Die Autorin
Antonia Baum ist Schriftstellerin und Journalistin. Schreiben war für sie immer schon rappen.
An der aktuellen Titelgeschichte des „Spiegel“ ist einiges erstaunlich, und dabei sind die brutalen Rap-Plattitüden, der betuliche Tonfall und die Frage, wie man zu dreizehnt einen Text verfasst, noch die geringste Auffälligkeiten. Vielmehr scheint all das nur Ausdruck eines tieferliegenden Problems zu sein, nämlich einer totalen Kopflosigkeit, welche die Abwesenheit einer für diesen Text eigentlich entscheidenden Grundvoraussetzung anzeigt: nämlich die Bereitschaft, sich mit dem Gegenstand zu befassen, über den man schreibt.
Einfacher formuliert: Es geht in diesem Text nicht um Rap. Rap ist nur das Transportmittel, um andere, nicht besonders gut kaschierte Annahmen und Absichten zu vermitteln.
Am Beispiel von „Moritz“, dessen Name angeblich nichts zur Sache tut, der jedoch nicht zufällig weder Sascha noch Faruk heißt – am Beispiel von diesem angeblich zufällig so genannten „Moritz“ und seinem „Papa“ wird erzählt, wie „Gangsta-Rap“ Einzug in „Kinderzimmer“ halte, und zwar auf eine so ostentativ naive Weise (es geht um „das Geprotze der bösen Jungs“, deren „Schmuddelware zum Bestseller“ geworden ist und die sich in einer Branche bewegen, in „der die großen Scheine manchmal nur großer Schein sind“ – man müsste daraus tatsächlich eine Art szenische Lesung machen), dass man gar nicht anders kann, als sich die Autorenkollektiv mit Safari-Hüten vorzustellen.
Es lässt sich nicht abschließend klären, ob die AutorInnen wirklich zum ersten Mal von diesem „Gangsta Rap“ gehört haben, oder ob sie genau das vortäuschen müssen, in der Absicht, eine neue Geschichte zu erzählen, vermutlich letzteres (die jüngsten AutorInnen sind in den 90er Jahren geboren, viele in den 70ern der älteste Autor in den 50ern). Bei dieser Geschichte jedenfalls tut Moritz‘ Name insofern auf ganz entscheidende Weise zur Sache, als jener Name, zusammen mit dem Auto, das sein Vater fährt (Kombi), dem „Reihenmittelhaus“, das er bewohnt und der Tatsache, dass dieser ihn besorgt zu Konzerten von frauenverachtenden, staatsverachtenden, konsensverachtenden, also im Grunde papa-verachtenden Rappern begleitet, jene Gruppe markiert, die einer anderen gegenüber gestellt wird. Und hier wird es interessant.
Auf der einen Seite steht das durch die genannten Attribute als bürgerlich identifizierbare Milieu, das sich um seine Kinder kümmert, und in Opposition dazu wird das sozial weit unten, also viel weiter unten rangierende „Gangsta-Rap“-Milieu aufgebaut, das schon durch die Titel-Unterzeile („Wie böse Jungs und Clan-Romantik die Kinderzimmer erobern“) als migrantisch gelabelt wird und zwar ganz ohne dass dies explizit getan werden müsste. Auch im Text wird weitestgehend auf ausdrückliche Markierungen verzichtet, nur einmal wird das, was im Text sonst nur „Clan“ heißt, „Araberfamilie“ genannt.
Ansonsten wird erwähnt, welcher Rapper woher kommt, ohne weiter darauf einzugehen; es wirkt eher, als werde darum ein großer Bogen gemacht, und dazu passt, dass der in Sibirien geborene und in der Ukraine aufgewachsene Rapper Capital Bra von den AutorInnen großzügig als „Junge aus Berlin“ eingemeindet wird (Hey, Willkommenskultur!).
Trotzdem wissen alle, wer hier wem gegenüber steht und wer vor wem beschützt werden muss, nämlich die Moritze vor denen da unten beziehungsweise den im Text tatsächlich als „Schmuddeljungs“ beziehungsweise „unedle Wilde“ Bezeichneten. Und das alles, ohne sich am Rassismus, Klassismus und deren Zusammenhang innerhalb der deutschen Gesellschaft die Hände dreckig zu machen, im Gegenteil: Es wird sich eher präsentiert als gottgleiches, weit über dem Text schwebendes Kollektiv, das sich null dafür interessiert, wie deine Eltern mit Nachnamen heißen.
Folgerichtig wird über die Verschränkungen von Herkunft, Rassismus und Aufstiegschancen, die sowas wie den Kern vieler Straßen-Rap-Geschichten ausmachen, auch zu keinem Zeitpunkt nachgedacht. Stattdessen wird auf penetrante Weise immer wieder darauf hingewiesen, wie sehr die Rapper am Geldverdienen interessiert sind und dass sie sich vor allem aus diesem Grund in die Nähe „der Clans“ begeben würden – nämlich um sich mit „Authentizität aufzuladen“.
Dabei handele es sich um „ein Geschäftsmodell“, und bei dieser Formulierung handelt es sich vermutlich um den Versuch einer moralisch-künstlerischen Diskreditierung, die man nicht anders bezeichnen kann, als als eine Kritik, die sich als Kritik verkleidet hat, denn was genau ist denn jetzt die Kritik? Dass die angeblich so authentischen Rapper auch nur Geld verdienen wollen? Was soll denn Moritz später mal machen außer Geld verdienen? Und ist es nicht die Lieblingserzählung des sozial-liberalen Milieus, dass es in Germany jeder ganz nach oben schaffen kann?
Ja, aber nicht so, würde der Papa von Moritz an dieser Stelle einwenden, und das ist exakt der Punkt, an dem er sich mit der Frage befassen müsste, warum es sein Sohn schaffen wird, aber andere nicht. Das aber ist eben überhaupt nicht der Punkt, auf den dieser Text hinaus will.
Auf der Zielgerade geht es nur noch um „die Clans“, es geht also um den bloßen Entwurf des Angst-Szenarios, dass „Gangsta-Rap“ bürgerliche (?) „Kinderzimmer“ erobere und dieser „Gangsta-Rap“ Verbindungen zum kriminellen Milieu („Araberfamilie“) halte. Die „Wilden“ sind also kurz davor, „unsere“ Jugend zu verderben, zack, bumm, ballert auf jeden Fall.
Der nächste Stunt betrifft das beliebte Boomer-Feindbild Generation Greta, deren moralische Integrität auf den Prüfstand gestellt wird, weil sie (konkret zwei im Text angeführte Beispiele, nämlich unser „Moritz“ und „Emma“) „Gangsta-Rap“ hört. Auch hier handelt es sich wieder um eine rein habituelle Kritik, die sich mit dem Sherlock-haften Hinweis auf diesen scheinbaren Widerspruch begnügt. Abgesehen natürlich davon, dass es fragwürdig ist, eine ganze Generation für zwei Leute haftbar zu machen – wenn man diesen Widerspruch zu Ende denken würde, folgte daraus nichts außer der Feststellung, dass Menschen widersprüchlich sind und Musik, Kunst, Literatur ihnen seit jeher dabei helfen, damit klar zu kommen.
Der Gangsta-Rap-Safari-Text hingegen raunt also ein wenig herum und überrascht seine Leserin mit der cleveren Pointe, dass auch Greta und ihre Fans ihre moralische Inkonsistenzen haben. Naturgemäß fragt man sich bei der Lektüre, wer die eigentlich nicht hat.
Man fragt sich außerdem, ob die weitschweifigen Ausführungen über das kriminelle Milieu und die ausführlichen Zitierungen expliziter Rap-Texte nicht auch so etwas wie ein catchy Exit-Angebot des „Spiegel“ für seine LeserInnen sind, dessen Konsum einen kurzen Ausbruch aus dem reglementierten Leben ermöglichen kann und insofern also genau die gleiche Funktion übernehmen, wie sie den Greta-AnhängerInnen als Fan-Motiv unterstellt wird. Denn am Ende wollen wir doch alle einfach nur verkaufen und Geld verdienen, oder?
Das Interessante an diesem Deutschland sortierenden Text ist also vor allem, was er nicht erzählt. Es sind vor allem die moralischen Implikationen, die er nicht benennt. Und dazu gehört eine scheinbare Neutralität, ein Unbeteiligtsein, das vermutlich dem absurden Anspruch von so etwas wie Objektivität entspringt, die hier allerdings zu keinem Zeitpunkt gegeben war, denn es ging von Beginn an um „Moritz“ (und die Gewissheit, dass sich viele Eltern um ihn sorgen werden, wenn er ihnen in Gesellschaft eines volltätowierten „Schmuddeljungen“ präsentiert wird).
In der Logik derjenigen, die für das Produzieren von Öffentlichkeit und Medien überwiegend zuständig sind, ist das im Grunde nur konsequent, aber dann müsste man strenggenommen – und dieser Text ist voll von ziemlich strenger Moral – eigentlich so objektiv sein und benennen, dass man zu keinem Zeitpunkt objektiv war. Die entscheidende Frage dabei ist, ob die AutorInnen sich ihrer Denkvoraussetzungen hier bewusst waren (Problem), oder nicht (ebenso großes Problem).
Antonia Baum ist Schriftstellerin und Journalistin. Schreiben war für sie immer schon rappen.
Straight Outta Compton ist von 1988 … Mir kommt die Debatte etwas verspätet vor.
„moralische Inkonsistenzen“ oder „Inkontinenzen“? Oder irgendein anderes Wort?
Ja, gegen Rap sein, aber Homer toll finden. Bildungsbürger sind voller Widersprüche.
Gut, dass frühere Generationen nie Ärger mit ihren Eltern wegen der Musik hatten, die sie hörten. Sonst wäre das jetzt ja irgendwie inkonsequent.
Finde den Stil dieses Artikels einigermaßen nervtötend, aber das ist ja Geschmackssache. Ansonsten bestätigt er meinen Eindruck, dass aus dem Spiegel ein ziemliches Kackblatt geworden ist. Vielleicht verkläre ich aber auch nur die Vergangenheit. Dieser Klassendünkel ist sicher nicht neu. Und Dünkel im Allgemeinen war unter Spiegel-Journalisten wohl immer schon sehr verbreitet.
Siehe „Verführung der Unschuldigen“; im Grunde ist das Genre ja ähnlich:
https://de.wikipedia.org/wiki/Seduction_of_the_Innocent
Seduction of the Innocent, das Grundmuster für alle Rock-, Punk-, Gamer- etc. Debatten, die die Jugend vor sich selbst bewahren sollen. Das Buch und die parallelen Kefauver Hearings führten damals zur Einführung einer Selbstkontrollinstanz, der sich alle Comicverlage bis auf zwei unterwarfen: Dell/ Disney, die sich kategorisch für harmlos erklärten, und EC, die lieber das Programm einstellten, als sich zu unterwerfen.
Rein ideell ist Werthams Buch damit eine der zentralen Schriften der westlichen Welt in der Nachkriegszeit. Praktisch alle Jugendgefährdungsdebatten benutzen die dort vorgeführten Muster.
@Hanno:
Es ist nicht nur dein Eindruck. Stell dir mal zur Zeit Augsteins eine Personalie wie Blome vor: Zuerst Bild, dann Spiegel und dann wieder Bild. Es wäre undenkbar gewesen, allein in Sachen handwerkliches, journalistisches Selbsstverständnis und ich rede gar nicht mal von ideologischen Gräben oder ähnlichen. Aber das neue Credo in der Welt lautet scheinbar „Wir schämen uns für nichts mehr“ und auch der Spiegel kann sich diesem Trend anscheinend nicht verschließen ;-)
„Wir schämen uns für nichts mehr“
aka.
„Solange es sich verkauft…“
Ist das gleiche, wie in dieser Kritik:
https://www.vice.com/de/article/wxej54/rechte-trolle-bots-influencer-vs-linke
Dort wird erklärt, dass die Rechten eine „bessere“ Webstrategie haben.
Dabei haben die einfach nur keinen moralischen Unterbau, sodass ein fairer Umgang, zumindest mit Fakten nur der Verbreitung der eigenen Ideologie im Wege stünde, bzw. dem Geldverdienen, im Falle Spiegel / Bild.
Man kritisiert also, dass die Linken / die Medien, die nicht künstlich dramatisieren (siehe z. B. Corona) nicht so erfolgreich sind, wie die Parteien / Medien, die polarisieren und es mit der Wahrheit nicht so ganz genau nehmen.
Attest: Lügen verkauft sich besser.
Der Artikel war interessant und anregend, Danke! Was mich zusätzlich interessieren würde: Ist Belastbares bekannt in wie weit die genannten Musik-Stile und -Szenen zur Zeit Raum und Einfluß im Kinderzimmer haben? Welche Beispiele für diese Art von Rap gibt es, anhand Eltern und Andere merken können, dass es dort – wie bei (fast) allen Musik-Stilen – Interessantes, Gutes gibt, genau wie Negatives?
Wer (Gansta-)Rap kritisiert, dem wird gerne pauschal vorgeworfen, er „verstehe die Kunstform halt nicht“. Das schwingt auch hier im Kommentar mit meiner Meinung nach. Peace out!
„Es ist nicht nur dein Eindruck. Stell dir mal zur Zeit Augsteins eine Personalie wie Blome vor: Zuerst Bild, dann Spiegel und dann wieder Bild. Es wäre undenkbar gewesen, allein in Sachen handwerkliches, journalistisches Selbsstverständnis und ich rede gar nicht mal von ideologischen Gräben oder ähnlichen.“
Augstein hatte keinerlei Hemmungen, hochrangige Altnazis zu beschäftigen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Spiegel#Umgang_mit_NS-Vergangenheit_im_eigenen_Magazin
Dort hervorzuheben ist Paul Karl Schmidt, der gleichzeitig Spiegel- und Bild-Autor war.
Die Undenkbarkeit war eher eine entspannte Denkbarkeit: im Spiegel entlastete Schmidt die Nazis, in Bild kolumnierte er für knochenharten Konservatismus am rechten Rand. (NB: Das widerlegt auch Axel Springers angebliche Israel- und Judenfreundlichkeit. Schmidt war überzeugter Antisemit und direkter Berater Springers.)
@Bernhard Reiter: Man muss sich nur einmal die deutschen Charts oder die Spotify-Charts anschauen um zu sehen, wie verbreitet das ist. Zusammenfassung: Nahezu jeder unter 25 hört das heutzutage, fast alle anderen (musikalischen) Subkulturen sind inzwischen zu marginalen Randgruppen zusammengeschrumpft. Beispiele zum Probehören gibt es über o. g. Quellen ja zur Genüge.
Auf dem Titelblatt ist ein Deutscher, der mit Gewalt gegen Frauen, Homophobie und Mobbing seine Marke definiert hat. Und die Grenze zwischen seiner Bühnenfigur und dem vorbestraften Kristoffer jonas einfach wegkokst. Ohne groß auf Spiegeltext oder Kritik dazu einzugehen – dass Kritik an der gewalttätigen und frauenfeindlichen Musik für Kiddies so oft als Boomer-Scheiß abgetan wird, ist auch bisschen wunderlich bis nervig.
@Christoph: Komisch, irgendwie lese ich in dem Artikel von Frau Baum nichts darüber, dass Kritik an gewalttätiger und frauenfeindlicher Musik als Boomer-Scheiß abgetan wird. Aber das musste wahrscheinlich trotzdem dringend mal gesagt werden, „ohne groß auf Spiegeltext oder Kritik dazu einzugehen“.
@Hanno
ich schon. Die Umdeutung der Befremdlichkeit und Verwunderung über diese Straßenattitüde der im Grunde reaktionären Multimillionäre aus der Musikbranche, die mit ihren Kontakten zum Clanmilieu kokettieren, in Betulichkeit und -hey halt keine Ahnung von rap, nä….Klassiker.
Wäre jetzt die Frage, ob Baum Menschen, die in den 70ern geboren sind, als Boomer betrachtet.
Auch wenn ich den Artikel hier nervig unkonzentriert finde (was ist jetzt eigentlich die These?) – Boomer-Verallgemeinerung enthält er nicht, lediglich eine Art infinisiertes, in sich hermetisches Argument, in dem sie zwei Verallgemeinerungen (Boomer, Generation Greta) gegeneinander ausspielt, ohne klarzumachen, worauf das hinauslaufen soll – es spiegelt sich irgendwie nur ins Aussagelose.
Insofern glaube ich nicht, daß sich die Frage stellt.
@Christoph: Keine Ahnung, warum da jetzt wieder dieses „Boomer“-Ding strapaziert werden muss. Die Schubladen funktionieren dann wohl folgendermaßen: Kritik an bestimmten Rap-Texten = Boomer. Jede Kritik an einer (einzelnen) Kritik ist dann automatisch: Kritik als Boomer-Scheiß abtun. So bastelt man sich also selbst die Argumentationsgrundlage. Bezogen auf den konkreten Text ist das Ergebnis aber nicht viel mehr als Projektion oder meinetwegen „Umdeutung“.
Der Spiegeltext mag bisschen piefig sein, aber die Auseinandersetzung mit gewaltverherrlichendem Rap ist mal zu begrüßen. Die findet nämlich wenig bis gar nicht statt. Es wird immer so getan, als wäre da eine kleine aber feine Sparte, die manchmal übers Ziel geht aber meistens nur falsch verstanden wird. Dabei ist das einfach Mainstream mit den derzeit höchsten Verkaufszahlen und teils kalkulierten, teils einfach roh-dummen „Taboobrüchen“ von Erwachsenen für Kinder. Nicht cool.
Mein erster Gedanke zum Spiegel-Text: Schön, dass der Satz „Ich habe Rücken“ erheblich mehr Interpretationsspielraum besitzt als angenommen. Der zweite: Bitte lass Antonia Baum einen heiteren Verriss über diesen Text schreiben.
Meine Wünsche werden wahr! Dankeschön!
@Christoph, #18
„aber die Auseinandersetzung mit gewaltverherrlichendem Rap ist mal zu begrüßen“
Eine tatsächliche Auseinandersetzung fand scheinbar ja gar nicht statt. Man gewinnt beim Lesen des obigen Artikels eher den Eindruck, dass allen Gangsterrappern vom Spiegel unterstellt wird, dass sie in Clanstrukturen gefangen wären. Und durch ihren enormen Erfolg bei der (weißen) Jugend diese unweigerlich hineinziehen würden.
Willkommen bei Übermedien, Antonia Baum (ehem. FAZ).
@Christoph: Also wenn man z.B. die Begriffe „Rap“ und „Sexismus“ oder „Rap“ und „Gewalt“ googlet, finden sich doch locker andere Beiträge zu dem Thema. Beim Genre „Gangsta-Rap“ scheint mir diese Problematik auch zu offensichtlich. Dass „immer so getan“ wird, als wäre das nur eine kleine, aber feine, falschverstandene Sparte, ist dann doch wohl eher eine selektive Wahrnehmung. Im Text von Frau Baum geht es aber doch sowieso nicht darum, ob es prinzipiell sinnvoll ist, sich damit kritisch auseinanderzusetzen, sondern wie der Spiegel sich diesem Thema überhaupt nähert.
Der Artikel ist gut geschrieben – aber mal ernsthaft: Ist da nicht ein Sack Reis in China umgefallen, den man lieber unkommentiert liegen lassen sollte?
Ein Nachrichtenmagazin, das seit Jahrzehnten außer miesestem Kampagnenreiten nichts mehr auf der Pfanne hat und sich selbst-kannibalistisch von seinem exzellenten Ruf von ca. Mitte der 60erjahre bis Ende der 80er nährt, titelt über teutonischen Gangsta-Rap, der seinerseits davon lebt, einen ehemals coolen tiefschwarzen Musikstil von 1988 grottenschlecht zu imitieren.
Da dieser kommerzielle wie armselige Reißbrett-Rap nach über drei Jahrzehnten und 10 Flugstunden von South Central L.A. entfernt bis ins Mark bedeutungslos und irrelevant ist, sucht er schon immer verzweifelt nach der nicht existenten Authentizität. Vor allem Street Credibility soll’s richten, d.h. Leute abzocken, Drogen verticken, Frauen schlagen, miese kriminelle Freunde haben, Morddrohungen aussprechen, in jeder Hinsicht „Voll-Asi“ sein.
Das ist für den Konsumenten das Verruchte daran, das Schmuddlige, Verbotene – der kleine Kick für den ultra-angepassten Hyper-Normalo-Hipster in der sauberen durchgegenderten politisch-ökologisch-korrekten Riesenblase Germany. Und speziell für Kinder und Pubertierende eine der ganz wenigen Möglichkeiten, noch irgendwie irgendjemandem den Stinkefinger zu zeigen, was allerdings beim In-Ear-Headphone keiner mehr mitbekommt.
Und was macht dieses heruntergekommene Blatt, dieser „Walking Dead“ aus Hamburg? Mit einem Gestus der moralischen Empörung hat es nichts besseres zu tun, als den kommerziell längst heißgelaufenen Hype erneut zu puschen. Titelstory! Skandal! Wie aus dem Lehrbuch des Marketing. Die Musikindustrie wird jubelnd ein paar Lines extra darauf ziehen.
Zombie und Kannibale fressen sich gegenseitig und werden noch fetter dabei, eine neue Dimension von medial-industrieller Inzucht ist erreicht.
Erbärmlich – wie gesagt, ich finde Ignorieren – besonders beim Spiegel aber gerade auch bei besonders mieser menschenfeindlicher „Kunst“ – immer die bessere Wahl.
Interessant finde ich allerdings, den Konsumenten immer mal wieder ein wenig Aufklärung über ihre Idole zu bieten:
Wer mit der miesen Asi-Masche erstmal so richtig hochkommt, zeigt oft besonders dreist, dass er nichts weiter als geldgeiler Kapitalist wie kleinbürgerlichen Spießer ist und Null Rebell, Ghettokind o.ä. – siehe CSU-Praktikant Bushido.
Sorry an die Leser für zuviel „mies“ – das passiert halt mal beim Schreiben in Etappen ;-)
Affekte haben da bei mir auch mitgespielt – große Wut über diese 13 blasierten Möchtegern-Relotiusse einerseits und über das dummdreiste Sträflings-Recycling völlig abgefuckter Musikmanager andererseits.
Also bitte gern in Gedanken teilweise durch „übel“, „peinlich“ etc. ersetzen, ist ohnehin passender und präziser zugleich.
Was ist so schlimm daran, in einem Mittelschicht-Blatt die Sorgen der Mittelschicht anzusprechen? Wieso darf man nicht die Nase rümpfen, wenn es Musikern eigentlich nur ums Geld geht? Wieso darf man nicht wertende Distanz ausdrücken, wenn man das historisch wohl einmalige Phänomen beschreibt, dass die Jugendmusik-Charts voll von Leuten sind, die sich gegenseitig an barbarischer Abgründigkeit überbieten wollen, um mehr Kundschaft zu generieren?
Das Raunen der Autorin klingt so, als sollten Moritz‘ Eltern die Verantwortung für solche Entwicklungen bei sich selbst suchen. „Denn am Ende wollen wir doch alle einfach nur verkaufen und Geld verdienen, oder?“ Die Gansta-Rapper haben ihren Style also bloß bei „uns“ abgekupfert oder was? Es wirkt so, als ob hier ein linksakademischer Gedankengang entwickelt werden sollte, der auf halber Strecke steckengeblieben ist, weil er einfach zu abstrus war.