Wochenschau (44)

Das Feuer vor lauter Bränden sehen

Es gibt ein faszinierendes Foto von dem deutschen Künstler Thomas Demand. Man sieht darauf Bäume, durch deren Blätter warmes Sonnenlicht fällt. Eine eher mittelaufregende, weil recht unambitioniert wirkende Landschaftsfotografie, könnte man meinen. Nur eine weitere Darstellung des saturierten Motivs „Deutscher Laubwald“, wie man es aus Apothekenzeitschriften kennt.

Betrachtet man das Bild allerdings genauer, stellt man fest, dass die Blätter unnatürlich aussehen und irgendetwas nicht stimmt. Denn es handelt sich um ein aus Papier hergestelltes Modell eines Waldes. 217.000 Blätter wurden für die lebensgroße Installation per Hand zurechtgeschnitten und auf Papierbäume aufgeklebt. Die vermeintlichen Sonnenstrahlen sind grelles Scheinwerferlicht, das durch den Papierwald fällt. Natürlichkeit und auratische Sanftheit werden künstlich imitiert. Und nach dem Erstellen dieser Arbeit hat Demand das komplette Modell zerstört. Alles, was von der Belichtung übrig blieb, ist dieses Foto.

Der Schnappschuss einer scheinbar natürlichen Szenerie, die heute nur noch als Bild existiert und deren Natürlichkeit es niemals gab, bietet nicht nur die Möglichkeit, um über Natur, Vergangenheit oder Erinnerung zu reflektieren. Es führt dem Betrachter auch die Verfasstheit seiner eigenen Wahrnehmung vor Augen sowie die blinden Flecken, die zwischen Nicht-Wissen und Sichtbarkeit entstehen.

Ein flüchtiger Blick verkennt die Falschheit des Bildes eines Waldes, der als natürliches Fragment nur in unserer eigenen Wirklichkeit imaginiert wird und der niemals wirklich existierte. Sobald man jedoch von der Zerstörung der Grundlage dieser Illusion erfahren und die Konstruktion dieses Bildes verstanden hat, wird man unweigerlich mit einer gewissen Irritation konfrontiert.

Das verzögerte Entsetzen

Der Amazonas brennt. Er brennt momentan vor allem, weil Brände gelegt wurden und werden. Es handelt sich um keine ausschließlich natürliche Katastrophe. Die Wälder des Amazonas werden verbrannt. Noch präziser: Der brasilianische Regenwald wird seit mindestens drei Wochen verbrannt. Und noch genauer: Das passiert nicht nur momentan, sondern jedes Jahr. Weshalb also erst jetzt die internationale Aufmerksamkeit und Aufregung? Weshalb dieses verzögerte, plötzliche Entsetzen?

Eine Möglichkeit ist, dass der Urwald erst prominente Unterstützung benötigte: Die öffentliche Stellungnahme von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die auf die globalen Ausmaße des Problems hinwies, machte ihn zum Politikum und verhalf ihm zu einem internationalen Publikum.

Screenshot: Nasa/Firms

Andererseits waren es aber vielleicht vor allem die Bilder, die Aufnahmen aus der Vogelperspektive, die nicht nur Brasilien, sondern ganz Südamerika zeigten, von roten Flecken befallen, welche die Dimension der Brände sichtbar machten. Wahrscheinlich brauchte die Welt diese distanzierten Bilder, diese emotionslose, abstrakte Visualisierung, um die schwer vermittelbare Gewaltsamkeit dieses weit entfernten Ereignisses begreifbar zu machen.

Wie beim ersten Golfkrieg und seinen grün flimmernden Computerspiel-ähnlichen rauschigen Nachtaufnahmen tauchen bei größeren medialen Ereignissen manchmal neuartige Bilder auf, die etwas Abstraktes und Unwirkliches fassbar machen möchten, obwohl sich die Geschehnisse in ihren Ausmaßen einer eindeutigen Sichtbarkeit entziehen.

Medien wie das Fernsehen oder journalistische Bilder versuchen durch Visualisierungen das Ereignishafte aus einer nachvollziehbaren Perspektive zu erschließen, mittels eines einleuchtenden Blicks, der dem Betrachter eine eindeutige Position zuweist. Nachrichten leben davon, dass die Welt nicht nur durch Sprache, sondern vor allem auch durch aussagekräftige Bilder erfahrbar gemacht werden kann, selbst dann, wenn die Bilder nicht mehr aussagekräftig sind und man im night shot mode nur noch grünes Rauschen erkennt.

Zwischen der Welt und dem Betrachter muss eine Verbindung hergestellt werden, damit dieser begreift, inwiefern draußen nicht nur ein paar Bäume im Amazonas brennen, sondern – ökologisch betrachtet – langsam schon der eigene Vorgarten und die Haustür.

Neben Macron, den Satellitenbildern und Landkarten spielten in der Wahrnehmung und plötzlichen Zirkulation aber auch die sozialen Netzwerke eine entscheidende Rolle. In ihnen wurden Meinungen, Kommentare, Fotos und Videos nun von einer breiten Masse an PolitikerInnen und JournalistInnen geteilt und nicht mehr nur von BrasilienexpertInnen und Nischen-FeuilletonistInnen, die schon seit Wochen über die Konsequenzen der apokalyptischen Politik der rechtsexertremen brasilianischen Regierung berichteten.

@ebertmatthias
@strandreporter
@glusing
@Lichterbeck_Rio

Als sich die Bilder der brennenden Bäume, der verdunkelten Himmel über brasilianischen Städten und von vertriebenen Indigenen über das Netz verbreiteten, stellte sich heraus, dass es sich manchmal gar nicht um Aufnahmen gegenwärtige Feuer handelte. Einige ältere Fotos wurden offenbar symbolisch verwendet, aber angesichts der Fülle aktueller fotografischer Zeugnisse misslangen Versuche wie der des brasilianischen Präsidenten, mit dem Verweis auf falsche Fotos von den realen Tatsachen abzulenken.

Der Dramatiker und Theoretiker Bertolt Brecht beschrieb bereits im Jahr 1931 das Phänomen der Fotografie:

„Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung des menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ‚etwas aufzubauen‘, etwas ‚Künstliches‘, etwas ‚Gestelltes‘.“

Auf den Amazonas übertragen lässt sich sagen, dass all diese Bilder, die für die weltweite Wahrnehmung der Katastrophe notwendig sind, nicht wirklich etwas über eine tatsächliche „Realität“ der Ereignisse in Brasilien aussagen können, über die politischen und sozialen Zusammenhänge, die zur gegenwärtigen Situation geführt haben. Dennoch konstruieren wir aus ihnen ein gegenwärtiges Bild, das für uns einen Realitätswert besitzt, der uns glauben macht, dass etwas unternommen werden muss, um derartige Bilder zu verhindern.

Nicht zu fassen: der Klimawandel

Der amerikanische Hochschullehrer und Ökologie-Philosoph Timothy Morton meint, dass der Klimawandel unsere Vorstellung von Zeit und Raum derart herausfordert und übersteigt, das wir ihn geistig nicht mehr wirklich fassen, sondern ihn nur noch in einem metaphysischen Sinne ergründen können. Die menschliche Wahrnehmung klimatischer Veränderungen ist begrenzt, wir können nicht schlicht auf ein Thermometer oder auf eine Wetterkarte zeigen und sagen: „Das da ist die Klimaerwärmung!“

Morton definiert das Phänomen der globalen Erwärmung als ein eigenständiges Problem, das er „Hyperobjekt“ nennt. Diese Art von Objekt ist für ihn etwas Allumfassendes, das so groß ist, dass wir es in seiner Gesamtheit nicht wahrnehmen können. Wir selbst sind Teil davon, weshalb wir immer nur einzelne Aspekte begreifen können, was die Problembewältigung so vertrackt macht. Denn wir können im Inneren nicht so einfach erkennen, wofür wir eigentlich Verantwortung übernehmen sollen oder warum und wann Anteilnahme und Einsatz angebracht sind.

Der brennende Amazonas erreicht uns in Form von Fotos, Karten und Satellitenbildern vielleicht aktuell deshalb so sehr, weil er exemplarisch die Abstraktheit unserer Umwelt-Klima-Realität visualisiert, die sich unserer Wahrnehmung entzieht, für die wir jedoch konkrete Bilder und Beispiele brauchen, wenn wir über die Konsequenzen unsere Konsum- und Politik-Entscheidungen diskutieren wollen.

Morton sagt: Wenn wir Klimawandel nicht als ein Phänomen, sondern buchstäblich als ein Objekt betrachten, in dem wir uns gerade befinden, dann werden die Relationen zwischen Gesellschaft und Umwelt klarer und wir beziehen die sichtbaren Schäden mehr auf uns und unser Handeln. Wir sind Teil der vom Klimawandel betroffenen Umwelt und die vom Klimawandel betroffene Umwelt ist Teil von uns und mir und dir.

Mediatisierte Ereignisse

Ein weiterer Aspekt macht die durch die Bilder hervorgebrachte Entsetzen noch entrückender, denn aus medientheoretischer Sicht haben wir es mit einer beeindruckenden Symbiose von Ereignissen zu tun. In der Kommunikationswissenschaft unterscheidet man in der Berichterstattung zwischen verschiedenen Ereignissen: Die erste Art sind genuine Ereignisse wie Unfälle, Tode oder Umweltkatastrophen. Die zweite Art sind mediatisierte Ereignisse, also Dinge, die auch ohne Einflussnahme der Medien stattgefunden hätten, aber nun anders stattfinden, um mediengerecht aufbereitet werden zu können, zum Beispiel Wahlen oder Promihochzeiten. Die dritte Art sind Pseudo-Ereignisse, die es ohne die dazugehörige Berichterstattung gar nicht gäbe, wie zum Beispiel Pressekonferenzen.

Suchte man nach dem emblematischen Ereignis der Klimakrise, könnte man an Greta Thunbergs Fahrt über den Atlantik denken. Die Reise hätte sie vermutlich ohnehin angetreten, aber nun segelt sie in vollem Bewusstsein der Symbolik ihrer Geste in mediengerechter Form, wodurch es ein mediatisiertes Ereignisse ist. Wir sind uns beim Sehen auch der Inszenierung bewusst.

Dazu kommen nun als weiteres Ereignis die Brände im Amazonas. Sie haben eine Ästhetik eines genuinen Ereignisses; es sind Bilder einer erbarmungslosen Naturkatastrophe: der sterbende Wald, die verzweifelte Bevölkerung, die flüchtenden Tiere.

Aber hier sind die Brände eine von Menschen herbeigeführte Naturkatastrophe. Wir wissen das beim Rezipieren. Wir können uns beim Betrachten nicht die „Ach Schlimm!“-Entrücktheit gestatten, die wir als Ersatzhandlung zu einem echtem Schock pflegen. Denn was wir begreifen, wenn wir die Bilder sehen: Da ist eine Naturkatastrophe in einem fernen Land, an der wir als Betrachter, anders als bei einem Vulkanausbruch oder einem Flugzeugabsturz irgendwo, Mit-Schuld haben.

Verstrickte Kausalzusammenhänge

Die verstrickten Kausalzusammenhänge sind relevant: Die Brände können deshalb gelegt worden sein, weil ein rechtsextremer Politiker an die Macht gekommen ist, dessen postkoloniale Ideologie die Vertreibung der indigenen Bevölkerung legitimiert, um die Ressourcen des Amazonas auszubeuten. Die Bauern, die Felder roden, produzieren zum Teil Soja für den europäischen Markt, als Futtergrundlage für die Massentierhaltung, durch welche Fleisch gezüchtet wird, das wiederum zum Beispiel nach China verkauft wird.

Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro ist ein reaktionärer Nationalist. Die Globalisierung ist für ihn eine Verschwörung eines behaupteten „kulturellen Marxismus“. Für ihn hat es keine Relevanz, wenn ihm Politiker oder Wissenschaftler erklären, dass aufgrund seiner Politik Wälder brennen und die ganze Erde darunter leidet. Im Gegenteil: Es gehört zu seinem Verständnis einer Demonstration von Macht, wenn er verbrannte Erde hinterlässt, denn ab jetzt, so die Logik von Bolsonaro, profitiert keiner mehr einfach so und für umsonst vom brasilianischen Wald. Die Hölle auf Erden gehört zu seiner brutalen Zurschaustellung territorialer Souveränität.

All diese Aspekte – politische, ökonomische, historische, biologische, meteorologische, ideologische – spielen in diesen Waldbrand hinein und stehen emblematisch für die Herausforderung, vor der wir stehen, wenn wir mit dem Hyperobjekt „Globale Erwärmung“ umgehen müssen.

Es ist tragisch, dass dieser Wald, der erst zerstört werden muss, um uns die Komplexität zwischen uns, unserer hyperobjektiven Wahrnehmung und der medialen Realität vor Augen zu führen, nicht auch nur ein unechter aus Papier ist.
Der niederländische Filmemacher Johan van der Keuken sagte mal: „Im visuellen Zeitalter ist Blindheit an der Tagesordnung“ – aber wir sehen vor lauter Bäumen nun endlich den Wald.

8 Kommentare

  1. Oder, „wir“ Publikum nehmen es einfach stärker wahr, weil „wir“ Journalisten jetzt stärker darüber berichten.

    Oder, „wir“ nehmen es nicht stärker wahr, weil „wir“ daran Mitschuld tragen (im Unterschied zu einem Vulkanausbruch), sondern weil „wir“ mitbetroffen sind (im Unterschied zu einem Vulkanausbruch).

  2. „Das passiert nicht nur momentan, sondern jedes Jahr. Weshalb also erst jetzt die internationale Aufmerksamkeit und Aufregung?“

    Vielleicht weil jetzt nicht mehr einer von den Guten, sondern ein Böser der Staatspräsident ist?

  3. „Wie beim ersten Golfkrieg und seinen grün flimmernden Computerspiel-ähnlichen rauschigen Nachtaufnahmen“.

    In der Schule habe ich „erster Golfkrieg“ einst als Bezeichnung für den Krieg zwischen dem Iran und dem Irak in den 80ern kennengelernt und sehe, dass diese Bezeichnung auch in der Wikipedia benutzt wird: https://de.wikipedia.org/wiki/Golfkrieg

    Vermutlich ist hier eine Formulierung mit Ordnungszahl aber eh leicht missverständlich und etwas wie „Golfkrieg zu Beginn der 90er“ wäre klarer.

  4. Der Zyniker in mir stellt fest, dass es inzwischen „unzählige“ Golfkriege gegeben hat.

    Jedenfalls, sollte man sich nicht freuen, dass man JETZT über Waldbrände und/oder Brandrodung berichtet, anstatt sich zu beschweren, dass man das letztes Jahr nicht gemacht hat?

  5. @WINDISCH

    „Vielleicht weil jetzt nicht mehr einer von den Guten, sondern ein Böser der Staatspräsident ist?“

    Die einfachere — und mMn auch logischere — Erklärung ist, dass darüber jetzt verstärkt berichtet wird, weil:

    1. Klimawandel derzeit in Deutschland generell ein beherrschendes Thema ist
    2. Die Anzahl der Brände ggü. dem letzten Jahr stark zugenommen hat(http://queimadas.dgi.inpe.br/queimadas/portal-static/situacao-atual/) und Brasilien hat jetzt einen Präsidenten besitzt, der das sogar verbal befördert.

  6. Die BBC hat sich selbst gefaktencheckt und ihre vorherigen Berichte korrigiert; von der deutschen Haltungsjournalille ist dergleichen wohl kaum zu erwarten (oder erst in ein paar Jahren, siehe „Hufeisenplan“, wo dies vereinzelt geschah):

    https://www.bbc.com/news/world-latin-america-49433767
    „There were more fires in the mid-2000s
    While the number of fires in Brazil is at its highest level for almost a decade, the data suggests that Brazil – and the wider Amazon region – has experienced more intense burning in the past.

    An analysis of Nasa satellite data this month indicated that the total fire activity in 2019 across the Amazon, not just Brazil, is close to the average when compared with a longer 15 year period.

    Figures from Brazil’s Inpe, dating back to 1998, also show the country suffered worse periods of fire activity in the 2000s.

    Reports in mid-August, including on the BBC, had said there were a record number of fires in Brazil this year. Inpe has since made more data easily accessible, showing how far back its records stretched. We have now amended our reports to reflect this information.

    Inpe’s historic figures are backed by numbers from Cams, which show total CO2 equivalent emissions – used to measure of the amount and intensity of fire activity – were also higher in Brazil the mid-2000s.“

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