Bahnhofskiosk

Wenn du ein Magazin mit 95 Jahren Verspätung entdeckst

Okay, also, ganz ehrlich? Ich weiß auch nicht, was dieses Heft sein soll. Man könne sich doch einmal „Das Magazin“ aus Berlin ansehen, hatte der Chef als Anregung weitergereicht. Das war’s schon an Information. Am Bahnhofskiosk braucht man dann prompt die Hilfe der Experten, um es zu finden. „Sechs Stück müssten noch da sein“, ruft der Kollege an der Kasse der suchenden Kollegin rüber, die daraufhin noch einmal in die Stadtmagazine abtaucht. Da ist es ja, das kleine Ding. Ist mit seinen A5 eben hinter die ganzen Großen gerutscht und ward deshalb nicht mehr zu sehen.

Wäre es mir ohne fremde Hilfe überhaupt aufgefallen? Im Nachhinein schwer zu sagen. Die Farben des gezeichneten Covers hätten mich durchaus angesprochen: ein türkis-blauer Zeppelin, auf dem in roter Schrift „Das Magazin“ prangt und zu dem ebenfalls türkis-blau gezeichnete Menschen (sowie ein Hund) aufschauen. Dazwischen in Pink die, hm, Titelzeile: „Das ist ja wohl der Gipfel“.

Ich hoffe, die Farben hätten mich neugierig genug gemacht, auch die anderen Titelzeilen zu lesen:

  • „Männer nackt und in Röcken“
  • „Frauen in sehr dünner Luft“
  • „Herr Mücke möchte sich nicht streiten“
  • „Die Hautfreundin: Sex in der Hauptrolle (verdientermaßen)“
  • „Frau Fuchs verzweifelt: Kitaplatz dringend gesucht (hahahaha)“

Ganz oben auf dem Titel steht dann noch „Für alle, die hoch hinaus wollen“ und „Seit 1924“. Spätestens an dieser Stelle hätte ich mir dann wohl gedacht: „WTF?!“ – und zugegriffen. Zumal: Wer sich so wenig an die oberste Covergestaltungsregel „Der Leser muss auf einen Blick erkennen, was im Heft ist!“ hält, kann kein Schlechter sein.

Auf Seite 3 begrüßt einen der Chefredakteur, der sein Editorial mit „Mein Sohn (16) ist auf Klassenfahrt, an der Ostsee“ beginnt, und wäre ich freiwillig hier, würde ich auf der Stelle weiterblättern. Tue es nicht und bin froh darüber. Denn es geht weiter mit einem erfrischenden Gebitche über die lange Liste an Verboten, die auf der Klassenfahrt herrschen, und ich denke mir: Wer solche Coverzeilen textet und dann so ein Editorial schreibt, das kann wahrlich kein Schlechter sein.

Das Inhaltsverzeichnis gibt eine erste Vorahnung darauf, was einen erwartet, und in das ursprüngliche „WTF?!“ mischen sich erste Nuancen von „Wundertüte“, gepaart mit einem starken „Was auch immer die sich in den Kaffee tun – ich will das auch“. Um es mit Wolf Haas zu sagen: Freies Assoziieren Hilfsausdruck. Wobei ich retrospektiv sagen muss: Sobald man die dazugehörige Geschichte gelesen hat, versteht man auch ihre Ankündigung im Inhaltsverzeichnis.

Zwischen Insidergeplänkel und Kryptik

Allerdings bekomme ich spätestens bei den Leserbriefen das Gefühl, das neue Kind auf der Klassenfahrt zu sein. Ein wenig Insidergeplänkel hier, noch ein bisschen mehr Kryptik da. Irgendwie scheinen sich da alle zu kennen. „Liebes MAGAZIN, seit Jahrzehnten lese ich Dich mit Begeisterung“, schreibt Frau Gerda. „Das ist ja wohl unerhört! In den letzten beiden Heften war nicht ein einziger Leserbrief von mir!“, schreibt Herr Müller. War da nicht was mit „Seit 1924“?

Aber was steht denn nun wirklich im „Das Magazin“? Man würde ja, Abteilung Stadtmagazine, sehr viel Berlin erwarten. Folgerichtig geht es los mit einer Reportage über die Besteigung des Kilimandscharo, an der ich mich sehr schnell festlese. Ein paar Seiten weiter: eine Geschichte über die größte japanische Detektivagentur. Es gibt eine Reportage von Ostseefischern, die ihren Fang per SMS-Ticker ankündigen und eine Reportage über Seatrekking in Kroatien, eine Art Langstrecken-Schnorcheln.

Einen Berlinbezug sucht man da ebenso vergebens wie in dem mehr als kryptischen Bilderrätsel, bei dem man „unheimliche Urlaubsorte“ auf der ganzen Welt erraten muss. Wer davon mehr als eins schafft, hat meinen Respekt. Jedes Bild scheint von einer jungen Illustratorin oder einem jungen Illustrator gezeichnet worden zu sein, über die man allerdings gern mehr erfahren würde.

Überhaupt, die Optik. Es wird viel gezeichnet im Magazin, unter anderem das Porträt des Berliner (endlich!) Schauspielers Friedrich Mücke, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der Mann, der sich laut Cover nicht streiten will, sitzt der Künstlerin Susanne Schirdewahn Modell, und während sie ihn zeichnet, plaudern die beiden miteinander. Was für eine hübsche Idee!

Die Illustratorin Kat Menschik hat ein Kochrezept so geschrieben-gezeichnet, wie man ein Kochrezept schon lange nicht mehr gesehen hat. Ein sommerliches Tagebuch des Fotografen Stephan Pramme ist wie ein echtes Fotoalbum gestaltet, mit sichtbaren Seitenrändern und Spiralisierung im Mittelaufschlag. Weiter hinten fotografiert Pramme dann auch gleich Kunstobjekte von Schirdewahn, die sie aus auf der Straße gefundenen Gegenständen erschafft. Und dann gibt es noch Aktfotos des brasilianischen Künstlers Ciro MacCord, erfreulicherweise in Schwarz-Weiß, weil die Farbbilder der Reportagen leider im Druck oft ziemlich absaufen.

Dazwischen findet man Kulturtipps, Platten- und Buchrezensionen, wie man sie von einem herkömmlichen Magazin kennt, die ich aber nicht ernst nehmen kann, weil sie der genialen TV-Serie „Fleabag“ nur eine halbe Spalte widmen. Die sehr kurze und sehr charmante Kurzgeschichte von Sarah Bosetti versöhnt dafür wenigstens ein bisschen, die Schilderung von Kirsten Fuchs, wie sie in Berlin um einen Kita-Platz kämpft noch mehr.

„Für Entzückte und Verrückte“

Sich selbst beschreibt die Wundertüte als „die Zeitschrift für Entzückte und Verrückte, für Geistreiche, Verspielte und neugierig Gebliebene“. Man sei schon „Zentralorgan des guten Geschmacks“ genannt worden und sogar „New Yorker des Ostens“. Was insofern beruhigt, weil man beim Lesen einfach irgendwann die Suche nach einem roten Faden aufgeben und sich überraschen lassen kann.

Beispielsweise von dem Text der Schriftstellerin Katja Oskamp, die mit Mitte 40 und nach 20 Absagen von Verlagen beschlossen hat, lieber Karriere als Fußpflegerin zu machen. Wenn es nur einen Grund braucht, die fünf Euro für diese „Magazin“-Doppelausgabe (sonst vier Euro) auszugeben, dann ist es dieser Text:

„Keine von uns war auf direktem Wege hier gelandet, jede zuvor irgendwo abgeprallt, stecken geblieben, nicht weitergekommen. Wir wussten, wie Scheitern sich anfühlt.“

Wie sie von der Ausbildung schreibt, von den Reaktionen ihrer Umgebung („Von der Schriftstellerin zur Fußpflegerin – ein fulminanter Absturz“), aber vor allem von ihren Kundinnen, ist so bewegend, erfrischend und lustig, dass man schon beinahe den Hörer in der Hand hat, um all die ignoranten Verlage zu beschimpfen. Gottlob wird der Text am Ende als Vorabdruck ihres Buches „Marzahn mon amour“ geoutet, erschienen im Hanser Verlag.

Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich fast alle längeren Texte bis auf die Kilimandscharo-Reportage als Vorab- oder Nachdrucke. Die japanischen Detektive sind Ende 2018 in der NZZ erschienen, die SMS-Fischer im Mai in einer Zeitschrift des Bundeszentrums für Ernährung, die Seatrekking-Reportage mindestens zeitgleich im „Lufthansa-Magazin“. Weshalb es spätestens jetzt an der Zeit ist, sich endlich die Geschichte von „Das Magazin“ genauer anzusehen – „seit 1924“.

Geschichte mit Marlene Dietrich

Und siehe da, es ist kein Scherz, sondern eine Tatsache, deren Nichtkenntnis man mir, der Wessi-Ausländerin, verzeihen möge. Gegründet wurde das Heft nämlich vor schlappen 95 Jahren und zwar von dem späteren Filmregisseur Robert Siodmak und dem Journalisten F.W. Koebner. In seinen Anfängen hatte es – laut eigener Aussage – eine Auflage von mehr als 200.000 Exemplaren und immerhin Marlene Dietrich als Covermodel, die dem Magazin danach aus Hollywood immer wieder „Korrespondenzen“ schickte. 1933 wird Koebner wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen, 1941 wird das Magazin eingestellt, und erst 1954 erscheint in der damaligen DDR eine Neuauflage, die sich im A5-Format, der Heftmischung und den Illustrationen am Vorbild orientiert.

1990 wurde „Das Magazin“ von Gruner+Jahr („Stern“) gekauft, zwei Jahre später wieder verkauft, 2001 meldete es Insolvenz an und erscheint seit 2014 in einem Verlag mit dem wunderbaren Namen Kurznachzehn. 75 Prozent der Druckauflage (offiziell derzeit 45.000 Stück) gingen zumindest 2013 noch nach Ostdeutschland.

Die Wundertüte kann sich also vermutlich nicht so viele teure Erstveröffentlichungen leisten. Das stört aber nicht, solange die Texte, die sie zusammensammelt, gut sind. (Weshalb wir an dieser Stelle über die etwas langatmige Abhandlung zur Geschichte des Männerrocks schweigen wollen.)

Das Einzige, was stört, ist die schleißige Arbeitsweise. Die Filmkritikerin Jenni Zylka wird nur hinten im Impressum richtig geschrieben, die Bildunterschriften enthalten entweder Tippfehler oder ergeben schlicht keinen Sinn, weil sie von jemandem stammen, der den dazugehörigen Text offenbar nur in Eile und quer gelesen hat. Solche Kleinigkeiten sollten nach 95 Jahren eigentlich langsam sitzen.

Das Magazin
144 Seiten
5 Euro (Doppelausgabe, sonst 4 Euro)
Kurznachzehn Verlag Berlin

4 Kommentare

  1. Ein Heft, für das Kat Menschik arbeitet, kann nicht so schlecht sein. Danke für den Tipp, ich werde es mir anschauen.

  2. Bückware ist untertrieben. Zur DDR-Zeit was das Magazin die publizistische Rarität schlechthin. Wochenpost und Eulenspiegel kriegte man noch, wenn man das auf sich nahm einmal in der Woche anstellen an der Warteschlange am Kiosk. Um das Magazin zu kriegen musste man die Verkäuferin kennen.

    Vor rund fünf Jahren haben wir es abbestellt.
    Das lag nicht daran, dass die Zeitschrift schlechter geworden wäre. Das Umfeld hat sich geändert.
    Zur Zeit des DDR-Einheitsbrei hatte das Magazin ein Alleinstellungsmerkmal mit viel Feuilleton und wenig (oder gar nicht, kann mich nicht mehr so genau erinnern) Propaganda. Dazu kam, dass im Magazin am meisten über Sexualität zu lesen war. Nichts anstößiges, extremes, kein Kampf gegen irgendwelche Phobien, einfach nur die Vielfalt der Facetten.

    Diese Sonderstellung hat das Magazin schon mit der Wiedervereinigung verloren. Und im Internet-Zeitalter wurde diese Zeitschrift (unsere subjektive Wahrnehmung) einfach überrollt, es lag nur noch ungelesen auf dem Tisch.

    Trotzdem schön, dass das Magazin lebt. Und sollten durch die positive Rezension hier ein paar Leser dazukommen, freue ich mich mit den Magazin-Machern.

  3. Meine Partnerin hat diese komische Zeitschrift seit Jahren abonniert und ich ertappe mich immer öfter dabei, damit mehr Zeit zu verbringen als mit vielen anderen Zeitungen, Zeitschriften und Internetseiten…Das Magazin hat was: Die Mischung der Themen, die Zielgruppe jenseits der Jugend, aber immer noch aktiv (dazu zählt man sich ja gern), die enge Beziehung zur Kultur in allen Facetten, aber meist relativ unideologisch. Habe schon manches Buch gekauft nachdem ein Kapitel im Magazin vorabgedruckt war und manche Musik-Perle jenseits des Mainstreams entdeckt. Klar gibt es auch Artikel, die meinen Geschmack nicht treffen, aber die Quote (ca. 20 %) ist erstaunlich gering. Die Rezension trifft`s ziemlich gut.

  4. Ich habe „Das Magazin“ auch durch Zufall irgendwo in einer „Grabbelkiste“ entdeckt, etwa 2015, ein Jahr nachdem Ich von Kaiserslautern nach Dresden gezogen bin. Kurze Zeit danach habe Ich sogleich ein Abo abgeschlossen und bin seitdem begeisterter Magazin-Leser.

    Vor allem dass hier sehr oft der „normale Mensch von der Straße“ porträtiert wird und nicht irgendwelche „Stars“ oder solche die es gerne wären, macht für mich den Reiz des kleinen Heftchens aus.

    Auch die bunte Mischung der Texte macht es oder Rubriken wie „neues von der Beetkante“ sind immer sehr unterhaltsam.

    Ich kann es wirklich uneingeschränkt weiterempfehlen!

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