Wochenschau (77)

„Stammbaum­recherche“ – ein innerer Dialog

Ahnentafel von Ludwig, Herzog von Württemberg (1554-1593). Er ließ herrschaftliche Gebäude und Kirchen mit Stammbäumen und Wappentafeln ausstatten. Holzschnitt: Joachim Lederlin nach Jakob Züberlin

Stammbaumrecherche.

Was?

Stammbaumrecherche. Die Stuttgarter Polizei will eine Staumbaumrecherche betreiben. Bei den Festgenommenen der Krawallnacht.

WAS? Aber … Moooooment! Das hatte doch keiner so gesagt.

Nein, der Stuttgarter Polizeipräsidenten Franz Lutz hat am Donnerstag gesagt, dass bei „11 deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund“ ein „Migrationshintergrund noch nicht gesichert“ sei. Er erklärte:

„Und das bedeutet letztendlich Recherchen bundesweit bei den Standesämtern, um letztendlich diese Frage festzustellen.“

Die CDU hatte in einem Antrag nach den Biografien der Festgenommenen gefragt.

Und, das muss ich kurz hier einschieben, das Dokument hat wirklich schöne Stellen: Sie schaffen es, in der Einleitung die „Rassismuskeule“ gegen die Polizei zu kritisieren und zugleich abfragen zu wollen, welchen genauen Migrationshintergrund die Festgenommen haben und wie lange sie schon in Deutschland leben. Faszinierend finde ich auch die Formulierung vom „überwiegenden Migrationshintergrund“. Mein Migrationshintergrund macht jeden Morgen ein Referendum, ob er heute überwiegen darf.

In der „Stuttgarter Zeitung“ wurde das von Polizeipräsident Lutz erklärte Prozedere dann als „Stammbaumrecherchen“ zusammengefasst. Den Ausdruck hatte auch der Stuttgarter Stadtrat Marcel Roth (Grüne) zuvor in einem Facebookeintrag benutzt.

Also hat die Polizei nicht gesagt, dass sie „Stammbaumrecherchen“ machen wollen …

Nein, das Wort war eine journalistische Beschreibung, aber die Polizei wollte tatsächlich durch bundesweite standesamtliche Anfragen wissen, woher die Eltern kommen.

Ein aufgeladener Begriff

Ja, aber das ist doch schon ein Unterschied, ob ich „Stammbaumrecherche“ sage oder wissen will, woher die Eltern kommen.

„Stammbaumrecherche“ enthält ein biologistisches Framing, es klingt nach Ahnenforschung und genetischer Auswertung und DNA-Erhebungen, und diese Konnotationen sind vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte mehr als verstörend. Bei „Stammbaumforschung“ dachte ich für einen ersten entrückten Moment, man behandele Bürger hier wie Zuchthunde.

Und hier steht es ja auch: „Die Feststellung der Lebens- und Familienverhältnisse ist ein Teil der polizeilichen Ermittlungen, das ist eine Selbstverständlichkeit in einem Strafverfahren. Der Begriff „Stammbaumforschung“ ist da fehl am Platz. Unsere Polizei arbeitet professionell und korrekt.“

Der Begriff ist jetzt also am Wochenende einfach so aufgepoppt und ist dabei total überzogen. Das ist ein Anti-Euphemismus.

Naja, also dazu zwei Sachen: Ist er das? Überzogen, meine ich? Also wenn du bundesweit Standesämter abarbeiten willst, um herauszufinden, woher die Eltern einer Person kommen, ist das nicht Stammbaumforschung? So ganz sachlich runtergebrochen und unaufgelad…

… aber es ist in Deutschland aus gutem Grund nicht unaufgeladen und sollte es niemals …

Ja, ok, dann sagen wir mal, es sei ein zu ungeeignetes Wort, um zu beschreiben, was gemeint ist. Sagen wir mal, das Erfassen der Eltern-Herkunft sei „noch“ keine Stammbaumrecherche. Sagen wir mal, es sei ein Framing – dann bleibt der Prozess als solches dennoch höchst problematisch.

Moment, dazu kommen wir gleich, aber ich finde, du wischst hier die Notwendigkeit der Korrektheit und Präzision der journalistischen Sprache weg. Denn die journalistische Ungenauigkeit und dieses Framing haben die ganze Debatte doch erst so debattig werden lassen. Keiner der Verantwortlichen hat dieses Wort verwendet, aber alle regen sich darüber auf.

Nein, die Aufregung entstand aufgrund des Ermittlungsprozesses, der mit dem Wort bezeichnet wurde. Der empörte viele und widerspricht dem Gleichbehandlungsgrundsatz.

Das Erheben der elterlichen Herkunft?

Ja.

Familiäre Hintergründe

Aber die Polizei schreibt: „Die Feststellung der Lebens- und Familienverhältnisse ist ein Teil der polizeilichen Ermittlungen, das ist eine Selbstverständlichkeit in einem Strafverfahren.“ Also ist das offenbar Standard.

Ja, aber sie schreiben: „Lebens- und Familienverhältnisse“, nicht „Nationalität“. Das ist ja ein bisschen was anderes.

Aber das macht die Sache ja noch mehr zur Routine. Nach Paragraf 43 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) ist die Überprüfung von familiären Hintergründen legitimer Teil der Arbeit. Und selbst wenn es nur um die Nationalität ginge, scheint das auch nicht unüblich. An anderer Stelle sagt der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU), es werde „in einzelnen Fällen […] die Nationalität der Eltern von Tatverdächtigen durch Anfragen beim Standesamt erhoben, um zu klären, ob ein Migrationshintergrund gegeben ist.“

Aber in dem Protokoll von Lutz steht zum Beispiel, dass es nicht „primär polizeiliche Aufgabe“ sei, sondern „jetzt im Prinzip genau diesem Verfahren hier in Stuttgart geschuldet, dass diese Ermittlungen so geführt werden.“ Es wird also in diesem Fall so gemacht, weil es in diesem Fall so gemacht wird. Das scheint also doch nicht ganz so üblich und Standard. Und das lässt es umso seltsamer erscheinen.

Dass man sich darüber informieren möchte, woher die Täter kommen? Außerdem war es ja nicht nur eine polizeiliche Idee, sondern auch ein politischer Auftrag, da der Ministerpräsident Winfried Kretschmann Innenminister Strobl bat, ihm einen Bericht über die Beteiligten und ihre Motive vorzulegen.

Aber welchen Unterschied macht es für die Polizei, wo die Eltern einer festgenommen Person herkommen?

Sind diese Informationen nicht Teil der soziobiografischen Umstände? Ist das nicht hilfreich für das Verständnis von Motiven und auch für die Prävention von Kriminalität?

Nee, Nationalität ist ja kein soziales Milieu. Wenn du anfängst, bei der Untersuchung von Kriminalität Nationalitäten an Kriminalität zu koppeln, oder einen Zusammenhang zwischen nicht-deutschen Eltern und Kriminalität konstruierst, dann ist das Rassismus. Für eine ernsthaft soziobiografische Betrachtung fehlen sozioökonomische Aspekte: Bildungsgrad, Alter, Geschlecht, Einkommensverhältnisse, Berufschancen – sowas. Nicht woher eine Person kommt, ist wichtig; wo sie denn mal hin könnte, ist bei der Prävention viel entscheidender. Was hast du denn mit der Info gewonnen, dass ein Elternteil aus Sri Lanka kommt?

Das Schaufensterglas geht dadurch nicht auf aufschlussreichere Art kaputt. Die Sprecherin des Bundesjustizministeriums sagte gestern, dass ihr „keine Studien“ bekannt seien, „die einen Zusammenhang der Nationalität der Eltern zu irgendwelchen Taten nahelegen“.

Außerdem: Über die Hälfte der jungen Stuttgarter hat einen Migrationshintergrund, das heißt, wenn man eine Gruppe von ein paar Jugendlichen ganz wahllos zusammenstellen würden, bestünde immer über die Hälfte aus jungen Männern mit Migrationshintergrund, was bedeutet, dass sie statistisch gesehen zumindest nicht überproportional an den Krawallen beteiligt waren, sondern recht deckungsgleich mit der Demographie der Stuttgarter im Allgemeinen. Sprich, man hat mit der Info zum Migrationshintergrund genau keinen informationellen Mehrwert.

Was man also vielleicht ins Auge fassen sollte, wenn man in Stuttgart Lösungsansätze finden will, ist tatsächlich das Alter – und man sollte auch Corona und die sozialpsychologischen Auswirkungen der Ausgangsbeschränkungen einbeziehen. Da hat sich vermutlich gewaltbereiter Frust aufgestaut, der sich dann im wieder offenen, öffentlichen Raum entladen hat.

Krawalle in Stuttgart sind interessanterweise kein neues Phänomen. Siehe zum Beispiel die „Halbstarkenkrawalle“, die von 1956 bis 1958 stattfanden. Da war der gemeinsame Ermittlungs-Nenner: junge Männer, die auf Randale gebürstet sind. Auch damals war die Bundesrepublik erschüttert von dieser hereinbrechenden, flegelhaften Gewalt, die komplett anlasslos anmutete.

In der Krawall-Prävention ist mit der Herkunft der Eltern wenig gewonnen, wenn es soziologisch offenbar eher eine Frage von Geschlecht, Alter und ökonomischen Perspektiven ist. Dass diese Erhebung als politischer Auftrag daherkommt und im Protokoll steht, dass es normalerweise nicht „primäre Aufgabe ist“, macht diesen Sachverhalt durchaus problematisch.

Racial Profiling

Ja, aber du sagt das so, als hätten Polizei und Politik eine gegen die Jugendlichen gerichtete Agenda, als würden die sich absichtlich nur auf die Nationalität einfahren. Klar, ich habe auch die „Bild“-Seite-1 von damals vor Augen, aber die Polizei fährt da ja keine Kampagne. Es geht um Aufklärung.

… die politisch auf eine sehr spezifische Art bestellt wurde und die Ausstehende eben verwundert zurücklässt: Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes hält das Prozedere für „rechtlich fragwürdig“; Irene Mihalic, innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen, findet den Fokus auf einen potenziellen Migrationshintergrund der Tatverdächtigen auch bedenklich; Gabriele Nuber-Schöllhammer, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stuttgarter Gemeinderat, ist irritiert, wie detailreich die Herkunft die Tatverdächtigen aufgeschlüsselt werde, und Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum, sagt:

„Dass man eigens zum Standesamt gehen soll, um eine Information zu bekommen, die keinen wesentlichen Einfluss auf die Straffälligkeit hat, scheint mir sehr ungewöhnlich.“

Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) erklärte gestern sogar:

„Aus meiner Sicht ist das die gleiche Kategorie wie Racial Profiling.“

Das nur, um dir zu sagen: Es ist seltsam, es setzt den Fokus auf die falschen Faktoren, es ist gegen die Gleichbehandlung, und vermutlich wird Thomas Fischer uns morgen erklären, warum das alles total ok ist.

Fest steht aber: Durch eine unklare Kommunikation seitens der Polizei darf einfach nie der Eindruck entstehen, die Abstammung hätte einen Einfluss auf die Straffälligkeit. Nicht mal der Eindruck. Die Polizei ist hier auch ein Medienakteur. Und wenn gar nicht bemerkt wird, dass durch die Äußerungen diese Wahrnehmung entstehen kann, dann ist auch das Ausdruck eines Problems mit dem strukturellen Aspekt von Rassismus.

Deutsche und „deutsche“ Jugendliche

Vielleicht wurde das alles nur schlecht kommuniziert. Vielleicht ist das auch nur ein Problem schlechter Pressearbeit. Möglicherweise ist das, was ihnen vorgeworfen wird, aber weniger skandalös, als man annehmen möchte. Am Sonntag hat die Polizei noch getwittert:

„Die Lebens- und Familienumstände können sich auf das Strafmaß und die abschließenden Präventionsmaßnahmen auswirken.“

Das ist doch etwas Gutes!

Und wie soll dieses Gute konkret aussehen? Was ist zum Beispiel mit dem einen, dessen Elternteil aus Griechenland kommt? Was genau wäre dann eine Präventionsmaßnahme für den Sohn eines Griechen?

Hm.

Du bist zu wohlwollend.

Und du zu kritisch.

Dann sag mir doch mal wie der Tweet weiterging, den du gerade zitiert hast.

„Die Nationalität der Eltern wird auch bei ‚deutschen‘ jugendlichen Tatverd… „. Oh.

Ja.

Da steht „deutschen“ in Anführungszeichen.

Die Anführungszeichen. Eher Überführungszeichen. Sie sind ein Indikator für den strukturellen Aspekt eines apparatlichen Problems: Der Verfasser des Tweets versteht vielleicht selbst nicht mal wirklich, warum diese Interpunktion so ein Politikum ist.

Naja, es ist halt ein Lapsus auch. Passiert.

Siehst du, sogar du verstehst die Tragweite nicht: Es ist eine Katastrophe, dass es vor dem Gesetz offenbar Deutsche und „Deutsche“ gibt.

Ah, Moment, nicht so voreilig, die haben das noch erklärt:

„Das bezog sich auf den Vorwurf, dass wir die Nationalität der Eltern nur bei Jugendlichen mit mutmaßlichem Migrationshintergrund abfragen. Das wollten wir klar dementieren.“

Ach so! Das heißt, sie meinten mit „deutschen“ eigentlich deutsche Deutsche? Dass also sogar bei „deutschen“ Deutschen oder bei deutschen „Deutschen“ auch die Nationalität der Eltern abgefragt wird, um zu dementieren, dass sie die Nationalität der Eltern nur bei Jugendlichen „mit mutmaßlichem Migrationshintergrund“ abfragen? Also ermitteln sie schlussendlich die Nationalität von allen Eltern, also auch von … den deutschen – sorry, „deutschen“ Eltern?

¯\_(ツ)_/¯

Erst wird durch Seehofer festgestellt, dass Rassismus nicht vorhanden sein könne, weil er verboten ist. Jetzt soll der Rassismus-Vorwurf widerlegt werden durch die Behauptung sinnfreier Gründlichkeit?

Das passiert, wenn man den Laubwald vor lauter Stammbäumen nicht mehr sieht.

Und wenn in diesem Wald ein Stammbaum umfällt, hören wir dann noch den Rassismus?

Eindeutig keine Philosophen in deinem Stammbaum.

In deinem ja auch nicht.

22 Kommentare

  1. „wenn man eine Gruppe von ein paar Jugendlichen ganz wahllos zusammenstellen würden, bestünde immer über die Hälfte aus jungen Männern mit Migrationshintergrund“
    Nein. Die Hälfte bestünde aus jungen Männern, und davon wiederum wäre die Hälfte – oder ein Viertel der Gesamtgruppe – junge Männer mit Migrationshintergrund.

    Dass die Formulierung „Stammbaumrecherche“ so nicht gefallen ist, ist ja einerseits schön, andererseits, najaaaa.
    Die Frage ist ja: angenommen, eine konkrete jugendliche Person ist der Sohn, Enkel und Urenkel ausschließlich „schwäbischer Hausfrauen und Häuslebauer“, wäre das strafverstärkend – „ohne Migrationhintergrund hast du keine Ausrede“ – oder eher doch strafmindernd? Denn wenn es egal wäre, hätte das keinen Sinn.

  2. Man kann die Lebens- und Familienumstände (mit denen eh etwas anderes als die bloße Abstammung gemeint ist) auch einfach dadurch ermitteln, dass man den Tatverdächtigen und dessen Eltern befragt. Was daran nicht reichen sollte, erschließt sich mir nicht. Eine Abfrage bei Standesämtern stinkt hingegen schon sehr stark nach einer Einteilung in „Halbgrieche“ oder „Vierteltunesier“. Hatten wir schon mal, sowas. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/c/c7/Nuremberg_laws_Racial_Chart.jpg/1280px-Nuremberg_laws_Racial_Chart.jpg

  3. @Vannay:
    Dann müsste man aber voraussetzen, dass die Verdächtigen und ihre Eltern ehrlich sind.
    Irgendwie glaube ich nicht, dass die Polizei das macht. Weil: wenn man sie für ehrlich hielte, würde man sie nicht verdächtigen.

  4. Was hätte denn die Polizei davon, meinen Migrationshintergrund festzustellen? Zumal sie da weiter graben müssten, denn meine Eltern haben beide die deutsche Staatsbürgerschaft, aber das war nicht immer so, deshalb habe ich einen Migrationshintergrund.

    Das Strafmaß vom Familienumständen abhängig zu machen, halte ich auch für falsch. Das klingt in der Theorie bestenfalls so, dass ein Täter mit schwierigen Kindheitsverhältnissen und Armut mildernde Umstände erfährt. Praktisch folgt daraus bestimmt nur, dass Kinder von Reichen Dummejungenstreiche machen und Arbeitslosenkinder sich schon mal auf den Knast vorbereiten dürfen, weil sie es ja eh nicht zu mehr bringen.

  5. „Zumal sie da weiter graben müssten, …“ tja, das weiß die Polizei natürlich nicht im Voraus, oder?
    Bei mir hat man in der Schule einen indischen Hintergrund vermutet. Aus Gründen, die weder mit meinem Namen, noch mit meinem Äußeren zu tun haben.

  6. „Hatten wir schon mal, sowas.“

    Offenbar ist diese unselige Denke nicht rauszukriegen aus den Köpfen.
    Die Älteren unter uns erinnern sich noch an die beiden Prozesse gegen den Football-Star O. J. Simpson. Im ersten vor dem Strafgericht wurde er von der Beschuldigung des Mordes freigesprochen, im zweiten vor dem Zivilgericht zum Schadenersatz wegen Mordes verurteilt.

    Ich will hier keine Diskussion starten zur Frage schuldig/unschuldig.
    Mir geht es um einen anderen Aspekt. Nämlich die Bezugnahme in der Berichterstattung auf die Hautfarbe des Beschuldigten. Da rollten sich schon die Fußnägel hoch und wieder runter, als der SPIEGEL titelte:
    SCHWARZ , DICKE LIPPEN , SKRUPELLOS.

    https://www.spiegel.de/politik/ausland/mutmasslicher-morder-schwarz-dicke-lippen-skrupellos-a-776076.html

  7. @3: Na, da geht aber einiges durcheinander: Die Jugendlichen werden verdächtigt, weil es offenbar Indizien gibt, dass sie an krawallartigen Auseinandersetzungen/Plünderungen beteiligt waren. Nicht, weil sie ehrlich oder unehrlich waren.

    Und doch, ja: es ist die absolut übliche Vorgehensweise, gerade mit jugendlichen Beschuldigten zu reden, seitens der Polizei, der Jugendgerichtshilfe, evtl. seitens der Staatsanwaltschaft und schlussendlich auch des (Jugend)gerichts. Und zwar gerade deshalb, um die familiären Lebensverhältnisse aufzuklären. Oder auch nicht: Jeder Beschuldigte hat das Recht, dazu auch zu schweigen. Ob ihm das etwas nützt, muss er mit sich und seinem Verteidiger ausmachen.

    Zugegeben, meine Staatsanwaltsstation ist schon länger her und im Straf(prozess)recht kenne ich mich auch nicht wirklich aus, aber von solchen angeblich routinemäßigen Standesamtsabfragen höre ich jetzt zum ersten Mal. Ich stelle mir das auch einigermaßen absurd vor, wenn der Angeklagte im Prozess nähere Angaben zu seinem familiären Hintergrund und zu seinen Lebensverhältnissen verweigert, was sein gutes Recht ist, und das Gericht dann anfängt, Standesamtsabfragen vorzulesen (Sachverhalt, der zur Grundlage des Urteils gemacht wird, muss in die Hauptverhandlung eingeführt werden), um festzustellen, dass die Mutter aus Syrien kommt, der Vater deutscher Staatsangehöriger ist (aber, man hat da ganz genau geforscht, dessen Eltern aus Ungarn und Dänemark stammen!), um dann mit diesen Informationen – und nur diesen – was genau anzufangen? Das ist doch Humbug.

  8. „Nicht, weil sie ehrlich oder unehrlich waren.“ Habe ich auch nicht behauptet.
    „…um dann mit diesen Informationen – und nur diesen – was genau anzufangen?“ Keine Ahnung?
    Entweder, um sie gegen oder für die Angeklagten zu verwenden, vermutlich, da sie sonst egal wären, und wenn „man“ schon denkt, dass diese Infos in die eine oder andere Richtng relevant wären, wäre es sinnvoll, die selbst zu recherchieren.
    „Ich stelle mir das auch einigermaßen absurd vor, …“ ja, ich habe auch nicht behauptet, dass die relevant seien. Der Verdacht, der nicht nur oben formuliert wurde, ist doch der, dass man den Beschuldigten einen Strick daraus drehen will. Wenn ja, darf man sich ja nicht darauf verlassen, dass die Beschuldigten sich selbst reinreiten.

  9. @8: „Habe ich auch nicht behauptet.“ Also für mich liest sich Ihr letzter Satz in #3 anders. Aber vielleicht reden wir ja aneinander vorbei. Ich möchte auf Folgendes hinaus:

    Die CDU fragt mit sehr unverhohlenen Racial Profiling-Gelüsten nach Migrationshintergründen der Verdächtigen. Wegen dieser Frage fängt die Polizei plötzlich an, Standesamtsanfragen durchzuführen. Das halte ich für einen in der alltäglichen Praxis bislang nicht oder jedenfalls kaum beschrittenen Weg (gut so!). Spätestens nach Lautwerden von Kritik dürfte man bei der Polizei erkannt haben, dass das genau das ist, was es ist: Rassismus. Deshalb versucht man nun, das als Ermittlung der Lebens- und Familienverhältnisse zu „verkaufen“, etwas, was das Jugendgerichtsgesetz in § 43 vorschreibt, frei nach dem Motto: Wir machen ja nur, was im Gesetz steht. Was aber Unsinn ist, denn a) sind die Lebens- und Familienverhältnisse weit mehr als Migrationshintergrund ja/nein/vielleichteinbisschen und b) ist es Quatsch, danach bei Standesämtern zu forschen, wenn Informationsquellen vor Ort sind. Dazu muss man § 43 JGG nur mal ganz durchlesen.

  10. Ok, das war verkürzt – wenn man vermutet, jemand habe eine Straftat begangen, vermutet man außerdem iose Unehrlichkeit, nicht umgekehrt.

    Ungeachtet, welche rassistischen Vorurteile zusätzlich darein spielen – wenn die Beschuldigten der Ansicht sind, es würde ihnen schaden, ihren Migrationshintergrund zu erwähnen, werden sie es nicht tun. (Oder umgekehrt, falls jemand das denkt.) Oder gerade, wenn die Polizei ihre rassistischen Vorurteile beweisen will, wird sie sich nicht auf die Aussage von Leuten verlassen, die sie verachtet.

  11. Sehr schön die rassistische Grundhaltung fast aller Beteiligten herausgearbeitet.
    ich bin übrigens:
    deutsch, liechtensteinisch, „deutsch“, „deutsch“, polnisch, „deutsch“, roma, „ungarisch“
    Bislang nicht kriminell …

  12. @11
    Naja, die jetzigen „Windsors“ aka „Sachsen Coburg-Gotha“ sind bisher nicht als kriminell aufgefallen.(Weitestgehend)
    Die Titel und das Vermögen darf man aber doch nach heutigen Masstäben als kriminell erworben bezeichnen?
    Und das innerfamiliäre Verhalten ohnehin?
    Namen? Herkunft?
    Natürlich halten wir uns keine Sklaven mehr, aber die Tochter shopt im „Primark“?
    Und unser Smartphone kommt woher?
    Die Tomatensosse aus Italien? Nein?
    Unser Grillfleisch? Ja, richtig, aus Rheda-Wiedenbrück.
    Und das Frühstücksei am Sonntag?

    Noch Fragen?

  13. @12
    Ich meinte kriminell im engeren Sinne (so wie im Artikel). Also das System, dass in unserer Gesellschaft angewendet wird, um die unteren Schichten zu disziplinieren.
    Wenn der Friedrich sagt hinter jedem großen Vermögen, steht ein großes Verbrechen, meint er eine andere Art von Kriminalität.
    Leider kann ich auf kein Vermögen wie die Windsors zurückgreifen.

  14. Ich bin dafür, dass die Polizei „Richial Profiling“ einführen sollte: In Problembezirken wie Berlin-Zehlendorf oder München Nymphenburg dürfte die Polizei dann grundlos teure Autos anhalten und Fahrer und Halter überprüfen, ob sie pauschal Steuerhinterzieher sind (eines der zentralsten Delikte unsere Gesellschaft) . Das mit dem Pauschal ist ist auch genauso gemeint, denn viele Reiche hinterziehen nun mal Steuern oder verschleiern Vermögen. Das muss man ja auch mal aussprechen dürfen in diesem Lande. Und unsere Polizei muss ja auch ihre Arbeit machen dürfen, ohne von irgendwelchen Leuten angegriffen zu werden, die diese reichen und kriminellen Intensivtäter in Schutz nehmen. ;-)

  15. @Alex
    In diesen üblen Problembezirken der Parallelgesellschaft leben viele schon in schon in der 3.-4. Generation Steuerhinterzieher. Da tut die Polizei gut daran denn Stammbaum zu durchleuchten.

  16. ich lass das mal hier. ist ein Kommentar von woanders:

    „Ich halte die Bezugnahme auf § 43 Jugendgerichtsgesetz (JGG) für eine Schutzbehauptung. Es ist richtig, dass die Lebens- und Familienverhältnisse von Jugendlichen (und NUR Jugendlichen!) ermittelt werden sollen. Ich halte es für sehr, sehr unüblich, dass die Polizei das macht. Erstens, weil sie gar nicht dafür ausgebildet ist, bei der Polizei arbeiten nämlich ausgebildete Polizisten und nicht ausgebildete Sozialarbeiter.

    Zweitens, weil die Polizei dafür gar nicht zuständig ist. Denn die „Erforschung der Persönlichkeit, der Entwicklung und des familiären, sozialen und wirtschaftlichen Hintergrundes des Jugendlichen“ ist gemäß § 38 Abs. 2 S. 2 JGG Aufgabe der Jugendgerichtshilfe und die ist auch in Stuttgart Teil der Stadtverwaltung („im Haus des Jugendrechts“ sagt die Website der Stadt Stuttgart) und nicht der Landespolizei von Baden-Württemberg.

    Soviel zur abstrakten Rechtslage. Zufällig arbeitet ein Schulfreund von mir bei der Jugendgerichtshilfe, zwar in NRW, aber so unterschiedlich dürfte die Handhabung nicht sein. Er ist von der Angelegenheit milde erstaunt. Dass jedenfalls die Polizei wie derzeit ihre Ermittlungen über das reine Tatgeschehen hinaus auf die familiären Umstände ausweitet hat er in der Form in seinem Bereich jedenfalls noch nicht erlebt und ist auch, siehe oben, der Auffassung, dass die Polizei da ihre Befugnisse überschreitet.

    Solange mir also von Seiten der Polizei Baden-Württemberg niemand die Weisung der Jugendstaatsanwaltschaft oder das Amtshilfeersuchen der Jugendgerichtshilfe zeigt, in dem steht, dass bitte die Polizei die Ermittlungen zur Staatsangehörigkeit durchführen soll, stelle ich mir das Zustandekommen dieser Angelegenheit ungefähr wie folgt vor:

    „Du, Erich?“ „Joh?“
    „Desch sin a gans schen viele Deitsche a dabei, gell?“
    „Gell.“
    „Wolle mer doch amol sehn, ob die ned a Migrationshinnägrunnd ham, gell?“
    „Joh! Ruf Du schonmol de Standesämtle im gannze Bundesgebied an, ich hol a Drollinger fürsch zum dringge beim tällefoniere, gell?“

    Ernsthaft, § 43 JGG ist da nur vorgeschoben. Die wollten die Statistik mit dem Migrationshintergrund aufpolieren. Ob die nun doch mehr „Ausländer“ finden wollten, als sie nach Passlage haben oder ob sie damit irgendwelchen rechten Verschwörungstheorien (ist ja sehr beliebt in rechten Kreisen bei „Täter ist deutscher Staatsangehöriger“ direkt zu schreien „Ja, der Täter vielleicht, aber sicher nicht der Ur-Ur-Urgroßvater seiner Tante dritten Grades! Ausländergewalt!1elf!“) direkt vorbeugen wollen, ist mir übrigens gleichgültig. Das war meiner Auffassung nach schlicht nicht ihr Job.

    Nachtrag: Jugendgerichtshilfe ist normalerweise bei den Jugendämtern im Kreis angesiedelt. Aber Stuttgart ist kreisfreie Stadt, daher Stadtverwaltung.“

  17. Die Frage nach dem kulturellen Hintergrund mag ja legitim sein unterstellt man mangelnde Integration als einen der Faktoren für das aufständische Geschehen. War vielleicht die Identifikation mit den Rassenunruhen in den USA wegen der dortigen Polizeigewalt eine der Ursachen? Das Geschehen entzündete sich ja bei einer Polizeikontrolle und Teile der Hip Hop Szene ist stark aus den USA beeinflusst, inklusive der Verherrlichung krimineller Gewalt. Wenn jetzt ein Teil junger Menschen mit Migrationshintergrund dieses Rollenbild amerikanischer, meist farbiger Ghettokids übernehmen und sich damit in der deutschen Gesellschaft als Subkultur zu integrieren bzw, etwas darstellen, so kann der Migrationshintergrund theoretisch relevant sein. Viel wichtiger ist jedoch die Akzeptanz Menschen verachtender Werte und Normen, die keinesfalls auf Jugendliche mit Migrationshintergrund beschränkt ist. Ich fühle mich auch nicht wohl dabei, wenn so etwas von unqualifizierten Polizisten ausgewertet wird. Aber als Arbeitshypothese der Anomieforschung für global um sich greifende Ausschreitungen angesichts polizeilicher Übergriffe in einem fernen Land halte ich das für OK und keine PC wird mich davon abhalten darüber nachzudenken. Entscheidend jedoch ist die Identifikation der Jugendlichen und nicht ihr Elternhaus, gerade die Subkultur setzt oft eine Abnabelung davon und ein Gegenkonzept zur wahrgenommenen Gesellschaft voraus. Welches in der Party Szene nur rudimentär vorhanden sein dürfte. Insofern ist hier von multiplen Kausalitäten auszugehen und in vielen Fällen die Psychologie zu befragen.

  18. @CHRISTOPH KUHLMANN
    lese das ja gerade erst, kann ja nicht ernst gemeint sein?!
    Also, Gewalt, Kriminalität etc. wird nicht nur im Gangster Rap thematisiert. „But I shot a man in Reno, just to watch him die“. Folsom-prison Blues.
    Rap, Rechtsrock, Punk, Ska, Metal, Country … Sie verwechseln Korrelation und Kausalität, und das wird nicht spannender, nur weil es dem alten Narrativ folgt, welches schon die Sumerer über die Jugend stöhnen liess.

    Soviel zu der von ihnen analysierten „Relevanz“, die festzustellen, es schon ein wenig mehr Durchblick erforderte.

  19. nun, tatsächlich hat thomas fischer zum thema geschrieben und argumentiert dass „Gleichbehandlung (Art. 3 Grundgesetz) bedeutet, Ungleiches ungleich zu behandeln. Und die ethnische, soziale und familiäre Herkunft ist ein Ungleichheitsfaktor von großem Gewicht. Aus Gründen der antirassistischen Tugend soziale Ungleichheit für nicht existent zu erklären, würde die Anliegen des Gleichheitssatzes auf den Kopf stellen“
    und ich persönlich finde dass zumindest dies ein punkt ist, denn natürlich ist bei der frage nach dem strafmaß der überführten täter (m/w/*) diverses zu berücksichtigen, stichwort mögliche mildernde umstände

    https://www.spiegel.de/panorama/justiz/stuttgart-und-die-stammbaumforschung-der-stammbaum-kolumne-a-a119b893-c50d-4c96-ad87-a5d3826b071a

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