Wochenschau (65)

Corona und die schwer erträgliche Vorläufigkeit unseres Wissens

In der zwölften Ausgabe des NDR-Podcasts des Turbo-Virologen Christian Drosten gab es einen erinnerungswürdigen Moment: als er seine Meinung über die Schließung der Schulen revidierte. Hatte er die Folge zuvor noch dagegen argumentiert, erklärte er nun, er habe sich geirrt. Nach der neuen Informationslage sei es nun besser, die SchülerInnen zu Hause zu lassen.

Eine Fehleinschätzung so transparent einzugestehen, ja, der eigentlich selbstverständliche Umstand, auf Grundlage neuer Informationen die eigene Meinung zu ändern, war bemerkenswert, weil es in der Öffentlichkeit so selten vorkommt. Vor allem, wenn jemand als Experte besetzt wurde und in einer Zeit von andauernden Bewertungen eines virus in progress absolute Gewissheiten bieten soll – zumindest in der oft verkürzenden Dramaturgie der Informationsgesellschaft und Aufmerksamkeitsökonomie.

Exemplarisch dafür, wie sowohl wir Rezipienten als auch Medien und Medienschaffende in Bezug auf das Virus oszillieren, möchte ich ein eigenes Umdenken transparent machen. Das wird jetzt etwas sehr insiderig und introspektiv, sehen Sie es mir nach, ich bin seit zehn Tagen in selbstverodneter Quarantäne, da wird man etwas selbstdrehend.

Für den „Spiegel“ hatte ich einen Text verfasst, in welchem ich meiner Wut auf die unbelehrbaren, nonchalanten Nach-mir-die-Sintflutisten der Nation freien Lauf ließ: auf die Menschen, die sich trotz Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts in Gruppen trafen und kollektiv in urbaner Selbstvergessenheit den Frühling anschmachteten. Ich hatte Bilder von studentischen Grillparty-Horden im Englischen Garten vor meinem geistigen Auge; vom sonnenbeschienenen, lebhaft bevölkerten Mauerpark in Berlin; von klandestinen Corona-Partys in Köln, von denen es, wie sich herausstellte gar nicht mal so viele gab. (Das macht sie dennoch nicht besser.) Es war ein zorniger Rant, schön auf Krawall gebürstet, ein süffisantes Pamphlet gegen den Egoismus und die Rücksichtslosigkeit der hedonistischen Gelateria-Widerstandskämpfer, die den gebotenen Einschränkungen unerschrocken und trotzig ihren kleinen „Vino“ oder Eisbecher Adria entgegestrecken.

Meine wütende Selbstgerechtigkeit

Doch dann veröffentlichte Sascha Lobo seine Kolumne – und es geschah hier ein kleiner Christian-Drosten-Moment: Ich änderte meine Meinung. Ein wenig zumindest. Ich befand und verstand: In meinem Sarkasmus habe ich herablassend geurteilt; im Grunde war es auch eine in bürgerliche Begriffe gepackte Menschenfeindlichkeit, die ich nur dadurch legitimieren konnte, dass ich mich in meiner – vielleicht auch angstinduzierten – Hybris selbst für klüger und informierter und pflichtbewusster halten musste, als diese imaginierten Menschen in den Cafés, die offensichtlich (dramatisches Augenrollen) kein Twitter haben.

Dabei habe ich ja selbst keine Ahnung. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich revidiere nicht meinen dringlichen Aufruf, doch bitte unbedingt daheim zu bleiben, denn ich vertraue auf die Expertise des Robert-Koch-Instituts, derzufolge #staythefuckhome bisher die erfolgsversprechende Lösung ist.

Ich hinterfrage nur meine wütende, stumpfige Selbstgerechtigkeit, diese ganze Überlegenheitsgeste mit der ich durch Beschämung Fremde auffordere, daheim zu bleiben. Trage ich damit wirklich zur Lösung bei? Ist das nicht auch einfach nur ein bisschen Selbstvalidierung, wie toll ich mich an die Regeln von Herrn Drosten & Co. halte? Bin ich neidisch auf Menschen, die so ausgelassen kontemplativ ausblenden können, dass eine fucking Pandemie am Start ist?

Die Begrenztheit meiner Gewissheiten

Lobo kritisiert in seinem Text zu Recht, dass wir trotz Hausarrestempfehlungen für alle gleichzeitig von der Kassiererin oder der Krankenschwester wie selbstverständlich erwarten, dass sie zur Arbeit zu erscheinen und ihre Ausbeutung in Krisenzeiten als Opfer für eine halbwegs funktionierende Gesellschaft hinnehmen. Und es stimmt, dass es für Privilegierte, für Menschen ohne Kinder, für versorgte Bürger in entspannten Umständen einfacher ist, daheim zu bleiben als für andere; für manche Frauen ist die Forderung #staythefuckhome außerdem aufgrund möglicherweise zu erwartender häuslicher Gewalt eine größere existenzielle Gefahr. Es ist also gar nicht so simpel, wie ich tue, wenn ich „Bleibt daheim, ihr rücksichtslosen Trottel“ schimpfe und denke, das löse irgendwelche Probleme.

Warum ich Ihnen das alles erzähle? Um die Begrenztheit meiner Gewissheiten mit Ihnen zu teilen. Es mag jetzt trivial erscheinen, aber das war ein gedanklicher Prozess, den ich erst durchlaufen musste: Dass es sich nicht widersprechen oder mich in größere Dissonanzen stürzen muss, wenn ich einerseits harsch dafür plädiere, daheim zu beiben – so gut es eben geht – und andererseits meiner eigenen Dogmatik mit gesundem Argwohn begegne und sie immer überprüfe. Weil ich weiß, dass mein Wissen ja auch nur sukzessives Produkt des täglichen Informationsstands zu Corona ist und sein kann.

Alle Einsichten, die ich habe, alle Meinungen, die ich mir bilde, haben ein Ablaufdatum, nämlich bis zur nächsten Korrektur, die mir neue Erkenntnisse bringt und mich zwingt, Einstellungen zu überdenken und vorläufige Denkprozesse zu korrigieren. Das einzige, was ich mit hundertprozentiger Sicherheit weiß: Dass ich es zumindest nicht besser weiß.

Wir alle haben gerade zum ersten Mal Corona-Krise

Wir sind gerade durch ein Virus, das uns naturgemäß immer ein paar Tage voraus sein wird, in einem dialektischen Limbo, in dem wir aushalten müssen, keine absolute Gewissheiten zu haben und zuversichtlich auf Empfehlungen vertrauen, die Ärzte, Medien und Politik selbst täglich neu kalibrieren müssen. Wir alle haben zum ersten Mal Corona-Krise. Wir können richtiges Verhalten nur antizipieren. Und ich arbeite gerade daran, die Vorläufigkeit der Empfehlungen und die daraus resultierenden Ambiguitäten zu ertragen und versuche von Tag zu Tag, so wie Drosten und alle anderen auch, in und von diesem Ereignis zu lernen.

Ungewissheit im Allgemeinen und die Krisensituation jetzt hier im Konkreten sind eine lehrreiche Übung in Ambiguitätstoleranz. 2018 machte der Arabistik-Forscher Thomas Bauer durch seine lesenswerten Gegenwartsanalyse „Die Vereindeutigung der Welt“ den Begriff populär. (Es ist tatsächlich eines meiner Lieblingswörter.) „Ambiguitätstoleranz“ bezeichnet die Fähigkeit, in einer komplexen Moderne, die gleichzeitig durch Vereinheitlichungen und Fragmentierug geprägt ist, möglichst gelassen auf Mehrdeutigkeiten und Widersprüche zu reagieren. In einer Welt, in der Menschen auf Eindeutigkeit hin kultiviert werden, fällt es oftmals schwer, unauflösbare Vagheiten und mehrdeutige Informationen, also: Ambiguitäten auszuhalten.

Die Ambivalenz unserer Welt stellt viele Menschen vor eine Herausforderung. Und, noch schwieriger, auch viele Medien, deren angeblicher Job es ja ist, die Wirklichkeit für uns zu vereindeutigen.

Eine neue geistige Geschmeidigkeit

Parallel dazu stellt man sowohl in Talkshows als auch in Podcasts erfreuliche Entwicklungen fest, die genau dem Aushalten von Uneindeutigkeiten gerecht werden wollen: Gäste hören einander ernsthaft zu und gestehen ihre Unwissenheit ein, zuletzt gesehen bei Maybritt Illner und Anne Will. Und Rezipienten nehmen die Differenzierungsversuche und die Zeit für ausführliche Erklärungen dankbar an. Es gibt sie, gerade jetzt, die große Sehnsucht nach Lauschen, nach Dialektik, nach gut und ausführlich erklärten Inhalten.

Ein Beleg ist vielleicht der inzwischen fast schon legendäre Erfolg des NDR-Info-Podcasts mit Christian Drosten und das Aufkommen etlicher weiterer einordnender Podcasts, die seit Beginn der Corona-Krise entstanden sind. Wir lernen das Zuhören und das konstruktive, produktive Hinterfragen neu. Doch vor allem kultivieren wir gerade eine neue geistige Geschmeidigkeit, die Korrekturen nicht abstraft, sondern befürwortet.

Und überhaupt: die Öffentlich-Rechtlichen gerade! Es gibt gerade nicht nur eine Renaissance des medialen Lagerfeuers, sondern auch ein enormes Comeback der Anerkennung für diese Sender. Sie machen im Moment viel richtig und sind für viele, neben ihrer Arbeit als Lieferant von Zahlen und Meldungen, durch ihre empathischen Bemühungen auch ein informationeller und emotionaler Anker.

Medien und Rezipienten improvisieren gerade. Und wir sehen dabei zu, wie Experten und Journalisten vor unseren Augen und Ohren Wissen schaffen. Die Krise ist auch eine tägliche Versöhnung mit kommunizierter Fehlbarkeit.

Das sollte eigentlich der letzte Satz sein. Aber dieser Schluss, mit der staatstragend klingenden „Versöhnung mit der Fehlbarkeit“ – der klang zwar gestern richtig, aber ich glaube, ich muss ihn auf Grundlage weiterer Erfahrungen heute vermutlich morgen revidieren.

19 Kommentare

  1. Dieses selbstverständliche zugeben: ‚Ich habe mich geirrt‘ würde ich gerne einmal auch von politischen Verantwortungsträgern*innen hören, aber da sind wir umzingelt von Personen, die noch unfehlbarer sind als der Papst.

  2. Huuh, wieder ein Beitrag mit enormer Wucht!
    Mein Lieblingssatz: „…..keine absolute Gewissheiten zu haben und zuversichtlich auf Empfehlungen vertrauen, die Ärzte, Medien und Politik selbst täglich neu kalibrieren müssen.“
    Das erst mal, dass ich „kalibrieren“ nicht in einem technischen Kontext lese – und ich finde: er passt hier wunderbar.
    Sascha Lobos Artikel habe ich nicht gelesen – halte aber entgegen: ich glaube nicht, dass wir das alle erwarten und für selbstverständlich erachten. Ich denke eher, dass wir uns in die Gegebenheiten hineintreiben lassen und hoffen, dass die Strukturen uns über Wasser halten, weil wir sehen, wir können nichts ändern oder maximal nur dann, wenn wir úns kohärent verhalten. Und sollte jetzt etwas wie Dankbarkeit für die, die an der Front arbeiten, aufkeimen, wird sie schnell wieder erloschen sein, wenn das Licht der Normalität am Ende des Tunnels wieder heller wird.

  3. @Kolumne: Ich bin von Herrn Lobos Kolumne nicht so begeistert gewesen und war froh, dass hier ein anderer Tenor herrschte.
    Herr Lobo macht es sich ganz einfach diesmal.
    „Wenn der richtige Notfall eintritt (…)“ und dann geht es los mit dem Geraune über Liberale, die gerne bereit sind Freiheiten beschneiden zu lassen.
    Und die einzige Herleitung (Wir glauben, etwas sei Fake News, ist aber keine.) entpuppte sich als unzutreffend, denn es war tatsächlich Fake News.

    Auch die Behandlung dieser „Fake News“ war leider (meiner nicht-journalistischen Meinung nach) journalistisch nicht korrekt.
    Er schreibt „Die Sprachnachricht war nicht ganz richtig und etwa in ihrem Aufruf zur massenhaften Weiterleitung problematisch – aber eben im ausschlaggebenden Punkt weniger Fake News als zunächst gedacht.“
    Das ist faktisch nicht wahr. Eine aus welchen niederträchtigen Gründen auch immer in die Welt gesetzte Fake News wird nicht zu einer „wahren Tatsachenbehauptung“, wenn eine offizielle Stelle sagt „Wir müssen erst mal weiter forschen.“
    Ganz dünnes Eis.

    Und die 3 Absätze vor dieser Herleitung enthalten quasi nichts als subjektive Empfindungen. Das Wort „Vernunftpanik“ scheint er neologiert zu haben, wie mir Google Trends sagt.

    So gerne ich Sascha Lobo mag, in so einer Situation ist mir dröge Statistik von Harald Lesch z. B. deutlich lieber.

  4. @ander Max

    Ganz gegenteilig bei mir. Ich fand Lobos kolumne mal erfrischend anders.
    Und er hat ja wichtige Punkte, die mir in der Diskussion tatsächlich auch oft fehlen.
    Z. B. Das Thema Ausgangssperre, dass wirklich Leute in prekären Verhältnissen deutlich härter trifft als wohlhabende mit Häuschen im Grünen.

    Und es ist (oder sollte sein) nunmal immer eine Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit. Auch das kommt mir in der deutschen Diskussion zu kurz.

    Ich verstehe z. B. auch Jugendliche, für die soziale Kontakte nunmal das wichtigste sind, die nicht einsehen, warum sie diese Einschränkungen hinnehmen sollen. Vor allem, weil bei dem Thema Klimawandel (was Junge ja um Gegenteil zu corona viel stärker betrifft), die ältere Generation (die von Corona stärker betroffen ist) auch keine wirklichen Anstrengungen zur Vermeidung unternommen hat.
    Das ist natürlich eine schwierige Diskussion, sie aber nicht zu führen halte ich für sehr gefährlich — da stimme ich Lobo zu.

  5. @5
    Das sind auch genau die Dinge in dem Artikel, die ich nicht kritisierte. ;)
    Klar ist der Hinweis darauf, dass eine Quarantäne Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen auch unterschiedlich hart trifft sinnvoll und richtig.
    Auch mit dem Hinweis, dass „Diskussionen nicht zu führen“ gefährlich ist, bin ich absolut d’accord.

    Aber darauf hätte er sich beschränken sollen, denn das passt auch in die Kolumne „Gesellschaft“ gut rein.
    Die ganze Argumentation der „Kritik an Mahnung zu mehr Vernunft“ auf einer eigenen Wortneuschöpfung zu basieren ist schon „cocky“, dass dann noch der Präzedenzfall das Gegenteil beweist, macht es nicht besser. (Wurde auch transparent korrigiert, von daher ok).
    Und wie gesagt, gerade die Argumentation, warum der Ibuprofen-Quatsch dann „weniger Fake News als zunächst gedacht.“ sein soll ist m. E. schlicht falsch.

    „Ich fand Lobos kolumne mal erfrischend anders.“
    Genau so ging es mir ja auch, wie so oft bei Lobo. Aber „anders“ ist leider nicht immer besser oder zu 100% richtig.

    Ich wollte nur klar stellen, dass auch ich viele Ansätze der Kolumne sehr gut finde, nur eben die beiden Schlüsselherleitungen nicht stimmen und dass ich das für problematisch halte.

  6. @ Ichbinich (#5):

    Vor allem, weil bei dem Thema Klimawandel (was Junge ja um Gegenteil zu corona viel stärker betrifft), die ältere Generation (die von Corona stärker betroffen ist) auch keine wirklichen Anstrengungen zur Vermeidung unternommen hat.

    Völlig daneben, sorry. Motto: „Oma hat letztes Jahr ’ne Kreuzfahrt gemacht, also kann ich sie jetzt auch anhusten (dass ich selbst zweimal mit Freunden auf Malle war, ist entschuldigt, weil Sozialkontakte für mich das Wichtigste sind.)“

    Sie treibt mich in den Wahnsinn, diese unterkomplexe Reduktion des Klimawandels auf ein Generationenproblem. Das Problem ist eine nicht zu bremsende Produktions- und Konsumtionsweise, an der alle gleichermaßen Anteil haben. Dass ein Teil (!) vorwiegend (!) jüngerer Leute seit einem (!) Jahr vermehrt dagegen demonstriert, ändert überhaupt nichts.

    Und sich hinzustellen und dummes Verhalten in einer akuten Pandemie mit einem seit zwei Jahrhunderten laufenden, menschheitsgeschichtlichen Prozess aufzurechen, ist einfach nur geschmacklos.

  7. Noch was:
    „Und es ist (oder sollte sein) nunmal immer eine Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit.“
    Schwierig. Ich sehe das etwas anders. Meine Freiheit endet, wo ich die Freiheit anderer einschränke. Wenn ich die Sicherheitsmaßnahmen ignoriere, setze ich andere Menschen einem vermeidbaren Risiko aus. Ich beschränke also deren Freiheit (z. B. Bewegungs- und Versammlungsfreiheit) durch Freiheiten, die ich mir gegen alle Sicherheitsbedenken rausnehme.

    „Ich verstehe z. B. auch Jugendliche, (…) die nicht einsehen, warum sie diese Einschränkungen hinnehmen sollen.“
    Ich nicht. Also klar, mein 16-jähriges ich war auch davon überzeugt, dass ich bei meiner Entscheidungsfindung generell indeterminiert bin. Insofern verstehe ich, dass Jugendliche das doof finden. So what?

    Ganz ehrlich weiß ich auch nicht, was man hier für eine Diskussion führen will. Ich denke, der Freiheitsdrang eines Jugendlichen ist schlicht nicht so relevant, wie die öffentliche Gesundheit. Dafür ist (für mich) die Frage gegessen.

    Jetzt wird’s schlimm, also Meinung und Geschwafel:
    Ich glaube, wir haben schlicht verlernt, Dinge einfach mal hinzunehmen. Ein Gesundheitsnotstand ist ein solcher Anlass, zu dem man einfach mal Dinge hinnimmt. Wir meinen, hier gäbe es etwas zu diskutieren. Als ob meine Befindlichkeit, meine Meinung zum Thema hier irgendeine Relevanz hätte. Wir können mit Fakten nicht mehr gut umgehen, weil wir gelernt haben, dass alles relativ ist, eine Münze immer zwei Seiten hat, etc. Trump hat uns das noch mal verinnerlicht: „Grab ‚em by the pussy“ oder Behinderte auf offener Bühne verhöhnen sind keine No-Go’s mehr, wenn man Präsident werden will. Kann mir doch keiner erzählen, dass das nicht abfärbt auf die Bevölkerung.
    Wir meinen, zu jedem Standpunkt gibt es auch eine (tatsächlich, inhaltlich begründete) Gegenposition, weil wir es so gelernt haben. Wir vergessen, dass es Gegenpositionen oft nur gibt, weil sie sich verkaufen, nicht weil sie Hand und Fuß haben.
    Es gibt ganze Wirtschaftszweige, die sich diese FUD Mechanismen zunutze machen, z. B. HiFi-Voodookabel, 8K Fernseher, Flacherdler oder Homöopathie (stellvertretend für alle „alternativen“ Medizinangebote) und sich so einer kleinen aber sehr treuen Zielgruppe bedienen, die auf bias confirmation aus ist.
    Eigentlich braucht man sich nur die Kritikfähigkeit innerhalb einer solchen Gruppe anschauen, um den Wahrheitsgehalt herauszufinden – Wieder Trump das beste Beispiel.
    Die 68er haben uns gezeigt, dass eine „Anti“-Bewegung gegen ein Establishment erfolgreich sein kann. Leider wurde damit auch die Saat für alles mögliche „Alternative“ gelegt. Interessant heutzutage ist, dass anscheinend die Ansichten dieser 68er Generation Mainstream sind und nun die Konservativen mit den gleichen Stilmitteln arbeiten, wie vormals die Progressiven.
    Genug geschwurbelt.

  8. @ANDERER MAX, 6

    OK, dann sind wir da doch nicht weit auseinander

    @ANDERER MAX, 8

    „Schwierig. Ich sehe das etwas anders. Meine Freiheit endet, wo ich die Freiheit anderer einschränke. Wenn ich die Sicherheitsmaßnahmen ignoriere, setze ich andere Menschen einem vermeidbaren Risiko aus. Ich beschränke also deren Freiheit (z. B. Bewegungs- und Versammlungsfreiheit) durch Freiheiten, die ich mir gegen alle Sicherheitsbedenken rausnehme.“

    Natürlich. Und wenn ich meine Daten nicht der Polizei überlasse erhöhe ich das Risiko, dass Terroristen unerkannt bleiben und Leute mit Amokläufen ermorden. Und wenn ich meine „Freiheit“ zu Rauchen/zu Rasen/Alkohol zu trinken etc. behalten will, schade ich der Allgemeinheit mit Toten/Kosten oder sonstigem.
    Die Diskussion ist mMn ähnlich, nur wird sie bei Corona nicht ausreichend geführt (meiner Meinung nach). Die Argumentation „meine Freiheit endet da, wo ich andere einschränke“ zieht mMn nicht, sonst müssten wir generell alles mögliche verbieten. Das ist aber eine gesellschaftspolitische Diskussion und nicht nur eine, die Virologen führen sollten.

    „Ganz ehrlich weiß ich auch nicht, was man hier für eine Diskussion führen will. Ich denke, der Freiheitsdrang eines Jugendlichen ist schlicht nicht so relevant, wie die öffentliche Gesundheit. Dafür ist (für mich) die Frage gegessen.“

    Aus Ihrem Blickwinkel mag das so sein. Wer definiert aber, wie lange das „nicht so relevant“ ist und schätzt die Folgen dazu ab? Und wieviel Freiheit sind wir bereit, dafür aufzugeben? Und wer entscheidet das?

    „Ich glaube, wir haben schlicht verlernt, Dinge einfach mal hinzunehmen. […] Ein Gesundheitsnotstand ist ein solcher Anlass, zu dem man einfach mal Dinge hinnimmt. Wir meinen, hier gäbe es etwas zu diskutieren. Als ob meine Befindlichkeit, meine Meinung zum Thema hier irgendeine Relevanz hätte.“

    Da wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben, hat hoffentlich die Meinung der Einzelnen immer Relevanz. Und „einfach so hinnehmen“ ist für mich kein Argument. Denn warum sollte das nicht bei allen Gesetzesvorhaben dann so gelten?
    Die Frage ist doch (und so habe ich auch Lobo verstanden): Wie lange sind wir bereit für wieviel Freiheit und Menschenrechte zu verzichten, um Tote zu verhindern? Und warum solle man das bei Corona nicht genauso diskutieren wie beim Tempolimit, Terrorismus oder sonstigen Themen? Nur weil die Auswirkungen direkter spürbar sind? Das halte ich für verfehlt.
    Und ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass wir als Gesellschaft das lange ohne Folgen aushalten können. Wenn das (wie ja einige Virologen meinen) bis zu 2 Jahre so gehen soll, sehe ich schwarz für unsere Demokratie.

    @KRITISCHER KRITIKER

    „Sie treibt mich in den Wahnsinn, diese unterkomplexe Reduktion des Klimawandels auf ein Generationenproblem. Das Problem ist eine nicht zu bremsende Produktions- und Konsumtionsweise, an der alle gleichermaßen Anteil haben. Dass ein Teil (!) vorwiegend (!) jüngerer Leute seit einem (!) Jahr vermehrt dagegen demonstriert, ändert überhaupt nichts.“

    Es ist alleine deswegen ganz natürlich ein Generationenkonflikt, weil die jüngeren das Ausbaden müssen und die älteren (die das im Übrigen auch sehenden Auges verursacht haben) nicht.
    Und dass die Jüngeren daran gleichermaßen Anteil haben, ist einfach Unsinn weil sie diese Sachen nicht verursacht und verschleppt haben (einfach weil sie zu den Zeiten noch nicht gelebt haben oder entscheidungsfähig waren).

    „Und sich hinzustellen und dummes Verhalten in einer akuten Pandemie mit einem seit zwei Jahrhunderten laufenden, menschheitsgeschichtlichen Prozess aufzurechen, ist einfach nur geschmacklos.“

    Ich sage nicht, dass ich das gut finde, sondern nur, dass ich es verstehe. Als Jugendlicher hat man andere Prioritäten. Die jetzt von oben herab einfach als „nicht wichtig“ herunterzuspielen halte ich für sehr gefährlich. Und hier müssen wir mMn als Gesellschaft aufpassen, wohin das führen kann.

  9. Mit Lobos Kolumne bin ich auch nicht einverstanden:
    – Nicht jede/r, die/der Coronapartys kritisiert, kritisiert Alleinerziehnde, die mit dem Kind mal an die frische Luft gehen. Bzw., ich unterstelle sogar, dass der überwiegende Mehrheit der Coronapartykritiker(m/w/d) den grundsätzlichen Unterschied zwischen einer Coronaparty einerseits, und zwei Leuten aus einer Hausgemeinschaft, die auch nach den jetzigen verschärften Regeln zusammen im Freien sein dürfen (weil: haben sich, wenn, eh‘ gegenseitig angesteckt), klar sein dürfte.
    – Bei den Toilettenpapierbunkererwitzen geht es darum, dass das Zeug _überproportional_ gebunkert wird. „Hänschen hat Toilettenpapier für sechs Monate und Lebensmittel für vier Wochen. Aufgabe: finde den Denkfehler!“
    – Wenn Kritik aus wohlhabenderen Schichten mit Abi kommt, mag das ein Zeichen für Klassiszismus sein, macht aber die Kritik nicht per se falsch. Auch Leute ohne Abi können sowohl Corona-Partys als auch Alleinerziehnde mit Kind im Freien kritisieren. Das ist alles Främing.
    – Umgekehrt dürften auch Leute, die kein Deutsch sprechen, taub oder Legastheniker(m/w/d) sind, mitbekommen haben, was los ist. Die meisten Menschen sprechen irgendeine Sprache, die in irgendeinem Teil der Welt gesprochen wird, wo Corona Thema ist, und weder Taube noch Legastheniker sind dumm.
    – Dass jemand, die/er Einschränkungen wg. Corona akzeptiert oder fordert, auch beim nä. Problem nach Verboten ruft, oder jedenfalls akzeptiert, ist halt das Narrativ vom obrigkeitshörigen Volk. (Ok, da gibt’s schon welche, aber die wären auch ohne Corona so.)

    Aber ja, Fake-News-Strafen in DER Form sind Blödsinn. Man müsste nämlich Vorsatz nachweisen, sonst wäre auch eine Ente strafbar.

  10. ^ „Andere Prioritäten“ wie Park-Partys sind so wichtig, wie die massenhafte Ausbreitung einer lebensbedrohlichen Krankheit zu behindern? Und ethisch legitimiert, weil die Party-People durch weniger Zeit auf Erden noch (!) weniger Dreck gemacht haben als ihre Eltern? Das ist moralisierender Amoralismus – und ich glaube nicht, dass die meisten Jugendlichen selbst auf so einen Gedanken kämen.

    Ihr Argument würde höchstens dann einen gewissen, verqueren Sinn ergeben, wenn die jungen Leute, die Corona-Partys feiern, tatsächlich einen geringeren ökologischen Fußabdruck hätten als die Alten. Aber den haben sie nicht. Sie verbrauchen im Schnitt genauso viel Energie wie alle anderen auch, sie essen mehrheitlich Fleisch, bestellen im Internet, vernutzen seltene Ressourcen und tragen zur Verschmutzung der Umwelt bei.

    Ein junger (sehr sympathischer) Kollege von mir fährt in Berlin jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit, weil er es so gewohnt sei; er trinkt stets aus 0,25-Liter-Einwegdosen, weil die am coolsten aussähen; und er wirft Plastik in den Bio-Müll. Politisch ist er links und natürlich macht er sich Sorgen um den Klimawandel. (Corona-Partys feiert er m.W. nicht.)

    Die Server der Streamingdienste fressen (Stand 2018) so viel Strom wie die Privathaushalte von Deutschland, Italien und Polen zusammen. Machen es Jugendliche anders als ihre Vorgängergenerationen? Verzichten sie also auf Konsumangebote, die der Kapitalismus ihnen macht, um die Umwelt zu schonen? Oder haben sie eher bis zu drei „mobile Endgeräte“ (Smartphone, Pad und Watch) rund um die Uhr gleichzeitig laufen?

  11. Ach, und zum eigentliche Artikel:
    „Unerträglich“ ist es für mich nicht. Sich nicht unnötig aufregen ist natürlich generell eine gute Sache, aber man kann die Zukunft nur begrenzt vorhersagen, deshalb kann es keine Sicherheit geben, nur Vorsicht.
    Persönlich verzichte ich auch auf kein Menschenrecht, ich bin damit einverstanden, bpsw. das Recht auf Versammlungsfreiheit zeitweise nicht wahrzunehmen, zumal ich in einer Zeit lebe, wo ich viele Dinge auch per Computer erledigen kann.
    Allerdings, wenn man schon dabei ist, Eindeutigkeiten zu hinterfragen:

    für manche Frauen ist die Forderung #staythefuckhome außerdem aufgrund möglicherweise zu erwartender häuslicher Gewalt eine größere existenzielle Gefahr.

    Ist damit gemeint, dass Männer keine Opfer häuslicher Gewalt wären, oder einfach nur, dass Männer häufiger an Corona erkranken und sterben als Frauen?

  12. @KRITISCHER KRITIKER

    Hören Sie doch auf mit der Polemik. Ich habe nirgends Corona-Partys verteidigt.
    Es geht mir um die generellen Maßnahmen. Es gibt Kontakt- oder Ausgangssperren und nur Arbeiten/Einkaufen/Arzt ist erlaubt.
    D.h. alle Aktivitäten von Kindern/Jugendlichen sind verboten (Schule, Sport, Freunde treffen, …). Ein Jugendlicher darf derzeit in vielen Ländern und Städten nicht mal mehr legal seine Freundin/seinen Freund besuchen. Und das für mindestens 2 Wochen. Kann ja sein, dass Ihnen das egal ist. Ich kann verstehen, dass das nicht einfach ist (und diese Gruppe stärker betroffen ist als Erwachsene im Berlin-Mitte Loft). Und ich halte Argumente von „oben herab“ für nicht zielführend.

    Und die Analogie zum Klimawandel habe ich nur gebracht, weil es mMn das Problem verdeutlicht. Sie können das auch gerne mit Terrorismus oder sonstigem ersetzen. Wir ergreifen jetzt Maßnahmen, die wir vor einigen Monaten entsetzt von uns gewiesen hätten. Und das, obwohl (nach allem was wir wissen) der Klimawandel perspektivisch zu viel mehr Toten führen wird als Corona. Und da gibt es mMn eine Schieflage in der Perspektive.

    Oder nehmen Sie ältere Leute in Pflegeheimen, wenn Ihnen die Jugendlichen egal sind. Da gibt es Kontaktsperren so dass diese Ihre Kinder und Enkel nicht mehr sehen dürfen. Und es sterben Leute, ohne Ihre Familie bei sich haben zu dürfen. Natürlich kann man versuchen, das alles irgendwie zu rechtfertigen. Das geht aber nicht 2 Jahre.

    P.S: Natürlich haben jüngere Leute einen kleineren ökologischen Fußabdruck als die ältere Generation, einfach weil sie nicht solange auf der Welt sind. Ist aber auch erstmal egal hier.

  13. @ Mycroft (#10):

    Wenn Kritik aus wohlhabenderen Schichten mit Abi kommt, mag das ein Zeichen für Klassiszismus sein, macht aber die Kritik nicht per se falsch. Auch Leute ohne Abi können sowohl Corona-Partys als auch Alleinerziehnde mit Kind im Freien kritisieren. Das ist alles Främing.

    In der Tat. Schon fast an Propaganda grenzt das von Lobo gezeichnete Bild mit den Prosecco-Trinkern in der 9-Zimmer-Wohnung, die der abgekämpften Kassiererin ihren Spaziergang mit Kind verbieten wollen. In Wahrheit richtete sich (zumindest in Berlin) ein großer Teil der Kritik an Coronaparty feiernde Abi-Jahrgänge.

    Im RBB wurde kürzlich so ein junger Party-Typ (um die 20) gefragt, was er sich denn dabei denke. Er antwortete, ziemlich wörtlich: Er habe die Lage reflektiert und sei zu dem Schluss gekommen, dass er bereit ist, das Risiko einzugehen. Und das bei ziemlich hohem Alkoholpegel. Der klang eher nach Soziologie-Student als nach Lehrling.

    Andersrum: Mein Späti-Verkäufer (gewiss weder Akademiker noch reich) schmeißt seit ein paar Tagen lautstark alle raus, die mit mehr als zwei Personen Bier bei ihm kaufen wollen.

    Lobos Geschichte von den Privilegierten in „Vernunftpanik“, die den schuftenden Underdogs den letzten Rest Lebensfreude nehmen wollen – die ist meines Erachtens zu einem Großteil Phantasie. Dass es eine fünfköpfige Familie in der 60-Quadratmeter-Wohnung derzeit schwerer hat als ein Pärchen auf 120 Quadratmetern, bleibt natürlich trotzdem richtig.

    @ Ichbinich (#13):

    Natürlich haben jüngere Leute einen kleineren ökologischen Fußabdruck als die ältere Generation, einfach weil sie nicht solange auf der Welt sind.

    Fußabdruck pro Zeiteinheit, versteht sich. Dass man in 20 Jahren weniger Strom verbraucht als in 80, ist banal.

    Davon habe ich überhaupt nichts gegen Jugendliche. Sie sind halt bloß ganz normale Leute. Ob sie gerade mehr oder weniger leiden als andere, wird von den jeweiligen Umständen abhängen.

    Ich habe mich hier nicht über Jugendliche aufgeregt, sondern über Ihre Rechtfertigung von Hochrisikoverhalten mittels Klimawandel. Wir werden uns da nicht einigen, weil ich Ihren Reduktionismus des Klimaproblems auf einen Generationenkonflikt nebst Schuldzuschreibung an die derzeit zufällig Alten für brandgefährlich halte. Brauchen wir nicht weiterzuführen, hatten wir oft genug.

  14. @9: „Und warum solle man das bei Corona nicht genauso diskutieren wie beim Tempolimit, Terrorismus oder sonstigen Themen?“
    Stimmt schon.

  15. @ Ichbinich (#9):

    Wenn das (wie ja einige Virologen meinen) bis zu 2 Jahre so gehen soll, sehe ich schwarz für unsere Demokratie.

    Ich auch.

  16. Die Schwarzmalerei ist aber bisschen daneben, weil von „ohne Folgen für unsere Gesellschaft“ geht glaube ich keiner aus, siehe Konjunkturprogramme.
    Und von 2 Jahren gehen Virologen aus, dass sich das Virus weiter ausbreiten kann, ja. In der Zeit nimmt aber auch die Immunitätsrate zu, vielleicht haben wir eine Impfung gefunden, die Krankenhäuser werden besser vorbereitet sein, etc.
    Von 2 Jahren Ausgangssperre hat bisher noch niemand geredet, meine ich.

  17. Nach 2 Jahren wären so viele Leute pleite bzw. arbeitslos, dass sich das Tempolimit auch erledigt.
    Der Vergleich mit der Klimakrise ist ja insofern sinnvoll, weil die Person, die sich verantwortungslos verhält (Jugendliche auf Coronaparty) nicht die ist, die am meisten drunter leidet (Patienten und Personal auf der Intensivstation mit zu wenig Beatmungsgeräten – man bedenke bitte, dass es auch Leute ohne Corona gibt und geben wird, die Atemhilfen brauchen).
    Im Unterschied dazu leidet ein starker Raucher am meisten unter seinem Konsum. Oder – da ich kein Terrorist bin – hilft es der östereichischen Regierung nichts, wenn sie meine Handydaten hat.

  18. Wir wissen alles und wir wissen alles besser, weil wir täglich Medien kübelweise in und reinschütten. Aus allen Informationen ziehen wir immer die richtigen Schlüsse. Wir scheiden zielsicher die richtigen von den falschen Propheten. Wir erkennen jeden Fake. Auch in unübersichtlichen Situationen wissen wir schneller als jeder andere, was richtig und falsch ist.

    Es ist genau diese Hybris, die nur noch schwer erträglich ist.

    Es gibt aber Hoffnung, wenn eine Journalistin erkennt, dass sie sich vergaloppiert hat. Chapeau!

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.