Die Podcast-Kritik (34)

Kein Grund, sich zu schämen: Ein Podcast über die Musik der 90er Jahre

Ich war Anfang Zwanzig, hatte gerade begonnen zu studieren, unter anderem Geschichte, und war nach einer Einführungsvorlesung in die Geschichte des Mittelalters („Latein müssten Sie schon können“) und einer Einführungsvorlesung in die Geschichte der Frühen Neuzeit („Französisch sollten Sie schon sprechen“) einigermaßen erleichtert, als mir ein Professor in einer dritten Einführungsvorlesung, diesmal zur Zeitgeschichte, erklärte: Zeitgeschichte, das sei die „Epoche der Mitlebenden“.

Zeitgeschichte ist ein mitwandernder Begriff. Und jene, die sie erforschen wollen, stehen vor dem gleichen Problem wie die Radiosender in unserem Land: Die Leute, um die es einem geht, werden immer älter, während man mit denen, die nachkommen, irgendwie nichts anfangen kann.

Zumindest was das Radio betrifft, ist die Verzweiflung der Hörer über diesen Umstand weniger groß. Einer Studie des Streamingdienstes Deezer zufolge hören die Deutschen im Schnitt mit 31 Jahren auf, neue Musik zu entdecken. Mit anderen Worten: Was bis Ende Zwanzig, Anfang Dreißig als Hit ins Hirn eingebrannt wurde, das wird es lange bleiben.

Als Student entdeckte ich gefühlt jede Woche einen neuen Hit, in der WG, auf Partys, Festivals, beim Rumhängen. Man musste nichts dafür tun. Es ist einfach passiert. Heute bin ich Mitte Dreißig, mache meine Steuererklärung selbst, hatte ein kaputtes Knie mit Reha, beschäftige mich in meinem Beruf mit halb- oder illegalen Sachen, mache Urlaub im Campingbus, ziehe auf dem Balkon Kräuter und habe einen Staubsaugerroboter. Man muss sich da nichts vormachen: So ist Erwachsensein, und neue Hits entdecken, das muss man sich jetzt vornehmen.

Doch manchmal, ganz selten, im Schutz der Nacht, da passiert es. Da finde ich mich mit ein paar Dutzend Menschen mit Berufen und Kindern und Steuererklärungen wieder, alle schwitzen, alle sind heiser, und fast allen kippt die Stimme in einem unendlich langgezogenen „nääääääääääääwar“ weg, bei dem Versuch, nachts um halb zwei Take Thats „Never Forget“ mitzusingen.

We’ve come a long way

Die Neunziger werden 30. Man liebt sie oder man hasst sie, aber wer heute Mitte Dreißig oder älter ist, für den sind Roxette, Ace of Base, Céline Dion und Elton John, Vangelis, Bryan Adams, Nirvana, Oasis, die Cranberries, Culture Beat und Snap!, Coolio, Haddaway, Dr. Alban, Tik Tak Toe, Blümchen, U 96, die Backstreet Boys, Caught in the Act, Take That und wie sie alle heißen oder hießen verbindende (und Erinnerung hochkochende) Elemente. Das kann einem unangenehm sein und peinlich, aber ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Es macht deutlich mehr Spaß, sich nicht dagegen zu wehren.

Es ist also nicht so überraschend, dass nach all den 80er Partys seit einiger Zeit auch 90er-Partys ein großes Ding sind. Und da nun auch Podcasts das große Ding sind, ist es nur sinnvoll, auch einmal über 90er-Jahre-Podcasts zu sprechen.

Es gibt schon länger einen von Oli P., der offenbar Teil eines eigenen Neunziger-Jahre-Portals namens „90s90s“ ist. Dahinter steckt „Regiocast“, eine der großen Privatradio-Ketten Deutschlands und naja: So klingt es auch. Schrill, laut, schnell, alles ist witzig, nichts geht in die Tiefe, es wird viel gelacht und gebrüllt und gebrabbelt, wenig Inhalt, viel gute Laune. Tut keinem weh, bringt aber auch keinem was.

Besser machen es seit einigen Wochen zwei Journalisten vom „Musikexpress“: mit „Never Forget – der 90er-Podcast“. Fabian Soethof und Stephan Rehm Rozanes, beide Musikjournalisten und Ende 30, haben sich vorgenommen, mit gebührend zeitlichem und wenig emotionalem Abstand die musikalischen 90er zu rekapitulieren. Ein Podcast, der sich auf die Musikgeschichte der 90er fokussiert, auf den niemand gewartet hat, der nicht eine Antwort auf die drängenden Fragen unserer Zeit gibt, schierer Eskapismus – zum Glück!

But we’re not too sure where we’ve been

Die erste Episode ist sowas wie die Zauberkugel der „Mini-Playback-Show“, durch die man als Hörer mit Fabian Soethof und Stephan Rehm Rozanes durch muss. Die beiden stellen sich vor, schwelgen in Erinnerungen, und quatschen sich danach durch die zehn meistverkauften Songs des Jahrzehnts in Deutschland. Zu Gast ist Kulturjournalist und Buchautor Joachim Hentschel („Zu geil für diese Welt“), der das 90er-Revival zu erklären versucht, und gemeinsam mäandern die drei Herren um die Frage: „Was hat dieses Jahrzehnt so herausragend gemacht, und wie wirkt es auf unsere Gegenwart ein?“

Diese erste Folge zündet noch nicht so richtig, ist aber wichtig, um den Kurs abzustecken, und für das Erwartungsmanagement. Denn man merkt hier schnell: Dieser Podcast ist nicht ironisch, will nichts abfeiern und ist kein Produkt, das auf dem Retro-Hype mitschwimmt. Unterhalten ja, aber nicht auf Kosten der Inhalte. (Wer einfach „nur“ unterhalten werden will, ist bei Oli P. besser aufgehoben.) Dieser Podcast hier hat einen historischen und einen analytischen Anspruch. Er untersucht sozusagen die Epoche der Mitlebenden, subjektiv, aber nicht irrational.

Danach widmet sich jede Folge einer anderen musikalischen Spielart der Neunziger. Bislang sind das: Alternative, Eurodance, Grunge und Girlgroups. Fabian Soethof und Stephan Rehm Rozanes haben eine Liste der jeweils 10 wichtigsten (nicht unbedingt: besten!) Neunziger-Songs aus der jeweiligen Schublade dabei, die dann ein paar Sekunden angespielt und mit Anekdoten zu den Songs, den Entstehungsgeschichten oder den Künstlern gespickt werden. Und dann gibt es noch einen Gast.

Für die Grunge-Folge ist das Ex-Viva-Moderator Nilz Bokelberg, in der Alternative-Rock-Folge ist Wolfgang Schrödl von Liquido zu Gast (der Mann hinter dem nicht totzukriegenden Hit „Narcotic“). Für Eurodance ist es Judith Hildebrandt (aka T-Seven) von Mr. President, und die Gastrolle in der Girlgroup-Folge könnte nicht besser besetzt sein als mit Marlene „Jazzy“ Tackenberg von Tic Tac Toe. In der nächsten Folge, die sich um Boybands dreht, kommt die famose Anja Rützel.

Ja, das ist alles ein bisschen nerdig. Ja, da reden meist nicht-mehr-ganz-so-junge weiße Kerle mit ihresgleichen. Ja, genau genommen ist auch das ein Laber-Podcast. Aber: Das sind wirklich sehr sympathische Gespräche, unverkrampft, unverstellt, mit ehrlichem Interesse und mit Expertise. Man kann beim besten Willen nicht sagen, dass man hier nichts lernt.

Zum Beispiel, warum der Sänger von Liquido jedes Mal unglücklich war, wenn er „Narcotic“ im Radio hörte. Oder wie sich das anfühlt, wenn immerzu Dutzende Leute um dich herumschwirren, weil du ein Star bist, und wenn das plötzlich aufhört. Und wir lernen, wie viele der 90er-Hits sich bei anderen Songs bedient haben und wer sich von wem wie inspirieren ließ.

We’ve had success, we’ve had good times

Einer der schlausten Köpfe und klügsten Autoren, wenn es um Popkultur geht, war Martin Büsser, der leider 2010 einer Krebserkrankung erlegen ist, und der beschrieb das 1997 so:

„Es sind die Prinzipien von Collage und Montage, die da im Feld von Pop anhand dieser Bands (…) stets als bahnbrechendes Neunziger-Ding hervorgehoben werden (…). Euphorie macht sich ob dieser Form der Collage freilich vor allem deshalb breit, weil sie Momente aus der Vergangenheit frei von jeglicher Ironie zu übernehmen versteht (…) als ein ‚Tribute to‘, über das Pop die große Erinnerungsmaschine wider das Vergessen in Gang setzt, an dem gerade Spezialisten sich weiden können.“

(aus: Martin Büsser: Stereolab. Zur Konstruktion von Indie-Stars. testcard #5: Kulturindustrie – Kompaktes Wissen für den Dancefloor. 1997.)

Man versteht nicht nur das bei diesem Podcast noch einmal besser, sondern auch, was in den Neunzigern eigentlich passiert ist und vorbereitet wurde: das genrelose Musikhören. Was es bedeutet hat, damals in einen Musikladen und dort dann in die Pop- oder Rock- oder Black-Ecke zu gehen, und wie sehr das heute vorbei ist, wenn man nicht mehr in Genres sozialisiert wird und stattdessen hört, was einem eine App, ein Algorithmus oder der Link eines Freundes in irgendeinem Chat eben so reinballert (ganz ähnlich wie mit Podcasts übrigens). Die Lust am sich Einwühlen in ein Genre ist vorbei. Niemand identifiziert sich mehr über irgendeine Subkultur und niemand regt sich noch ernsthaft darüber auf, wenn Musiker für nichts mehr stehen. Auch das ging in den Neunzigern los:

„Ebenso wie PC, Apple und Windows 95 aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken sind, ganz gleich, ob wir uns als Punks, Waver, Raver bzw. Ex-Punks (…) oder BWL-Studenten bezeichnen, ist Phil Collins dermaßen selbstverständlich zum Teil des Alltags geworden, daß sich heute weder jemand zu ihm bekennen muß noch gegen ihn sprechen, geschweige denn seine Platten kaufen. (…) Es blieb den Achtzigern vorbehalten, sich über Phil Collins aufzuregen.“

(aus: Martin Büsser: Phil Collins und das Prinzip „In the Air“ zu sein. Antipop 1998.)

Heute gibt es Analytics und Berater und Produzenten, die auf die ideale Länge eines Songs achten, damit er innerhalb bestimmter Streaming-Plattformen am besten funktioniert, und denen beigebracht wird, dass ihr Song am besten irgendeinen markanten Teil von maximal 15 Sekunden haben sollte, damit er in einem TikTok-Video viral werden kann und für eine Woche ein Hit ist. Ja, auch das Konzept „Album“ ist vorbei.

But remember this

Nach den zwar protestgeladenen und vom Kalten Krieg geprägten, aber eben auch so richtig satten, wohlhabenden Achtzigern war das Feiern und Musikhören in den Neunzigern unbeschwert. Wer will, konnte hier die ultimative gute Laune bekommen, und keinen hat es gestört. Das hörte ziemlich genau 2001 auf. Der Anschlag auf das World Trade Center markiert den Wendepunkt. Ab da war auch unbeschwert vorbei.

Podcasts sind inzwischen zu einer ernstzunehmenden journalistischen Gattung geworden, die, wie andere Gattungen auch, alle Widersprüche, Probleme und Ernsthaftigkeiten der Welt mit abbilden. „Never Forget“ erlaubt es sich auch, unbeschwert in Erinnerungen zu schwelgen. Denn das ist es, was wir, die in den Siebzigern und Achtzigern geborenen, die nächsten Jahrzehnte tun werden.

In unseren Altenheimen werden Roxette, Ace of Base, Celine Dion und Elton John, Vangelis, Bryan Adams, Nirvana, Oasis, die Cranberries, Culture Beat und Snap!, Coolio, Haddaway, Dr. Alban, Tik Tak Toe, Blümchen, U 96, die Backstreet Boys, Caught in the Act, Take That laufen. Sie werden Erinnerungen hochkochen. Und es wird uns weder unangenehm noch peinlich sein.

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