Stille Kriegspost

Die Legende des Jungen, der angeblich den Krieg in Syrien auslöste

Es ist eine Geschichte, von der Journalisten träumen. Weil sie emotional ist, dramatisch, relevant, und weil sie ein unglaubliches Stück Zeitgeschichte zu sein scheint: Ein Junge sprüht ein paar Worte auf eine Mauer in Syrien, sie richten sich gegen den Präsidenten des Landes. Der Junge wird gefasst, gefoltert – und löst so einen gewaltigen Krieg aus. Mit nur etwas Sprühfarbe.

Relotius-Reportage im „Spiegel“ Screenshot: Spiegel

Voriges Jahr schrieb Claas Relotius, der Mann, der beim „Spiegel“ der Fälscher war, über den Jungen, „mit dem der Syrienkrieg begann“, acht Seiten lang, erschienen Ende Juni. Kein halbes Jahr später erhielt Relotius dafür den Reporterpreis. Die Jury jubelte, sein Text sei „von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz“, und er lasse nie offen, „auf welchen Quellen er basiert“.

Relotius war nicht der Erste, der diese Geschichte erzählte

Mittlerweile ist der Jubel einem genierten Räuspern gewichen. Denn auch dieser Relotius-Text ist, wie etliche andere, teilweise frei erfunden. Relotius habe sich Zitate ausgedacht, schreibt der „Spiegel“, auch ganze Szenen, etwa die, in der sich der Junge „in den Staub vor einer alten, halb zerstörten Mauer“ setzt; angeblich jene Mauer, auf die er damals die Worte sprühte.

Das Vertrauen in Relotius sei „groß“ gewesen, deshalb sei er damit durchgekommen, erklärt der „Spiegel“. Die Frage ist bloß: Hatte niemand in der Redaktion Zweifel, ob es diesen einen Jungen, der den Krieg auslöste, überhaupt gibt, und ob man die Geschichte so erzählen kann? Oder ob es nicht eher eine variantenreiche Legende ist. Denn Relotius war nicht der Erste, der diese Geschichte erzählte, und deshalb gibt es nicht nur einen Jungen, es gibt viele.


Liest man Texte, die dazu in Zeitungen und Online-Medien erschienen sind, stößt man auf immer neue Variationen einer inzwischen populären Kriegs-Erzählung, die ihren Ursprung im Februar oder März 2011 haben soll.

Zu dieser Zeit, so berichtet es das Magazin „Time“ Ende März 2011, habe eine Gruppe von „15 Kindern“, „alle unter 17“, einen Spruch auf eine Mauer in Daraa gesprüht, einer Stadt im Südwesten Syriens. Es war der Slogan der arabischen Revolution, die in anderen Ländern bereits in vollem Gange war: „The people want the regime to fall“ – „Das Volk will den Sturz des Regimes“.

Die Kinder, schreibt „Time“, seien deswegen ins Gefängnis geworfen worden, was zu Protesten geführt habe, zum „ersten großen Aufstand“ in Syrien.

Ein einziger Junge, der angeblich den Krieg herbeisprühte

In den folgenden Monaten, Jahren wird die Geschichte der Kinder immer detaillierter erzählt, in vielen westlichen Medien, bald auch in deutschen. Sie wird mit der Zeit zum Ursprung des Kriegs erklärt, und sie wird auf einen einzelnen Jungen verengt; einen einzigen Jungen, der den Krieg herbeisprühte.

In der „Welt“ heißt der Junge Bashir Abazed Screenshot: welt.de

Lange vor Relotius schrieb die „Welt“ über diesen einen Jungen, auch in der „Süddeutschen Zeitung“ findet sich ein Porträt, genau wie im Magazin „jetzt“, bei „Bento“ und in anderen Medien. Die Geschichten unterscheiden sich allerdings: die Sprüche, die gesprüht wurden; der Tag, an dem es geschehen sein soll; die Folgen, die es hatte; und vor allem: der Name des Jungen.

Wer war es?

„Time“, „Global Post“ und CNN sprachen zunächst lediglich von einer Gruppe von 15 Kindern, alle zwischen 10 und 17 Jahre jung, ohne einen davon besonders hervorzuheben.

In der „Welt“ erschien im September 2013 ein Porträt eines Jungen namens Bashir Abazed, der 15 Jahre alt gewesen sein soll, als es passierte. Er taucht auch in anderen Berichten auf. Danach erschienen unter anderem Porträts über verschiedene Jungen mit den Namen Abdulrahman al-Krad (10), Naif Abazid (14) oder Mouawiya Syasneh (14) – so heißt auch der Junge in Relotius‘ Geschichte, allerdings ist er dort 13 Jahre, als es geschah.

Von allen wird behauptet, dass sie es waren, die etwas auf die Mauer sprühten, und dass dies zum Krieg führte. „Jetzt“ beschreibt zum Beispiel, wie der Junge, den sie in Wien trafen, ein Foto an einen Freund verschickte. Dazu habe er geschrieben: „Interview mit dem Esel, der den syrischen Bürgerkrieg ausgelöst hat.“ Sein Name ist Naif Abazid.

Al Jazeera: „The Boy Who Started The Syrian War“ Screenshot: Al Jazeera

Al Jazeera erzählt die Geschichte von Mouawiya Syasneh, wie Relotius, aber auch hier soll er bereits 14 Jahre gewesen sein. Der Sender traf ihn für einen Film, in dem er von damals berichtet. Titel: „The Boy Who Started The Syrian War“. Aber war er es wirklich? Oder ein anderer? Oder alle zusammen?

Wann war es?

Claas Relotius datierte den Tag, an dem es geschah, auf den 16. Februar 2011, wie auch das „jetzt“-Magazin. Andernorts ist es einen Tag früher oder erst am 15. März 2011. Wieder andere schreiben bloß von einem „Tag im Februar 2011“ oder „im März 2011“.

Was wurde gesprüht?

Meistens werden zwei Sprüche erwähnt: „Das Volk will den Sturz des Regimes“ und „Du bist dran, Doktor“, adressiert an den gelernten Augenarzt Assad. Aber es gibt noch weitere Sprüche: Laut „Süddeutscher Zeitung“ soll etwa auch „Du hast das Land geplündert, oh al-Assad!“ an der Wand gestanden haben, gleich neben „Herzen, durchbohrt von einem Pfeil“.

Wer sprüht, trägt Hoodie Screenshot: jetzt.de

Es kursiert zudem ein Foto, das Mauer und Spruch zeigen soll. („Jetzt“ hat es sogar grafisch nachgestellt, und eine Person, die sprüht, dazuerfunden, natürlich im Hoodie.) Ob das Foto echt ist, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Dort steht jedenfalls, in arabischer Schrift: „Du bist an der Reihe, Doktor.“

Auch die Motivation der Jungen wird unterschiedlich beschrieben: Mal war es spontan, ein Streich, inspiriert durch Fernsehbilder des arabischen Frühlings; mal war es geplant, quasi ein politischer Akt.

Was passierte dann?

In allen Erzählungen werden mehrere Kinder oder Jugendliche verhaftet und gefoltert. Mal hat sie der Rektor ihrer Schule verraten, mal der Hausmeister, mal wurde ein Junge anhand seiner Schrift entlarvt. Mal geschah es gleich in der Nacht nachdem die Mauer besprüht wurde, mal ein paar Tage später.

Die folgende Zeit im Knast ähnelt sich im Kern: Es geht um grässliche Foltermethoden, praktiziert an Kindern, über Tage, über Wochen. Vereinzelt gibt es auch Fotos oder Videos, die Jungen mit Verletzungen zeigen.

Was sagte der Offizielle?

Die Eltern der Kinder, die inhaftiert und gefoltert wurden, sollen schon bald protestiert haben, um ihre Kinder freizubekommen. Oft ist hierbei von einigen Sätzen die Rede, die ihre Wut zusätzlich, vielleicht erst so richtig habe aufschäumen lassen. So soll ein Polizist etwas zu den Eltern gesagt haben. In einigen Erzählungen wird er auch namentlich genannt: Es soll Atef Najib gewesen sein, der Sicherheitschef von Daraa und ein Cousin des Präsidenten Assad.

Aber wovon sprach er genau? „Spiegel Online“ schreibt 2015 nur knapp, er habe den Eltern gesagt: „Geht nach Hause und macht neue Kinder.“

CNN schreibt: „Vergesst eure Kinder. Wenn ihr wirklich eure Kinder wollt, solltet ihr mehr Kinder machen. Wenn ihr nicht wisst, wie man Kinder macht, zeigen wir euch, wie das geht.“

Oder wie es, noch deutlicher, bei Al Jazeera heißt: „Wenn ihr das [mehr Kinder machen] nicht könnt, schickt uns eure Frauen und wir machen das für euch.“

Bei „Vice“ findet sich eine Variante, die nicht ausschließt, dass es noch präziser oder auch ganz anders gewesen sein könnte:

„Najib told them to go home, forget about their sons, and consider having new children — if that failed, he supposedly said, then the men should send their wives to the police station to be impregnated by the security forces. Other accounts of the meeting have Najib telling the parents that since they had failed to discipline their children, the police would have to do it for them.“

Was auch immer der Offizielle, möglicherweise Assads Cousin, gesagt hat: In den Erzählungen gilt vor allem dies als der Moment, der die großen Proteste auslöste, weil sich den wütenden Eltern weitere Menschen angeschlossen hätten. Die Wut wuchs. Plötzlich wurde geschossen, Menschen starben. Später mündete der Aufstand in jenen Krieg, der heute noch andauert.


Im März 2016 schreibt Paul-Anton Krüger, Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ über „ein Treffen mit dem Jungen“, mit dem der Krieg in Syrien begann. Es ist ein interessanter Text, weil er die Geschichte anders erzählt, mit einem Protagonisten, der sonst nirgends in deutschen Medien auftaucht.

„Mit dem gelben Lack hat alles begonnen.“

Krüger erzählt lebhaft nach, was ihm ein Junge im jordanischen Exil erzählt habe, den er und ein Kollege nach langer Suche ausfindig gemacht hätten:

„Es war ein Tag am Ende des Winters, es wurde schon warm. Abdulrahman al-Krad hatte sich mit Klassenkameraden für den Nachmittag verabredet. Er war damals, im Februar 2011, zehn Jahre alt, er ging in die fünfte Klasse, Al- Quneitra-Schule, in Daraa, einer Stadt weit im Süden Syriens. ‚Ich bin zu einem Laden in unserem Viertel gegangen und habe eine Dose Lack gekauft‘, erzählt Abdulrahman heute. Und natürlich weiß er auch noch die Farbe: ‚Gelb.'“

In anderen Texten ist es nicht gelbe Farbe, sondern rote; wie auf dem Foto von der Mauer. In Krügers Text aber steht: „Mit dem gelben Lack hat alles begonnen“. Ohne ihn wäre Syrien vielleicht „nicht in diesen Krieg gestürzt“.

Krüger beschreibt, was der Junge auf die Mauer sprühte, und auch diese Variante ist interessant: So habe er zunächst „Herzen“ gemalt, „durchbohrt von einem Pfeil“, dann noch zwei Sätze: „Jetzt bist du dran, Doktor!“ und „Du hast das Land geplündert, oh al-Assad!“ Dabei habe er sich verschrieben: „Er vergaß einen senkrechten Strich, den Buchstaben Alif, das erste A in Assad.“

Dieser Fehler soll den Jungen dann überführt haben. In der Schule sollten die Kinder Schriftproben anfertigen, nach vier Tagen seien dann zwei Männer in die Schule gekommen, hätten die Handschrift des Jungen gelobt und ihm einen Preis versprochen. Sie nahmen ihn angeblich mit zur Polizei.

„Er sollte jetzt an die Innenseite der Mauer des Polizeigebäudes schreiben – die Sätze, die er an die Wand der Schule gesprüht hatte. Die Farbe war gelb. Und wieder vergaß er den einen senkrechten Strich, das Alif.“

Wieder gelbe Farbe, wieder dieser Fehler, und einen Grafologen soll es sogar auch gegeben haben, der in einem „Gutachten“ die Schrift des Jungen analysierte. Der Junge soll daraufhin inhaftiert und gefoltert und verhört worden sein, was Krüger packend schildert und teilweise recht genau:

„Nach dem Frühstück holten sie ihn zum Verhör, Handschellen hinter dem Rücken, die Augen mit einem schwarzen Gummi verbunden, geschnitten aus dem Schlauch eines Lkw-Reifens. Blickdicht und so eng, dass er seinen Puls spürte. Ein Schreibtisch aus Holz, drei Stühle, eine Tischlampe. Und ein Mann, der sich Oberst Nidal nannte.“

Krüger sagt heute, er halte an seiner Version der Geschichte fest. Er habe nicht nur mit dem Jungen darüber gesprochen, sondern auch mit dessen Eltern, einem Großvater und Menschen aus Daraa; außerdem habe er die Angaben des Jungen, zum Beispiel mit Hilfe von Google Earth, überprüft.

„Mindestens drei verschiedene Gruppen von Jugendlichen“

Dass „verschiedene Protagonisten den Hergang bis auf Details weitgehend übereinstimmend und konsistent schildern“, werte er „als Beleg dafür, dass die Geschichte stimmt“. Der rote Lack, der auf dem Foto zu sehen sei, gehöre „offenkundig zu einer der anderen Gruppen“; er habe ja damals auch geschrieben, dass neben dem Jungen weitere Kinder verhaftet worden seien, denen man ebenfalls vorgeworfen habe, „Wände besprüht zu haben“.

Sein Protagonist sei aber „vor den anderen“ verhaftet worden; und erst alle Verhaftungen zusammen hätten dann „die geschilderte Dimension“ erreicht, also die großen Proteste. Insgesamt habe es, sagt Krüger, „mindestens drei verschiedene Gruppen von Jugendlichen“ gegeben, „die an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten Graffitis in Deraa gesprüht haben“.

In der Unterzeile des Textes steht allerdings: „Ein Zehnjähriger sprühte Anfang 2011 ein paar Sprüche an die Schulmauer. Damit begann der Krieg in Syrien.“ Das sei, sagt Krüger, eine zulässige Zuspitzung.


Der nicht-kommerzielle US-Sender NPR versuchte schon früh, die Ereignisse zu rekonstruieren, und sprach Anfang 2012 vorsorglich von „einer Gruppe junger Leute“ oder „einer Gruppe Syrer“, die zwei Sätze an eine Schulmauer gesprüht hätten: „The people want the fall of the regime“ und „It’s your turn, doctor“. Quelle dafür ist ein Mann, der damals neben der Schule gewohnt haben soll. Auch er wurde angeblich verhaftet, zusammen mit anderen.

Der heute weit verbreiteten Erzählung, es sei eine Gruppe von Kindern gewesen, widerspricht NPR. Bei den Protesten hätten die Menschen sich zwar mit den „Children of Daraa“ solidarisiert, die meisten aber seien gar keine Kinder gewesen. Einen hätten sie in Jordanien getroffen. Er werde „Kind der Freiheit“ genannt, sei 19 Jahre alt – und habe das Gesicht eines 40-Jährigen.

„Die Story, die die Revolution ausgelöst hat“

Aber: „Even though most of them weren’t actually children, it was enough to spark a revolution.“ In gewisser Hinsicht spiele es keine Rolle, ob die Geschichte wahr sei. Es sei die Geschichte, an die viele Syrer glauben, und es sei „die Story, die die Revolution ausgelöst hat“.

Möglicherweise ist es genau das: eine Story, eine Legende, die sich unter den Menschen in Syrien herumsprach, die auch einen wahren Kern hat, aber beim Weitererzählen ausgeschmückt wurde, und zwar schon von den Menschen vor Ort. Als Journalisten sich dafür interessierten, haben verschiedene Jungen ihre Version erzählt. Mancher hat vielleicht etwas geprahlt, es zu seiner Geschichte gemacht, und Journalisten haben es aufgeschrieben oder sogar, wie Relotius, weiter ausgeschmückt.


Schon vor dem Fall Relotius gab es Menschen, die die ganze Erzählung vom Jungen, der den Krieg auslöste, als Propaganda westlicher Medien verteufelten: Alles erfunden, um Syriens Präsident Assad als Monster darzustellen, das sogar Kinder quälen lässt. Sie begründen das auch damit, dass es so viele Versionen, so viele Jungen gebe. Ein Fall Relotius mit all den Erfindungen ist solchen Leuten nun bloß ein weiterer Beleg für die große Verschwörung.

Man greift eine Person heraus – und erschafft eine Ikone

Doch auch ohne Erfindungen ist die Art, wie die Geschichte erzählt wird, problematisch. Oft wird sie berichtet, als wäre alles genau so geschehen und als würde man das als Leserin oder Leser noch mal miterleben. Eine gute Reportage soll genau das leisten. Aber ist sie hier die richtige Form? Die Reporter lassen weniger daran teilhaben, was sie selbst erleben, sondern was andere erzählen, was sie erlebt hätten. Es ist Hörensagen. Stille Kriegspost.

Medien neigen dazu, komplexe Ereignisse in einfache Erzählungen zu gießen. Auch das ist, gerade heute, gerade in so unübersichtlichen Lagen wie einem Krieg, problematisch. Hier ist es die Art, wie der Kriegsausbruch, an dem viele Akteure beteiligt waren, auf einen Jungen als einzigen Auslöser reduziert wird. Man greift eine Person heraus, ein Schicksal – und erschafft eine Ikone.

Dabei ließe sich die Geschichte auch anders erzählen, mit Zweifeln und Leerstellen. Das ließe denen, die eine Verschwörung wittern, weniger Raum. Manche Autoren deuten auch an, dass es eine Legende sein könnte, ironischerweise sogar der Legendenerfinder Relotius. Aber lange halten diese Zweifel nicht. Dafür ist die Geschichte einfach zu grausam gut.

Danke an Wolfgang Deuling für die Hinweise!

Nachtrag, 27.1.2019. Der „Spiegel“ hat einen Überblick zu den Fälschungen seines ehemaligen Reporters Claas Relotius veröffentlicht. Der Text über den Jungen, der angeblich den Krieg in Syrien auslöste, enthalte „neben einzelnen Faktenfehlern“ auch „offenkundig massive Fälschungen“, heißt es. Zutreffend sei, „dass es Mouawiya Syasneh gibt“. Er sei auch „tatsächlich an der Graffito-Aktion im Februar 2011 beteiligt“ gewesen. „Viele biografische Details“ stimmten aber nicht; Relotius habe sie Mouawiya „wohl in den Mund gelegt“.

Relotius stütze sich „bei seinen Fälschungen in dieser Geschichte“, schreibt der „Spiegel“, „offenkundig auf die Berichte anderer Medien“, so auch auf jenen oben genannten Film, den Al Jazeera veröffentlicht hat. „Allerdings verändert und dramatisiert er offensichtlich an zahlreichen Stellen dort aufgefundene Fakten und fügt Erfindungen hinzu.“

Nachtrag, 1.2.2019. Die Juroren des Reporter-Preises 2018 haben ausführlich dazu Stellung genommen, wie es dazu kommen konnte, dass Relotius‘ so genannte Reportage ausgezeichnet wurde.

16 Kommentare

  1. Was ich jetzt ehrlich nicht verstehe; wenn es von dieser Geschichte doch mehrere Versionen gibt, die zumindest teilweise darauf beruhen, dass es wahrscheinlich auch mehrere Ereignisse mit Kindern, Graffiti und Festnahmen gab, was genau hielte jemanden davon ab, mehrere Versionen im selben Artikel zu erwähnen, meinetwegen mit einer Einschätzung, welche Dinge wahrscheinlich wahr sind und welche eher nicht?
    Hält man mich als Leser davon für überfordert?

  2. Es fing an mit Protesten von Jugendlichen, Schülern in Syrien. Diese wurden verhaftet, gefoltert, getötet. Ich erfuhr damals darüber von einer Syrierin, die in Dt. lebt und Familie in Syrien hat. Die Syrer waren sehr verärgert über die Gewalt des Staates gegen die Jugendlichen und Kinder.
    Das hat sich ausgewachsen in einen Aufstand und später in den Krieg.

  3. Diese Geschichte hatte alles was es braucht: Unverdorben-unschuldige Jugend wird vom grausamen Diktator verfolgt, gefoltert und ermordet.
    Dieser Human Touch! Diese makellose Projektionsfläche für die Selbstidentifikation zur Eigen-Stilisierung als Weiße Rose 2.0.
    Wenn auch aus dem Brutkasten geworfene Babys auf der Unschulds- und Grausamkeitsskala höher scoren, aber die Geschichte ist ja immer noch zu sehr in Verruf, um sie mal wieder frisch zu bringen.

    Diese dichotome Eindeutigkeit zwischen Gut und Böse! Noch besser kann man Geschehen und Wahrheit nicht in einem Brennglas verdichten. Welch herrlich eingängiges …eh: Narrativ.
    Da wird in der Redkonf jeder Zweifel konstruktiv aufgenommen worden und sofort in kritische Recherche gemündet sein. Selbst wenn er nur vom niedersten Volontariatsanwärter angemeldet wurde.

    Schön auch, dass es diese flotte Story im angelsächsischen Sprachraum in den Status allgemein akzeptierter Fakten geschafft hat, die nur noch Leute mit Kellerbüro in St. Petersburg, mit dem typischen Säen von Unsicherheiten zu unterminieren versuchen. Und das bleibt da auch so, die Gatekeeper dort werden sich diese schöne Propagandafigur schon nicht selbst kaputt machen, durch überflüssig ausführliche Berichte über das Auffliegen dieser urban propaganda legend.

    Das Überhandnehmen von Stories mit ähnlich gelagerter emotionaler Hebelwirkung in gewissen thematischen Zusammenhängen ist seit einiger Zeit extrem nervig und war schon die ganze Zeit inhärent (mehr als) Skepsis provozierend. Außer bei den professionell mit mehreren Elitelevelausbildungen gesegneten Abnehmern, offenbar. Und das beschränkt sich nicht im Geringsten auf Relotiusstories.

    Natürlich koche ich hier nur meinen Propagandaborschtsch auf und selbstverständlich gibt es hier keinerlei Ähnlichkeiten zum RT-Lisaskandal. Die Russen haben das schließlich wissentlich und vorsätzlich gemacht, während unsere freien deutschen Qualitätsmedien … *hier bitte freihalten für Gniffkestatement*
    … den Faktenfinder bemüht haben? (Gab es da was? Würde ich jetzt sehr gerne mal lesen)

    Kam von dem nicht auch mal:
    *Alle anderen haben darüber doch auch berichtet, also musste das doch stimmen?*

    Vor vielleicht 4-5 Jahren hätte mich das ja noch geschockt. Aber seitdem war ja genug Zeit, für sich selbst einen neuen Umgang mit den Fakten und Geschichten zu erlernen, die man von unseren Qualitätsmedien rübergeschoben bekommt. Auch wenn sich das im Vergleich zu früher anfühlt wie ein Verlust.

  4. Als ich las, dass Claas Relotius für diese Geschichte einen Preis bekommen hatte, fragte ich mich ja, was das Neue daran gewesen war? Denn aufgespürt hatte er den Sachverhalt ja nicht.

    Ich hatte das erste Mal darüber im Jahr 2016 in einem taz-Artikel von 2015 (http://www.taz.de/!5016371/) darüber gelesen. Und als ich jetzt im Jahr 2011 suchte, kam ich auch bei dem Time-Artikel und Human Rights Watch raus (https://www.hrw.org/de/news/2011/06/01/syrien-verbrechen-gegen-die-menschlichkeit-daraa).

    Da ich schon mal gehört habe, dass Fernsehmacher in ihrer Freizeit so gut wie kein Fernsehen gucken, frage ich mich jetzt, ob Reporterpreis-Jurymitglieder in ihrer Freizeit vielleicht auch kaum Reportagen lesen? ;-)

  5. …warum erinnert mich das an was? Zuviel Tagesschau oder Phönix wahrscheinlich.
    Eben bei „BILDblog“ vorbeigeschaut, die tägliche Adrenalingabe brauche ich.
    Und dann Bremen: `n paar Bremer Jugendliche, die jemanden erwischt haben, der zur falschen Zeit am falschen Ort war. Nein?

  6. @Symboltroll #4
    „selbstverständlich gibt es hier keinerlei Ähnlichkeiten zum RT-Lisaskandal“

    Tatsächlich sind die Ähnlichkeiten m.E. extrem begrenzt. Oder wo sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen beiden Fällen?

  7. @TM:

    Gegenfrage: Welche Unterschiede sehen Sie denn?

    Wenn man überhaupt einen Unterschied sehen will, besteht der darin, dass die RT-Propaganda auf einen nachweisbar realen Vorgang in einem nicht befreundeten Auslandsstaat zurückging, der dann falsch dargestellt wurde.

    Zu den Gemeinsamkeiten:
    a) Einen nachweisbar realen Vorgang gibt es beim angeblich den Bürgerkrieg auslösenden Graffitti nicht. Aber egal ob Falschdarstellung oder freie Erfindung: Die jeweilige Story war eine wunderbare, wie bestellte Demonstration dafür, dass Assad/die Flüchtlinge eine schleunigst auszumerzende Bedrohung der Menschheit sind.

    b) Ein unschuldiges, wehrloses und reines Opfer wurde von Unmenschen gequält und missbraucht. Wie lange soll man das noch tatenlos mit ansehen, bis mal endlich jemand was tut?

    c) Die so schön bezeichnende Geschichte über den Feind will man sich nicht kaputt machen lassen. Man verbreitet sie trotz aller Zweifelhaftigkeit weiter, über jede Grenze der Seriositätsanmutung hinaus, bis im Vergleich sogar die Julians reflektiert und selbstkritisch erscheinen.

    d) Das kritische Bedürfnis, die Angelegenheit erst richtig aufzuklären, bevor man sie so emotionalisiert und aufs Maximum aufpumpt, war in Sachen Lisa ähnlich intensiv wie beim Graffittijungen.

    Welche relevanten Unterschiede wollen Sie da also erkennen?

    (Also außer: Das sind „Die gegen Uns“ und nicht „Wir gegen Die“. Das reicht mir nicht als Begründung für einen angeblich qualitativ inhaltlichen Unterschied in der Feindberichterstattung)

  8. Wusste nicht, dass Zeitungen für urban legends Honorar zahlen. Muss mich setzen. Das Dauerkopfschütteln nimmt zu.

  9. Zitat aus dem Text:

    „Ein Fall Relotius mit all den Erfindungen ist solchen Leuten (manchen Kritikern der Medien, Anm.) nun bloß ein weiterer Beleg für die große Verschwörung.“

    Ich finde wirklich, dass ein medienkritisches Angebot gerade bei der Frage der Medienkritik nicht selbst holzschnittartig und narrativ vorgehen sollte. Die Propagandakritik nur an den jenseitigen Verschwörugnsspinnern festzumachen ist billig und ein Stück weit unredlich. Die Kritik erschöpft sich ja keineswegs in Leuten, die die ganz große Weltverschwörung am Werk sehen, sondern die Geschichte vom syrischen Jungen wurde gerade deshalb als Propaganda gebrandmarkt, weil sie derart unkritisch und begeistert rezipiert wurde und nur allzu gut ins plumpe und dümmliche der-Schlächter-Assad-gegen-sein-armes-Volk-Narrativ passte. Dafür braucht man überhaupt keine große Verschwörung, sondern nur Borniertheit, Abschreiberei, oder zB den Willen, selbst Partei zu sein (natürlich für die gute Sache, siehe die neulich hier verlinkte Kritik Strates im Cicero) und nicht Journalist. Im Ergebnis ist es natürlich trotzdem Propaganda.

    Auch wenn die Analyse der ganz großen politischen Räder bei Übermedien sicher nicht im Zentrum steht, sollte doch jedenfalls von einem Propagandamodell Abstand genommen werden, das nur zur Propaganda zählt, was nachweislich absichtlich, im Wissen um die Unkorrektheit, und mit dem Ziel der Propagandawirkung veröffentlicht wird.

  10. @ Illen, 12:

    „… sollte doch jedenfalls von einem Propagandamodell Abstand genommen werden, das nur zur Propaganda zählt, was nachweislich absichtlich, im Wissen um die Unkorrektheit, und mit dem Ziel der Propagandawirkung veröffentlicht wird.“

    Nur ganz allgemein: Es gibt zumindest zwei Modelle, die erklären, wie es ohne zentrale Steuerung – und oftmals wohl auch ohne expliziten bösen Willen – zu einer „propagandistischen“ Berichterstattung der Medien kommen kann.

    Das eine Paradigma wäre das Indexing-Modell von Bennett, welches Uwe Krüger in seinem Buch „Mainstream“ diskutiert. Der Kern ist dass Informationen, Perspektiven, Argumente und Ansichten, die innerhalb der maßgeblichen politischen Eliten marginalisiert sind, gewöhnlich auch in den Medien kein großes Echo finden – vor allem bei wichtigen Themen nicht. Medien reflektieren („indizieren“) oftmals die wichtigen politischen Debatten – und wenn da eine Schlagseite herrscht oder gewisse Dinge zu kurz kommen, dann gilt Entsprechendes oft auch für die Medien.

    Das zweite Paradigma wäre das Propaganda-Modell von Herman und Chomsky, das auf der These beruht, dass „Nachrichten“ bestimmte „Filter“ durchlaufen müssen, was effektiv dazu führt, dass das von den Medien gezeichnete Bild häufig den Interessen und Perspektiven der Mächtigen folgt. Die deutschsprachige und noch mehr die englischsprachige Wikipedia behandeln das Propaganda-Modell in den gleichnamigen Artikeln recht gründlich.

    Abgesehen davon gibt es natürlich aber auch Maßnahmen und Mechanismen, die Journalisten daran hindern sollen, bestimmte Narrative infragezustellen oder zu weit abseits des Mainstream zu schwimmen. Ulrich-Teusch, der selbst für verschiedene ÖR-Hörfunkprogramme arbeitet, legt dies an einem Beispiel, das das ZDF betrifft, dar:
    https://augenaufunddurch.net/2018/04/26/vorsicht-realitaet/#more-3304

  11. Die Legende, das durch den Protest ein paar Jugendlicher ein Staat, der im Kriegszustand mit einem der militärisch aktivsten Staaten der Welt war, inerhalb weniger Monate in die Knie zwang ist absurd und das sollte jeder ahnen. Dieser Krieg wurde mit massiven Mitteln vorbereitet sowohl in der Türkei und in Jordanien. Von dort kamen auch Waffen in die Region Daraa, wo die Kämpfe begannen.

    Etwas mehr Licht was am Anfang ablief, zeigen diese Artikel.
    http://uweness.eu/maerchen-ueber-syrien.html
    http://uweness.eu/zur-gewalt-in-syrien.html
    https://syriensgeschichteundgegenwart.com/2015/08/03/baschar-al-assad-vom-freundlichen-augenarzt-zum-schlaechter-von-damaskus-in-nur-zwei-monaten/

    Es gab durchaus Proteste und der Gouverneur von Daraa war nicht beliebt und hat anfänglich mit Gewalt reagiert, aber Assad hat damals auch schnell die Verantwortlichen entlassen und politische Zugeständnise gemacht. Die Geschichten die uns erzählt werden, sind die eine Seite, dass die Menschen dort aber keinen Krieg wollten und wollen zeigen das auch nach 7 Jahren Krieg die Menschen nach wie vor für die jetztige Regierung kämpfen.

    Relotuis hat nur dabei mitgehlfen, dass eben nur die Seite geglaubt wurde, die für das Narrativ der westlichen Einmischung im Nahen Osten stand. Es paßt manchen in ihr Weltbild ein Teil dieser großartigen NATO zu sein. Wir bringen den Menschen weltweit Frieden und Demokratie, auch wenn wir die Länder zerstören und Millionen Menschen töten. Das ist Neokolonialismus in Reinform.

  12. Da wir eh schon etwas bei einer allgemeineren Diskussion sind, möchte ich hier noch auf einen Artikel von Karin Leukefeld hinweisen, in dem sie (unter anderem) die Berichterstattung der Medien zu Syrien, speziell im Zusammenhang mit Giftgas-Einsätzen kritisiert:
    https://www.rubikon.news/artikel/die-chemiewaffen-manipulation

    Diese Kritik, die viele konkrete und nachprüfbare Fakten nennt, macht auf mich einen glaubwürdigen Eindruck; da ich aber kein Experte auf dem Gebiet bin und etwa den OPWC-Bericht nicht selbst gelesen habe, will ich mir kein definitives Urteil erlauben. Falls die Kritik aber berechtigt ist, würde dies nahelegen, dass viele Medien bei der Syrien-Berichterstattung einem Narrativ folgen – und zwar demselben, das auch von der Bundesregierung unterstützt wird.

    Unter anderem in Uwe Krügers Buch „Mainstream“ (das hier auf Übermedien positiv rezensiert wurde) wird ausgeführt, warum die westliche Sicherheits- und Außenpolitik von den Medien im Allgemeinen recht unkritisch begleitet wird.

    Derartige „systematischen“ Verzerrungen sind m.E. „heikler“ als ein Einzelfall wie der von Relotius, obwohl natürlich auch sein Fall nicht unproblematisch ist.

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