Bahnhofskiosk

Beglückt das Elend ergründen

Wer gelegentlich Talkshows schaut, dem begegnet regelmäßig Albrecht von Lucke. Das ist der Journalist, der zu fast jeder Frage in rasendem Tempo brauchbare Antworten beisteuert. Was früher Hans-Ulrich Jörges und Hajo Schumacher waren, vereint heutzutage Lucke in sich – er ist das Maschinengewehr zu allen Fragen und Lagen. Es gibt auch, tatsächlich, das Heft zum Lucke-TV; zwischen seinen Talkshow-Auftritten schreibt er jeden Monat in „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Das Themen- und Meinungsspektrum des Monatsheftes ist so breit, dass sich Wilhelm, Georg und Cordt Schnibben ausnahmsweise einig darin waren, in diesem Monat gemeinsam das Heft zu besprechen.

Blätter für deutsche und internationale Politik

„Eine Insel der Vernunft in einem Meer von Unsinn“, Monatszeitschrift, Ausgabe 11/19, 130 Seiten, 10 Euro

Inhalt: 9 Kommentare, 8 Berichte
Gestaltung: keine Fotos, keine Illustrationen

Jahrzehntelang waren die „Blätter“ für uns eine zuverlässige Quelle, wenn es darum ging, schnell mal für einen Artikel oder eine Rede vortäuschen zu können, wir hätten uns jahrelang mit dem Thema beschäftigt. Die „Blätter“, 1956 mit dem Motto „Eine Insel der Vernunft in einem Meer von Unsinn“ gegründet, waren lange Zeit so etwas wie ein gedrucktes Wikipedia für gehobenes linkes Kenner- und Angebertum, dann verloren wir das Heft aus den Augen (warum eigentlich?). „Möglicherweise, weil nach dem Ende der DDR herauskam, dass das Heft lange Zeit von der SED finanziert worden war?“ / Wilhelm)

Nun aber haben wir es am Bahnhofskiosk wieder entdeckt und gleich mit dieser Nummer 11/19 lieben gelernt. Wem es vor allem um politische Einordnung geht, der zieht aus einem Monatsheft „Blätter“ so viel Erkenntnis wie aus vier Ausgaben „Die Zeit“ und „Der Freitag“. („Und Luckes Monatskommentar ersetzt vier Lucke-Talkshow-Auftritte.“ / Georg)

Im November-Heft vermöbelt Lucke die Bundesregierung; zugegeben, das ist nicht originell, aber er schlägt mit einer Schwarte von 1975 auf Merkel, Scholz & Co. ein, mit dem Klassiker „Ende oder Wende“ von Erhard Eppler, passenderweise gerade verstorben („Ich distanziere mich von dieser Geschmacklosigkeit!“ / Georg). Lucke entdeckt im Buch des Sozialdemokraten lauter kluge Sätze, die sich lesen wie aus einem Große-Koalition-Ausstiegs-Manifest von Kevin Kühnert.

„Gibt es eine Möglichkeit, das mittel- und langfristig Nötige dem Bürger so nahe zu bringen, das es auch das kurzfristig Verständliche und Akzeptable werden kann?“ fragt Eppler. Und Lucke antwortet: „Aus dem Notwendigen das Akzeptable zu machen, also Einsicht in die Notwendigkeit erst zu erzeugen, auf diesen diskursiv-argumentativen Vorgang hatte Merkel nie gesetzt.“ („Schönes Beispiel dafür, wie ein ein erfahrener Talkshowgast das Banale ins Gehobene übersetzt.“ / Georg)

Auch in der Klimafrage sei Merkel „nicht bereit, diskursiv ins Offene zu gehen. Dabei hätte sie jetzt, zum Ende ihrer Kanzlerschaft, alle Veranlassung den Mut aufzubringen und das notorische ‚Keine Experimente‘ der Union hinter sich zu lassen, schon um ihr politisches Vermächtnis zu verteidigen.“

Lucke hat das, was ein politischer Groß-Kommentator haben muss: Er surft locker von einem Thema zum anderen, von einem Jahrzehnt zum nächsten, von einer These zur anderen, ohne sich für Bekanntes zu schämen, ohne ins Banale abzustürzen, ohne seine Leser zu langweilen („Na ja, und immer schön den bewährten Pfaden des linksliberalen Mainstream folgen.“ / Wilhelm )

Lucke sucht bei Eppler die Antwort auf die Frage: „Mit wie vielen längerfristigen Aufgaben darf man den Bürger konfrontieren, ohne dass er kopfscheu sein Heil in der Reaktion sucht?“ Luckes Antwort: „Offensichtlich meint die Bundesregierung, sie könne die Bürger mit fast nichts konfrontieren.“ („Meine Antwort: Die Bürger? Wenn ein Politiker ‚die Bürger‘ ins Spiel bringt, meint er immer die Bürger, die ihn bestätigen“ / Georg)

Diese Ausgabe streift im Kommentar-Teil vom Klimaschutz über Halle, Syrien, Spanien, Österreich, Russland nach Sri Lanka. Thematisch stellt es das Klima neben Artenvielfalt, digitalen Kapitalismus, Mauerfall, Osteuropa, Wirtschaftsdemokratie, Mietendeckel. Service für den Leser, der so rundum meinungsstark sein will wie Lucke: Buch des Monats, Chronik des Monats, und (im Netz) „Dokumente zum Zeitgeschehen“, also zum Beispiel „Report der der Europäischen Umweltagentur“, „Welthunger-Index“, „Atomkrieg-Studie von IPPNW“, Buchmessen-Rede von Saša Stanišić.

Liest man das Heft, während der kräftige Herbstregen gegen die großen Scheiben der Altbauwohnung prasselt, braucht man viel heißen Tee mit Milch und Honig und ein paar Nürnberger Lebkuchen, um sich nicht depressiv-resignativ im Bett zu verkriechen. Auch deprimierende Texte und Fakten können erbaulich sein, wenn dich die Einsicht in neue Zusammenhänge glücklich macht. („Manchen Leuten reicht zum Glück schon, dass deprimierende Texte immer wieder ihren Weltschmerz bestätigen!“ / Wilhelm)

Zu der Text-Kategorie „Beglückt das Elend ergründen“ gehört eine Analyse des stellvertretenden Chefredakteurs des „New York Magazine“, David Wallace-Wels, mit dem ermunternden Titel „Ausblick auf das Höllenjahrhundert“. Tröstlich: Gemeint ist die Zeit nach 2100, wenn alle heutigen Leserinnen und Leser der „Blätter“ tot sind. Da ich gerade wegen eines Filmprojektes tief im Lebensgefühl der sechziger Jahre stecke: Der linke Blick auf die Welt war vor einem halben Jahrhundert nicht getrübt durch Angst vor Aids, Angst vor CO2, Angst vor Atom; er war gerichtet auf eine Welt, die versprach, paradiesisch zu werden.

Wallace-Wels schafft es, den trostlosen Weg bis zu einer grünen Sahara, einem vereisten Europa und einem überschwemmten Amerika so komplex und so unausweichlich zu skizzieren, dass man notgedrungen bei der Frage landet, die inzwischen jede zweite Talkshow beschäftigt: Warum schaffen es die Regierenden nicht, aus Erkenntnis Politik zu machen?

Lucke hat die Antwort für die deutsche Regierung: Dieses Klimapaket „ist der bisher wohl größte Triumph der Rechtspopulisten, ohne an der Regierung beteiligt zu sein, hat die AfD doch mit am Verhandlungstisch gesessen.“

Die Regierenden handeln nur noch aus „purer Angst vor der Straße“, aber nicht aus Angst vor den Millionen, die für Umweltschutz protestieren, auch nicht vor denen, die jeden Freitag die Schule schwänzen, sondern vor den „besorgten Bürgern“, die daran glauben, erst im nächsten Jahrhundert werde das Klima ein Problem – wenn überhaupt. Und die sich bei den nächsten Wahlen mehr um ihren SUV, ihre nächste Urlaubsreise und den Benzinpreis sorgen.

Auf der letzten Seite des Heftes eine Anzeige für den „Blätter“-Klima-Reader „Unsere letzte Chance“, seit dem 18. November im Handel.

9 Kommentare

  1. „gedrucktes Wikipedia für gehobenes linkes Kenner– und Angebertum“
    Deshalb haben die aktuell prominent auch das ‚Klima als Hölle‘ auf dem Cover?
    Wikipedia, Klima, Linke und eine religiöse Strafandrohung: alles stark verdichtet drin.

  2. „Gibt es eine Möglichkeit, das mittel- und langfristig Nötige dem Bürger so nahe zu bringen, das es auch das kurzfristig Verständliche und Akzeptable werden kann?“ fragt Eppler.

    Ein fulminanter Denkanstoß, mit dem sich eigentlich jeder mit genügend Grips mindestens einmal beschäftigen müsste.

    „Aus dem Notwendigen das Akzeptable zu machen, also Einsicht in die Notwendigkeit erst zu erzeugen, auf diesen diskursiv-argumentativen Vorgang hatte Merkel nie gesetzt“

    Dieses Gefühl, wenn die Ohnmacht ein wenig weicht, ich fühle es gerade.

    Lucke sucht bei Eppler die Antwort auf die Frage: „Mit wie vielen längerfristigen Aufgaben darf man den Bürger konfrontieren, ohne dass er kopfscheu sein Heil in der Reaktion sucht?“ Luckes Antwort: „Offensichtlich meint die Bundesregierung, sie könne die Bürger mit fast nichts konfrontieren.“

    Verdammt, wer ist dieser Lucke und warum hört ihm keiner zu?

    „Liest man das Heft, während der kräftige Herbstregen gegen die großen Scheiben der Altbauwohnung prasselt, braucht man viel heißen Tee mit Milch und Honig und ein paar Nürnberger Lebkuchen, um sich nicht depressiv-resignativ im Bett zu verkriechen.“

    Das sehe ich wohl komplett anders. Ich werde depressiv, wenn ich die Zusammenhange des Puzzles von niemandem erläutert bekomme, bzw. sie mir mühsam aus vielen Medien zusammensuchen muss und dann noch selber Fragen stellen muss, ohne ein verständliches Bild zu bekommen. Dieses Magazin hat hingegen offenbar das Potenzial, meine Negativität, die meiner Ohnmacht enstammt, umzuwandeln, und zwar in progressive Haltung!

    „Warum schaffen es die Regierenden nicht, aus Erkenntnis Politik zu machen?“

    „Dieses Klimapaket „ist der bisher wohl größte Triumph der Rechtspopulisten, ohne an der Regierung beteiligt zu sein, hat die AfD doch mit am Verhandlungstisch gesessen.“

    Eine gute These jagt die nächste!

    Was ich hier eben gelesen habe gefällt mir unglaublich gut.
    Direkt das Magazin abonniert.

  3. @ P Skizzle #3
    „Dieses Magazin hat hingegen offenbar das Potenzial, meine Negativität, die meiner Ohnmacht enstammt, umzuwandeln, und zwar in progressive Haltung!“
    Dabei hat / Wilhelm dazu doch bereits das Nötige angemerkt:
    „Manchen Leuten reicht zum Glück schon, dass deprimierende Texte immer wieder ihren Weltschmerz bestätigen!“

  4. @3 (P.Skizzle):

    „Verdammt, wer ist dieser Lucke und warum hört ihm keiner zu?“

    Ihre erste Frage ist bereits die vorweggenommene Antwort auf die zweite.

  5. @4 Weltschmerz? Dass Sie ab und an fantasieren, ist wohl landläufig bekannt, aber Sie brauchen Ohnmacht und Negativität nicht als Weltschmerz interpretieren, denn dazu fehlt mir dann doch der Pessimismus.

    Deshalb sehe ich den Teil ja auch komplett anders als er. Wenn er davon deprimiert wird, dann weil seine Scheuklappen ihn zu lange vor Erkenntnissen bewahrt haben. Bei mir findet das Gegenteil statt, meine Neugier giert nach einer stabilen Erklärung und ich bin deprimiert, wenn sie nirgendwo zu finden ist. Warum sollten mich so strahlende Gedanken deprimieren?

    @5 sorry, aber kann meine zweite Frage nicht finden, entweder bin ich gerade blind oder Sie verwechseln ein Zitat als Frage.

  6. @5 noch einmal sorry Holger, es hat bis eben gedauert bis ich verstanden habe, dass beide Fragen zusammen gestellt wurden. Denn „wer ist er“/ „warum hört ihm keiner zu“ kann man auch als eine Frage betrachten. Ist er zu höflich und zurückhaltend, dass ihm keiner zuhört? Steht er etwa im Widerspruch zu gewissen Interessen?

    Die Frage/Fragen beantwortet/-en sich eben nicht von selbst

  7. @7 (P Skizzle):

    „Ist er zu höflich und zurückhaltend, dass ihm keiner zuhört?“

    Entweder das oder es ist etwas anderes. :-)

    „Steht er etwa im Widerspruch zu gewissen Interessen?“

    Wir stehen alle im Widerspruch zu gewissen Interessen, Sie, ich, der Autor des Artikels, alle stehen ständig im Widerspruch zu irgendwas, so ist das Leben nunmal.

    „Die Frage/Fragen beantwortet/-en sich eben nicht von selbst.“

    Doch, eigentlich schon. Nur für jeden beantwortet sich sich halt anders, wie von selbst.

    So, und damit diese Konversation sich jetzt wenigstens nicht völlig in philosophischen und am Ende genauso rätselhaften wie unnützenWorthülsen verliert, kurz noch eines von mir:

    Für mich war der Artikel an der Bezahlschranke zu Ende und ich kommentiere ungern etwas, wenn ich nicht genau weiss, um was es geht.

    Den Lucke kenne ich nicht, deshalb sage ich fairerweise auch nichts dazu aber ich wage einfach mal zu behaupten, dass ihn von den 80 Millionen Deutschen auch nur vergleichsweise (sehr) wenige kennen.

    Warum sollte man also jemandem zuhören, von dem man noch nie etwas gehört hat und garnicht weiss, dass es ihn überhaupt gibt?

    Mehr war da von meiner Seite nicht dahinter. :-)

  8. Ob das hier noch jemand liest? Also: Albrecht von Lücke schreibt zwar mit Sachkenntnis, aber leider immer mit Übertreibung und Beliebigkeit. Wenn man sich mal seine letzten zwei „Blätter“-Beiträge (5+6/2020) anguckt, strotzt er nur so vor Übertreibung. Er will dabei maximal Lärm schlagen ohne sich festzulegen. So schreibt er zum Beispiel in Blätter 6/2020 auf Seite 6 (unten links): “ …dürfte es für Meuthen (…) definitiv keine Zukunft mehr in der Partei geben. Die AfD dürfte damit endgültig zu einer Kalbitz-Höcke-Partei werden.“
    Ja, was nun? Es „dürfte“, also ist er nicht sicher? Aber wenn es so sein sollte, dann natürlich „definitiv“ bzw. „endgültig“!
    Es tut mir Leid, aber von Lucke schwadroniert wie Steingart. Eine nachvollziehbare und konsistente Meinung mit klarer und unaufgeregter Sprache ist das nicht.

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