Bahnhofskiosk

Schienenersatzlektüre

Noch immer ist Sommer, also diese fade Jahreszeit, in der sich das Leben zwischen Wespenstich auf schwitziger Wange, Sonnenaufgang-Gucken über Binnengewässern und Rangeleien in der kilometerlangen Abfertigungsschlange am Flughafen abspielt. Jetzt ist der Mensch besonders Mensch, zurückgeworfen auf sein animalisches Wesen.

Besonders gut fürs animalische Wesen und schwitziges Drunter und Drüber eignet sich Berlin. Clubs, Spree, Hedonismus, junge Menschen aus aller Welt, die wildes Leben spielen. Der Sommer liebt Berlin. Ich auch. Ich liebe Berlin für Baumscheiben mit Stockrosen und „Fuck Off, Köter“-Schilder, für den merkwürdigen Alex und stadtschmutzige Füße in Sandalen. Unter anderem.

Ich sinniere sehnsüchtig seufzend in einer Münchner Straßenbahn, aus der Entfernung liebt es sich freilich immer etwas besser. Wenn man dann da ist, in diesem abgefahrenen Berlin, erkennt man: Alles ist von allem weit weg. Richtig weit. 40-Minuten-mit-der-U-Bahn-mit-zweimal-Umsteigen-weit-weg. Außerdem kann es in der U2 von der Eberswalder in Richtung Gleisdreieck schon mal gemütliche 56 Grad haben, und dem Rudel besoffener Touristen ist es herzlich stulle, dass der Waggon bereits brechend voll ist. So schmiegt man sich dann klebrig aneinander und los geht die lustig-rumpelnde Fahrt.

Weil das viele nicht schätzen, ebenso wenig wie verspätete Busse oder Trambahnen, die sonntagmorgens riechen wie die Dixie-Ecke eines Festivals, setzt man bei der BVG, dem ÖPNV-Unternehmen der Hauptstadt, seit ein paar Jahren auf cleveres Marketing, um gute Laune zu verbreiten, auch wenn die Stimmung der Fahrgäste im Keller ist: #weilwirdichlieben eben.

Kluge Slogans prägen Plakate und Anzeigen, wirklich gute Witze zieren Fahrzeuge („Weine nicht, wenn der Regen fällt, Tram Tram, Tram Tram“), die Werbe-Musikvideos verpassen einem Ohrwürmer des Todes, und die Twitter-Truppe macht ihren Job mit Selbstironie und Humor. All das passt sehr gut zur großen Stadt an der Spree und machte die BVG auch bei jenen Menschen bekannt, die keine expliziten Berlin-Aficionados oder gar -Einwohner sind.

Viermal „Berlin lieben“ zum 90. Geburtstag

Dieses Jahr feiert die BVG Geburtstag: der Neunzigste wird begangen und so setzt das Unternehmen in Sachen Marketing noch einen drauf und bringt 2019 vier Hefte mit dem Titel „Berlin lieben“ heraus, die man käuflich erwerben kann und nicht mit dem kleinformatigen Kundenmagazin „PLUS“ verwechseln sollte, das in Tram und Bus aushängt und zum Beispiel freundlich mitteilt, welche Tram gerade nicht zum Hauptbahnhof fährt und wie welcher Nachtbus umgeleitet wird. Lebenswichtige Information in der großen Stadt.

„Berlin lieben“ also, Ausgabe 2. Auf dem Titelbild hält sich ein Paar umschlungen, alles markenkohärent in gelb-schwarz; der Heftrücken trägt dieses bezaubernde rot-blaue Muster, das auch die Sitzpolster in Bus und U-Bahn ziert.

Den lobhudelnden Reigen eröffnet zunächst ein Bericht über das BVG-Sammeltaxi BerlKönig, den neuesten heißen Scheiß und eine „prima Ergänzung zu Bussen und Bahnen“, die bisher in den irrsinnig abgelegenen und quasi von der Außenwelt abgeschnittenen Vierteln Kreuzberg, Friedrichshain, Mitte und Prenzlauer Berg verkehrt. Dass man hier keine kritische Betrachtung dieses in Entwicklung und Erweiterung befindlichen Fahrdienstes erwarten kann, liegt in der Natur der Sache.

Dem folgt ein Porträt einer Arbeitsgemeinschaft, deren Leidenschaft Alt-Busse sind, die ihre beste Zeit hatten „als Feinstaub noch ein Problem für Hausfrauen war“ (hat einen komischen Unterton, diese Analogie). Manchmal führen sie sie noch aus, aber wie die Zukunft der Diesel-Brummer aussehen soll, das weiß niemand so richtig.

Neben diesen „Enthusiasten, Überzeugungstätern, Fans“ kommen U-Bahn- und Bus-Fahrer*innen zu Wort. Und man lernt: Ihnen darf wirklich nichts Menschliches fremd sein. Von Kindern auf Rollschuhen an der Bahnsteigkante zum berauschten Nachtmenschen und weiter in Richtung Koitus und zurück – sie sehen alles und lassen sich bestenfalls nicht aus der Ruhe bringen.

Ich kann gut leiden, wie sie von den Unterschieden der U-Bahn-Strecken erzählen (die Route der U2 ist offenbar eine herausfordernde Nummer) und bin ganz gerührt von dem U7-Fahrer, der von der beruflich bedingten Dunkelheit berichtet und das „auf Dauer etwas bedrückend“ findet. Das alles wirkt authentisch und man mag sich eigentlich mal mit den Interviewten treffen und noch mehr der kuriosen Geschichten hören, die ihren Arbeitsalltag prägen.

Die Mitte des Heftes bildet ein großer Bericht über die BVG-Historie. Es ist der zweite Teil: die Jahre zwischen 1955 bis 1979. In diese Zeit fällt das, was die Stadt so lange so maßgeblich geprägt hat: der Bau der Mauer, der heute vor genau 58 Jahren begann. Ausführlich wird die Nacht beschrieben, in der die Gleisverbindungen unterbrochen wurden und wie sich in den Folgejahren die Situation des ÖPNV in Ost und West entwickelte. Besonders bewegend ist die Geschichte eines gescheiterten Fluchtversuchs mit einem BVG-Bus.

Wer also Berlin liebt, kann hier was lernen und muss sich nicht mehr wundern, warum im Westen keine Tram fährt. Obendrein kann man noch ordentlich mit neu erworbenem Wissen über die Geschichte der Stadt angeben.

Harte Fakten: Haltestellen, Streckenlänge, Endstation

Kommen wir nun zum wirklich großartigen Teil dieses Magazins: die Vorstellung von zehn BVG-Strecken; drei U-Bahnlinien, drei Buslinien, drei Tramlinien und eine Fährverbindung.

Die rechte Seite der jeweils eröffnenden Doppelseite beinhaltet eine Berlin-Karte, auf der die Strecke und einige wichtige Haltestellen eingezeichnet sind. Dazu die harten Fakten: Anzahl der Haltestellen, Streckenlänge, Endstationen, Datum der Inbetriebnahme, durchschnittliche Fahrtzeit und durchquerte Bezirke. Ergänzt wird das noch durch Informationen zu den Bezirken: Bürgermeister*in, Einwohnerzahl, Fläche, Durchschnittsalter, Mietpreis. Auf jeweils zwei weiteren Doppelseiten folgen Berichte und Empfehlungen aus den durchquerten Kiezen.

Den Anfang macht die allseits populäre U1 mit Anregungen und Geschichten von Schlesi und Uhlandstraße. In abgeteilten Kästchen werden den Lesern Parks (von Görli bis Gleisdreieck) und Gastronomie (von alteingesessen-alternativ am Kotti bis Hähnchen-Grill im KaDeWe) ans Herz gelegt. Das kann den eingefleischten Berlin-Liebenden zwar noch nicht in Verzückung oder maßloses Staunen versetzen. Aber das ist ja auch erst der Anfang. Durchreisenden können diese Tipps durchaus zu einem vergnüglichen Nachmittag verhelfen.

Auch U7 und U2 gehören meiner Ansicht nach nicht zu den totalen Kuriositäten im Untergrund (I’m looking at you, U4, aber vermutlich warst du mit deinen wenigen fünf Stationen schon in Ausgabe 1 dran). Die Museen, die entlang der U2 empfohlen werden, sind aber thematisch vielfältig – ein bisschen Kino, ein bisschen Street Art, ein bisschen Technik – und taugen auch, um diese große Stadt immer noch ein bisschen besser kennenzulernen.

Bei der U7-Reise hat man sich gemäß des in den Berlin-Karten des „tip“-Stadtmagazins manifestierten Gedankens „in Spandau ist Spandau die Antwort auf jede Frage des Lebens“ entschlossen, lieber nur Britz und Rathaus Neukölln zu präsentieren und hat auch die harten Fakten auf der ersten Doppelseite, die ich so lieb gewonnen habe, zu Spandau einfach entspannt weggelassen. Immerhin schätzt der interviewte U7-Fahrer die Architektur der Haltestellen Altstadt Spandau und Rathaus Spandau.

Bei den Trams würde ich behaupten, dass die M10 die bekannteste Linie ist – jeder in Berlin kennt wen, der eine M10-Story hat, und jeder, der Berlin mal besucht hat, hatte vermutlich auch das Vergnügen. Deswegen haut mich der M10-Bericht nicht um; umso eifriger lese ich über die Tram63 zwischen Mahlsdorf und Köpenick. Durch den Gutspark Mahlsdorf stolpert man nicht so leicht wie durch den bei der M10 vorgestellten Humana am Frankfurter Tor. Und auch dass man entlang der M4 nicht nur den Weißen See, sondern auch den Faulen See vorstellt, freut das Entdeckerherz.

Dass es denn bei Berlins geradezu aufdringlich großer Anzahl von Gewässern aller Art auch eine Fährverbindung gibt, zu der es sich zu reisen lohnt, wundert den Profi nicht, der Laie aber freut sich und sucht direkt raus, wie man von Mitte nach Schmöckwitz kommt. Weder Bus 106 noch der 204er fahren dieses Ziel an, aber dafür in verschlafene, aber nie vergessene Ecken von Schöneberg mit klangvollen Namen wie Lindenhof und Rote Insel.

Und so wie die Vorstellung der zehn BVG-Strecken mit dem Klassiker U1 begann, so schließt sie mit dem N8, der Nachtbuslinie, auf deren immerhin 21 Kilometer langen Route quer durch die Stadt vermutlich nicht ausschließlich Poetisches zuträgt, aber auf der man in der Dunkelheit oder eben in der aufgehenden Sonne einiges von Berlins sperriger Schönheit erblicken kann.

Ein Magazin für Touristen und Alteingesessene

Abgesehen davon, dass das ganze Magazin eine Werbeveranstaltung ist, erzählt es auf unterhaltsame und kurzweilige Art Geschichte und Geschichten der Stadt. Toll ist, dass es dazu einlädt, eigene neue Geschichten zu erleben. Es ist ein Magazin für Touristen und Alteingesessene, und es regt dazu an, sich daran zu erinnern, warum diese Stadt so ist, wie sie ist, und sie näher kennenzulernen, abseits der alltäglichen Wege.

So eine Publikation ändert natürlich nichts daran, wie pünktlich, sauber und sicher die Verkehrsmittel sind oder wie sehr man in einer überfüllten Bahn im Sommer schwitzt. Aber es zeigt, wie sehr die Stadt, ihre Verkehrsmittel und ihre Bewohner*innen miteinander verbunden sind und feiert die Vielfalt, die Berlin zu Berlin macht.

3 Kommentare

  1. Ich persönlich finde die lustigen BVG-Sprüche ja auf die nervtötendste Art kumpelhaft und unangemessen. Allerdings finde ich auch, dass das einzige, was noch nerviger als ein schlecht gelaunter Berliner ein gut gelaunter Berliner ist.

  2. Da sich ja nebenan gerade der Samira-El Ouassil-Fanclub konstituiert, darf ich hier anmerken, dass mir die emotionale Wärme der Texte von Frau Halt auch ganz gut gefällt.

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