der Medienkrise insgesamt ist.

  45. Nicht, dass es in der derzeitigen polarisierten Stimmung einen großen Unterscheid machen würde, aber ich möchte trotzdem wenigstens kurz hinzufügen:

    Die Rate der corona-positiven PCR-Testergebnisse liegt auch in dieser Woche trotz erneuter massiver Ausweitung der Tests (+145.000 gegenüber letzte Woche) konstant bei 1% (RKI Wochenbericht von gestern). Die Wikipedia führt im Lemma „Covid-19 in Deutschland“ eine stets aktualisierte Tabelle, wer sich die RKI-pdfs nicht antun möchte.

    Die allgegenwärtige Berichterstattung nur der absoluten Zahlen inklusive der Interpretation eines erhöhten Infektionsgeschehens ist mit der objektiven Datenlage für Deutschland unvereinbar. Erst recht das Herbeireden einer Welle.

    Das Sentinel-Programm des RKI (das deutschlandweite, repräsentative Frühwarnsystem für virusbedingte Atemwegserkrankungen), das seit Mitte März auch auf Sars-Cov2 testet, gibt seit Anfang Juli keine einzige gefundene Covid-Neuerkrankung mehr an (hier Tabelle S.5)). Was natürlich nicht bedeutet, dass es gar keine mehr gibt, aber ein massives epidemiologisches Indiz dafür ist, dass sich das tatsächliche Infektionsgeschehen im Bereich weniger Fälle deutschlandweit abspielt. Im gleichen Bericht: der Anteil von (älteren) Covid-19-Fällen an allen derzeit im Krankenhaus behandlungsbedürftigen Atemwegserkrankungen beträgt 3%.

  46. Nota bene natürlich auch: die massiv kritisierte Anti-Maßnahmen-Demo von Anfang August müsste sich (allgemein angenommene Inkubationszeit: 5-12 Tage) mittlerweile in den Zahlen widerspiegeln. Das ist nicht der Fall, ebenso wenig wie es der Fall war bei sonstigen Großdemos der letzten Wochen (zB Black Lives Matter). Mittlerweile müsste auch jeder Einzelne genug anekdotische Alltagsevidenz gesammelt haben, dass sich seit Wochen so gut wie nirgendwo (Innenstädte, Badeseen, Urlaubsorte) mehr groß an Abstandsregeln gehalten wird. Ein wie auch immer gearteter Niederschlag in der gemessenen Infektionsrate (geschweige denn tatsächlicher symptomatischer Erkrankungen) ist nicht zu beobachten.

    Die Übertragbarkeit/Gefährlichkeit des Virus für die Allgemeinbevölkerung ist offensichtlich bei weitem niedriger, als medial derzeit vermittelt, jedenfalls im Freien.

  47. @Illen

    Ja, das RKI schreibt selbst in der Info zur Nationalen Teststrategie vom 12.8., dass erwartungsgemäß die Zahl der Fälle ansteigen wird, daraus lässt sich aber nicht schlussfolgern, dass diese Fälle alle nur auf die erhöhten Tests zurückzuführen sind.

    Zum Sentinel-Programm: vermutlich ist das für Laien schwer zu interpretieren, was genau da gemacht wird und Schlussfolgerungen zu ziehen. Wenn das irgendwo ein Experte einordnen könnte wäre das super.

    Demos: Allgemein ist die Prävalenz von SARS-Cov-2 auch offiziell extrem niedrig. Eine kleine Überschlagsrechnung: wenn wir jetzt gerade etwa 24.000 aktive Fälle haben, bzw sagen wir das doppelte wegen der Fälle, die noch nicht bestätigt wurden und R=1, also rund 50.000. Das auf die Gesamtbevölkerung gesehen ist etwa 0,06%. Angenommen die bestätigten Fälle gehen wohl kaum auf eine Demo, dann bleiben wir bei 24.000 unentdeckten Fällen oder etwa 0,03% der Bevölkerung. Das mal 20.000 Teilnehmer heißt, es waren etwa 6 Teilnehmer infiziert. Das ganze war draußen, auch wenn die Leute sich meist nicht an Abstand oder Maskenpflicht gehalten haben, das heißt ein Superspreader kann auch nicht soo viele Leute anstecken. Wieviel genau weiß ich nicht, aber bei täglich 1700 neu bestätigten Fällen müssen die schon jeder 100 angesteckt haben, damit sich das wirklich bemerkbar niederschlägt.

    Eine ähnliche Rechnung kann man für die BLM-Demo anstellen, da weiß ich jetzt nicht wieviele Leute da waren, nur dass sie sich vermutlich mehr an die Masken- und Abstandspflicht gehalten haben.

    Risiko ist im Freien niedriger: das ist keine neue Erkenntnis. Es ist schon seit Monaten bekannt, dass Innenräume gemieden und oder gut belüftet werden sollen, dass Gaststätten ihre Tische nach draußen verlagern sollen, dass Parks und Spaziergänge völlig okay sind. Das RKI schreibt im gestrigen Lagebericht:

    Die neuen Fälle sind bundesweit verteilt und treten vermehrt unter Reiserückkehrern aber auch insbesondere in Zusammenhang mit Feiern im Familien- und Freundeskreis auf.

    Darüber hinaus treten Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern, Einrichtungen für Asylbewerber und Geflüchtete, Gemeinschaftseinrichtungen, in Zusammenhang mit religiösenVeranstaltungen sowie in fleischverarbeitenden und landwirtschaftlichen Betrieben auf

    Kurzum: Urlaubsorte erkennt das RKI als Hotspot (Sie meinen ja das kann man nicht messen), plus Orte wo Menschen in Innenräumen zusammenleben.

    Das RKI verzeichnet auch allgemein eine erhöhte Zahl Infektionen. Dass das *nicht* zu beobachten ist, stimmt einfach nicht. „Die Zahl der täglich neu übermittelten Fälle ist seit der Kalenderwoche 30 angestiegen. Diese Entwicklung ist sehr beunruhigend und nimmt an Dynamik zu.“ Das ist auch an den Grafiken ablesbar. Dass darunter weniger symptomatische Fälle als zuvor sein sollen ist wohl reine Spekulation.

  48. #48 Erwinzk

    das RKI schreibt selbst … dass erwartungsgemäß die Zahl der Fälle ansteigen wird, daraus lässt sich aber nicht schlussfolgern, dass diese Fälle alle nur auf die erhöhten Tests zurückzuführen sind.

    Aus den vom RKI veröffentlichen Zahlen geht hervor, dass seit KW 22 (Ende Mai) die Rate der Positivgetesteten konstant um 1% pendelt, unabhängig von großen Demos, Reiserückkehrern, Wannseepartys, etc. Das einzige, was in den letzten Wochen massiv gestiegen ist, ist die Anzahl der Tests (seit Ende Juni um über 100% von ca. 400.000 auf 875.000, siehe hier). Gefunden wird aber immer nur ein Grundwert positiver Befunde von ca. 1%.

    Mit diesem Befund ist es mathematisch unvereinbar zu sagen, die gestiegene Zahl an positiven Fällen sei nicht auf die gestiegene Testanzahl zurückzuführen.

    Zusatzannahmen, die diesen Zusammenhang aufheben könnten (wie zB: die Positivrate müsste gegen 0% gehen, deshalb ist der Verbleib bei 1% eine Steigerung) stellt das RKI mW nicht an. Korrigieren Sie mich gerne. Zusatzannahmen, die das aus den blanken PCR-Zahlen zu vermutende absolut geringe Infektionsgeschehen unterstützen, gibt es dagegen einige (siehe oben: Sentinel, keine Auswirkung von Großereignissen, kaum tatsächliche Neuerkrankungen).

    Das zeigt doch auch Ihre eigene Demo-Rechnung. Bei der von Ihnen errechneten extrem niedrigen Prävalenz sind Maßnahmen wie Abstandsgebot, Maske, oder gar Demonstrationsauflösung offensichtlich unverhältnismäßig. Das Virus besitzt und besaß wie wir mittlerweile wissen nie, auch nicht zum Höhepunkt der Epidemie, das Potential für exponentielles Wachstum. Als das RKI nach ein paar Wochen anfing, auch die Anzahl der jeweils durchgeführten Tests zu veröffentlichen, war sofort klar, dass zu keinem Zeitpunkt exponentielle Verbreitung vorlag (die Infektionsrate nahm innerhalb von ca. 4 Wochen von 3,1% vor KW 11 bis zu einem Maximum von 9% aller Tests in KW 14 zu, und flachte dann wieder ab).

    Man muss da vielleicht noch einmal einen Schritt zurück treten. Die Zahlen sagen, dass Sars-Cov2 nicht einmal in den Monaten der für Coronaviren typischen Welle (März bis Mai) und auch nicht vor den in Deutschland erhobenen Maßnahmen exponentielles Wachstum gezeigt hat (Rückrechnung des Infektionszeitpunkts beachten!). Selbst innerhalb stark betroffener Länder gibt es nur einzelne Ballungszentren (NY ist zB für die Hälfte aller Coronatoten der USA verantwortlich, vgl. auch Madrid für Spanien). Das ist ein sehr starkes Indiz, dass die Bilder aus Bergamo und NY nicht die Geschichte des Virus erzählen, sondern die Geschichte lokaler Faktoren, und man den tatsächlichen Zahlen aus Deutschland eher vertrauen sollte, als den Schreckensszenarien, die Bilder aus Bergamo oder Altersheimnachrichten aus Madrid entstehen lassen.

    Irgendwann müssen wir uns mE jedenfalls fragen, ob wir jetzt auf Grundlage tatsächlicher Evidenz arbeiten wollen, oder nicht.

  49. @Illen
    In Deutschland wird meinem Kenntnisstand nach mittlerweile mehr, sondern auch breiter getestet. Während es im März und April sogar noch nicht die Regel war, dass Kontaktpersonen von Covid-Kranken (nicht bloß SARS-CoV-2-Infizierten) getestet wurde, wenn sie selbst keine Symptome aufwiesen, werden mittlerweile (erfreulicherweise) viel mehr Menschen auf Verdacht getestet. Wenn man von gleichen Grundannahmen ausginge (Vorsichtsmaßnahmen, Verhalten etc.), müsste die Echt-Positiv-Rate der Test also eher sinken. Natürlich hängt das Ganze von so vielen Faktoren ab, dass man bei den geringen Raten keine zwingenden Zusammenhänge in diese Richtung aufstellen kann, aber als Beweis für das Gegenteil – wie von Ihnen angebracht – taugt es ganz sicher nicht.

  50. #50 Vonfernseher:

    Guter Gedanke. Die aktuellen RKI-Empfehlungen zur Testbreite bestehen allerdings bereits seit Mitte Juni, so dass für diesen Zeitraum eine vollumfängliche Vergleichbarkeit besteht und die Änderung der Kriterien als Zusatzannahme nicht möglich ist.

    Übrigens – nur nebenbei – argumentiert das RKI genau anders herum und geht davon aus, dass die Ausweitung der Kriterien nicht eine Verringerung, sondern eine Erhöhung der Positivrate zur Folge haben müsste, weil mehr unentdeckte Fälle registriert würden:

    Es wird angemerkt, dass eine Ausweitung der Testindikationen erwartungsgemäß zu einem Anstieg der Fallzahlen führt (da zuvor unentdeckte Fälle detektiert werden).

    Quelle

    Die PCR-Zahlen sind insgesamt mit zahlreichen Unschärfen kontaminiert, das ist sicher der Fall. Umso wichtiger – und bis vor kurzem selbst von Herr Spahn so vertreten – ist bei niedriger Prävalenz deshalb eigentlich der Blick auf das tatsächliche Infektionsgeschehen (der PCR weist nur das Vorhandensein von RNA-Bruchstücken in der Probe nach), das aber ebenfalls seit vielen Wochen keinerlei Grund zur Besorgnis gibt: keine Neuerkrankungen im Sentinel trotz Demos, Reiserückkehrern, und genereller massiver Abnahme der Maßnahmen-Compliance. Keine Neubelegungen in Krankenhäusern. Es gibt keine rationale Berechtigung, in Deutschland von einer drohenden zweiten Welle zu sprechen.

  51. @Illen

    Woher nehmen Sie das Wissen, dass es kein exponentielles Wachstum gegeben hat oder geben kann? Mit welcher Formel ist die Ausbreitung zu modellieren ohne Exponentialfunktionen? Unabhänging von Covid, das gilt für alle Epidemien. Meinen Sie, die Zahl der Infizierten ist von Februar bis jetzt linear von 0 auf 200.000 angestiegen? Polynomial? Wenn ja wieso?

    Die exponentielle Ausbreitung hat doch einen klaren Grund, der einfach daraus folgt, dass im statistischen Mittel jeder Infizierte X weitere Personen ansteckt, wenn sich an den Umgebungsparametern nichts ändert.

    Ansonsten ist wohl der springende Punkt, wie hoch tatsächlich die Falsch-Positiv-Rate der Tests ist.

  52. @Illen:

    „dass die Ausweitung der Kriterien nicht eine Verringerung, sondern eine Erhöhung der Positivrate zur Folge haben müsste“ – nein, es geht dem RKI um Fallzahlen, nicht die Positivrate. Lesen Sie das Zitat nochmal: „Anstieg der Fallzahlen“. Die Rate sollte runter gehen, wenn mehr Leute getestet werden, die eher eine niedrigere Prävalenz haben als die bisher getesteten Bevölkerungsgruppen.

    „keine Neuerkrankungen im Sentinel“ – das scheint ja irgendwie für Sie ein wichtiges Argument zu sein. Gibt es dazu auch eine Erklärung, was genau das bedeuten soll?

    „Keine Neubelegungen in Krankenhäusern“ – gibt es dazu Statistiken?

  53. @Illen
    Fallzahlen (absolut) steigen, Echt-Positiv-Raten (relativ) bleiben ähnlich. Passt doch.

  54. #53, 54 Erwinzk

    Damit mein Kommentar nicht erst freigeschalten werden muss, sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich entsprechende Links auf mehrere Kommentare verteile.

    Zur Frage exponentielles Wachstum:

    Die exponentielle Ausbreitung hat doch einen klaren Grund, der einfach daraus folgt, dass im statistischen Mittel jeder Infizierte X weitere Personen ansteckt, wenn sich an den Umgebungsparametern nichts ändert.

    Sie haben Recht, dass irgendwann vor dem beobachteten Zeitraum das Virus sich wie bei jeder Epidemie exponentiell ausgebreitet haben muss. Das hätte ich präziser formulieren müssen: Ich meinte, dass im beobachteten Zeitraum ab März – der Grundlage aller politischen Entscheidungen war – kein exponentielles Wachstum vorlag (sondern bereits beschränktes mit X<1), was nur mangels Veröffentlichung der Testanzahl nicht sofort klar war. Die beste Visualisierung, die ich online finden kann, ist diese hier (Folie 11). Falls Sie über Excel o.ä. verfügen, können sie die Werte (vom RKI oder aus dem Wikipedia-Lemma über Covid-19 in Deutschland) ja spaßeshalber einmal selbst modellieren. Aus der o.g. Modellierung wird jedenfalls klar, dass die exponentielle Phase Anfang März bereits vorbei war.

    Da man zudem noch ca. 12 Tage zum tatsächlichen Infektionsbeginn zurückrechnen muss (es wurden anfangs ja nur Personen getestet, die bereits Symptome hatten, d.h. die Inkubationszeit vorbei war), haben die offiziellen Maßnahmen jedenfalls keinen derart großen Einfluss gehabt, um die Verbreitungsgeschwindigkeit von exponentiell auf beschränkt/negativ umzukehren. Das Verbot von Großveranstaltungen könnte uU beigetragen haben, das bereits beschränkte Wachstum weiter abzuschwächen. Der Lockdown am 23. März kann hingegen rechnerisch keinen nennenswerten Einfluss mehr gehabt haben, weil der Scheitelpunkt (wieder Inkubationszeit berücksichtigen) bereits überschritten war.

    Ich hatte diesen Punkt in #49 erwähnt, weil aus diesen Daten folgt, dass für Deutschland nichts dafür spricht, dass Sars-Cov2 bezüglich seiner Ausbreitungsrate iZm der Wahrscheinlichkeit, tatsächlich zu erkranken, anders zu beurteilen ist als andere Coronaviren, und deshalb nicht davon ausgegangen werden kann, dass es auf einer Demo/etc. zu einem Superspreader-Event kommen kann (was die letzten Monate ja auch nirgendwo geschehen ist).

    Das habe ich in #49 aber mehr als unglücklich formuliert. Ich hoffe diese Klarstellung ist besser gelungen.

    Zum Sentinel-Programm des RKI und weiteren Statistiken sogleich siehe unten.

  55. #54 Erwinzk

    Die sog. Sentinel-Praxen sind ein Teil der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) am RKI. Etwa 700 Praxen melden dabei ganzjährig sämtliche bei ihnen aufschlagende Fälle von akuten Atemwegserkrankungen ans RKI und nehmen auch entsprechende Proben ab. Die werden beim RKI auf viele verschiedene Virusstämme analysiert, darunter seit der KW 8 auch Sars-Cov2. Übersichtsseite hier.

    Aus dem von mir in #46 verlinkten Wochenbericht ergeben sich die genannten fehlenden Neuerkrankungen. Das Sentinel-Programm gilt oder galt jedenfalls bisher als im europäischen Vergleich führend und als repräsentativ für das epidemiologische Geschehen in Deutschland bzgl. Viren.

    Die Erkenntnisse aus dem Sentinel-Programm sind auch Bestandteil der donnerstäglichen Veröffentlichungen des RKI zu Corona.

    Die Krankenhausbelegungen suche ich Ihnen gleich noch heraus.

  56. #55 Vonfernseher

    Fallzahlen (absolut) steigen, Echt-Positiv-Raten (relativ) bleiben ähnlich. Passt doch.

    Ich weiß jetzt nicht genau, was Sie damit meinen, aber zur Klarstellung: Meine Kritik lautet, dass die absoluten Zahlen für sich genommen im derzeitigen Kontext nichts aussagen, vielmehr ein völlig falsches Bild des tatsächlichen Geschehens vermitteln. Wenn wir ab morgen nur noch 10.000 Tests durchführten und nur noch 100 positive Fälle hätten, könnte man umgekehrt auch nicht sagen, dass das Infektionsgeschehen plötzlich massiv abgenommen hätte.

  57. #54 Erwinzk

    Die Krankenhausbelegungen mit akutem Atemwegssyndrom werden z.B. ebenfalls über das Sentinel-Programm erhoben. Dort nehmen deutschlandweit 70 Kliniken Teil. Im in #46 verlinkten Wochenbericht finden Sie die Zahlen auf Seite 6.

  58. @Illen

    Nein, Ihre Aussagen lauteten:

    Mit diesem Befund ist es mathematisch unvereinbar zu sagen, die gestiegene Zahl an positiven Fällen sei nicht auf die gestiegene Testanzahl zurückzuführen.

    Und:

    Aus den vom RKI veröffentlichen Zahlen geht hervor, dass seit KW 22 (Ende Mai) die Rate der Positivgetesteten konstant um 1% pendelt, unabhängig von großen Demos, Reiserückkehrern, Wannseepartys, etc.

    Sie bezweifeln nicht nur eine Aussage, sie behaupten daraus ihr Gegenteil, so als wären diese binäre Wahrheiten/Schaltzustände.

  59. #60 Vonfernseher

    Wenn die Rate der Positivtests immer 1% ist, egal wie viel Sie testen, dann können Sie (ohne Zusatzannahmen, s.o.) nicht schlussfolgern, es gebe ein steigendes Infektionsgeschehen. Das ist nicht der Beweis eines Gegenteils, sondern unmittelbarer Befund aus den Zahlen. Soweit Sie sich an meiner Formulierung „mathematisch unmöglich“ stören, lesen Sie das bitte nur im Zusammenhang meiner Aussage „ohne Zusatzannahmen“.

    Dass bei einer konstanten Durchseuchungsrate von 1% (oder: bei einer Falsch-Positiven-Rate bis zu 1%) die absoluten Zahlen schwanken je nach Anzahl der Tests, ist ein statistisches Artefakt.

    Würden wir jede Woche genau 500.000 Tests durchführen, würden wir auch jede Woche ca. 5000 positive Ergebnisse haben, bei genau gleichem Infektionsgeschehen (das ist zumindest die Aussage der Zahlen, die wir haben!). Nur dadurch, dass die Anzahl der Tests steigt, „steigt“ auch die Anzahl der positiven Resultate. Es sind deshalb aber nicht mehr Menschen infiziert als letzte Woche.

    Wenn Sie diesen Befund bezweifeln, müssen Sie im Sinne einer evidenzbasierten Diskussion Zahlen nennen, oder Zusatzannahmen, die den Befund erschüttern können. Es könnte ja in der Tat sein, dass die Testungen das Infektionsgeschehen nicht korrekt abbilden. Die einzigen anderen Zahlen, die ich kenne und oben angeführt habe, stützen aber die These vom sehr niedrigen und nicht steigendem Infektionsgeschehen.

    Wenn Sie andere Zahlen kennen gerne, oder andere Zusatzannahmen als Erklärung der konstanten Infektionsrate.

  60. @Illen, letzter Versuch

    Extrembeispiel zum Verständnis: Wenn Sie bei einer Ebola-Epidemie in Westafrika plötzlich anfingen auch in Kanada und Neuseeland massenhaft auf Ebola zu testen, in der Folge aber ihre gesamte Echt-Positiv-Rate bei der gleichen Prozentzahl verbliebe wie vorher, wäre es dann plausibler anzunehmen, dass a. die Rate in Westafrika gestiegen b. in Kanada und Neuseeland Ebola ausgebrochen ist oder sollte man c. nochmal anders hingucken?

    Wenn die Rate nun in Deutschland trotz geändertem Verhalten (Demos, Auslandsreisen, Wannseepartys) und bei ausgeweiteten Tests stagniert, ist dann a. das Infektionsgeschehen zwingend unabhängig vom Verhalten, b. vielleicht das geänderte Verhalten ein Gegenspieler zum sonst rückläufigen Infektionsgeschehen oder sollte man c. noch mal anders hingucken?

  61. #62 Vonfernseher

    Ich nehme an, Sie würden in Ihrem Extrembeispiel nicht zwischen den Zahlen für Westafrika, Neuseeland und Kanada unterscheiden, sondern einfach alle in einen Topf werfen und daraus eine Positiv-Rate bestimmen? In diesem Fall wäre eine gleichbleibende Rate ohne Aussagekraft, weil – mathematisch – sowohl überall Ebola ausgebrochen sein, als auch die Rate in Westafrika real stark gestiegen, als auch Ebola in Westafrika plötzlich verschwunden und in Neuseeland massiv ausgebrochen sein könnte, usw. Die einzig zulässige Antwort wäre also c) man muss anders hinschauen.

    Die Zusatzannahme, unter der Ihr Extrembeispiel auf Deutschland übertragbar wäre, ist also, dass es innerhalb Deutschlands starke regionale Unterschiede geben könnte, die durch die Gesamterfassung der PCR-Tests eingeebnet werden, weswegen die Zahlen nicht zwingend eine Stagnation des Infektionsgeschehens bedeuten.

    Das finde ich durchaus diskutierenswert. Ich würde aber erwidern, dass die Annahme sehr unwahrscheinlich ist. Zum einen gibt es vom RKI auch (wenigstens) eine Aufschlüsselung nach Bundesländern. Dort sind keine Abweichungen bzw. größeren Unterschiede erkennbar (vgl. im aktuellen Wochenbericht S.4). Die Infektion stagniert auf Ebene der Bundesländer überall.

    Jetzt könnte man natürlich sagen, die starken Abweichungen könnten innerhalb einzelner Bundesländer bestehen. Um dann noch die Aussagekraft eines Gesamtdurchschnitts von konstant 1% ernsthaft in Zweifel ziehen zu können, müsste es aber massive lokale Infektionscluster geben, die statistisch entsprechende Erkrankungsschwerpunkte mit gehäuften Krankenhausbelegungen erwarten ließen. Auch wäre zu erwarten, dass dies ganz besonders im Umfeld von größeren Veranstaltungen der Fall wäre. Beides trifft aber nicht zu.

    Eine andere mögliche Annahme – wenn ich Sie richtig verstehe – lautet, dass gerade das geänderte Verhalten auch ein Gegenspieler zum als sinkend angenommenen Infektionsgeschehen sein könnte, so dass die Stagnation auf 1% tatsächlich eine Steigerung gegenüber dem hypothetisch Möglichen darstellt. Auch das ist sicher diskutabel. Auch unter dieser Annahme wäre aber die Stagnation des Infektionsgeschehens real noch eine Stagnation, Ihr Argument wäre dann nur, dass es stattdessen sogar eine Absenkung der Infektionen geben könnte, wenn die Maßnahmen stärker beachtet würden. Solange die Rate konstant um 1% verbleibt, kann der Gegenspieler mathematisch nie eine Erhöhung der 1% verursachen, nur eine Verringerung auf 0% verhindern!

    Ob die Annahme des eigentlich sinkenden Geschehens plausibel ist, lässt sich meines Wissens aus keinen vorhandenen Daten bestimmen. Ich würde allerdings zusätzlich zu bedenken geben, dass selbst wenn sie zuträfe, wir über einen Bereich zwischen null und einem Prozent redeten, was per se keinerlei tiefgreifende Maßnahmen rechtfertigen würde: denn offensichtlich stagniert die Infektion auch ohne Maßnahmencompliance; das Ziel, sie von 1% auf 0% zu drücken, ist selbst unter der Annahme, dass die 1% keinerlei Falsch-Positiven-Anteil haben bezüglich weitreichender Maßnahmen offensichtlich unverhältnismäßig.

  62. Im verlinkten Wochenbericht befindet sich die Aufschlüsselung nach Bundesländern auf Seite 15, nicht Seite 4, Verzeihung!

  63. @Illen

    Wenigstens kommen wir so zu c. Ich habe nie gesagt, dass man die vom RKI hergestellten Zusammenhänge nicht anzweifeln darf (auch, wenn ich denen erst einmal bei solchen Aussagen mehr Kompetenz unterstelle als uns hier). Aber durch das Anzweifeln ergibt sich halt noch nicht die umgekehrte Schlussfolgerung, das Infektionsgeschehen wäre von den Verhaltensänderungen unabhängig, wie Sie sie aufgestellt haben.

    Dass sich durch eine Ausweitung der Tests die Verteilung von den Hotspots weg verbreitert, ist auch bei anscheinend kleinen 1% statistisch erwartbar. Das liegt einfach daran, wie es sich mit der Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung bei einer eng verzahnten und mobilen Gesellschaft wie der deutschen verhält. Wenn ohne Schutzmaßnahmen ein Infizierter im Schnitt 3 weitere Menschen ansteckt, dann durchseucht das so ein Netzwerk mit 1 Ausgangspunkt auf hundert Knoten relativ schnell. Mit Schutzmaßnahmen wird zwar das Infektionsrisiko gesenkt, aber durch den hohen Vernetzungsgrad wird es jetzt auch schwieriger vorherzusagen, welche Verbindung zu einem neuen infizierten Knoten führt (in beide Orientierungen)*. Auch bei „nur“ 1% ist es also schon sehr empfehlenswert, unnötige Verbindungen zwischen den Knoten zu kappen (Masken tragen, Kontakte meiden).

    *Was nicht heißt, dass dadurch die Nachvollziehbarkeit sänke. Es ist immer noch besser, wenige, aber komplizierte Infektionsketten nachzuvollziehen, als einem Komplex von vielen Infektionen mit kurzen, aber sich an einigen Kanten überlagernden Wegen nachzulaufen.

  64. #65 Vonfernseher

    Ich habe zwar gerade ausführlich dargelegt, warum man mE bei den für Deutschland geltenden Zahlen nicht zu c) gelangt, jedenfalls nicht unter den Annahmen, die Sie anstellen, aber gut. Geschenkt.

    Ein Aspekt scheint mir noch wichtig. Sie scheinen – ich hoffe ich stelle das jetzt in Ihrem Sinn dar – vor allem von der Überlegung auszugehen, dass es in unserer verzahnten Gesellschaft einfach unwahrscheinlich ist, dass ein Infizierter im statistischen Mittel nicht mindestens einen weiteren ansteckt. Schon deshalb erscheinen meine Darlegungen nicht stimmen zu können, auch wenn sie sich aus den Zahlen zunächst zu ergeben scheinen.

    Das scheint mir auch ein Kernpunkt zu sein. Ist es vorstellbar, dass unabhängig von Schutzmaßnahmen derzeit ein Infizierter im Mittel weniger als einen weiteren Menschen ansteckt, d.h. in der Wirklichkeit die meisten Infizierten niemanden anstecken, was sie auch tun?

    Zunächst: die vorhandenen Zahlen legen das nahe. Von einem empirischen Standpunkt aus wäre die Frage, was könnte diesen Befund erklären? Ein Ansatz ist natürlich, dass entscheidende Zusatzfaktoren in den Zahlen nicht berücksichtigt sind und in Wirklichkeit das Infektionsgeschehen doch ansteigt.

    Eine mit den Daten direkt vereinbare Antwort wäre zB: Sars-Cov2 könnte sich bzgl. der Infektionsmodalitäten (nicht: der schweren Verläufe) ähnlich verhalten wie die bisher bekannten Coronaviren, und das hieße: es bestünde mit Abklingen der typischen Welle eine große Kreuzimmunität (=Hintergrundimmunität); vulnerable Bevölkerungsteile haben die Infektion mit der Welle größtenteils durchgemacht, so dass nach Abklingen der typischen Welle in der Breite ein Infizierter kaum noch Andere infizieren kann. Ein Muster, das für alle bisher bekannten Coronaviren genau so galt und gilt.

    Es scheint mir jedenfalls als Fehler, ohne tiefere Begründung von der Fehlerhaftigkeit der Daten auszugehen, weil man sich die Ausbreitung eines Virus eben auf eine bestimmte Art vorstellt. Die Daten selbst sprechen mE eine klare Sprache, und sie stehen mit den Erfahrungen, die man in Deutschland mit anderen (Corona-)Viren epidemiologisch (!) hat, vollständig in Einklang.

    Finden Sie das überzeugend?

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