Der Autor
Gero Neugebauer ist Politikwissenschaftler und war bis 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.
Wie ein Trugbild geistert der Begriff der Volkspartei durch Medien und Reden von Parteipolitikern. Robert Habeck zum Beispiel, der Parteivorsitzende der Grünen, erklärte jüngst in der „Frankfurter Rundschau“, die „Volkspartei“ sei „kein Erfolgsmodell mehr“. Und nur 48 Stunden später, nach der Hessenwahl, fragte ZDF-Moderatorin Bettina Schausten die hessische Grüne Priska Hinz, ob ihre Partei „auf dem Weg zur Volkspartei“ sei.
Auch Jens Spahn (CDU) fabulierte vom Wahlziel 40 Prozent als Chiffre für „Volkspartei“, und Cerstin Gammelin verwendet den Begriff der Volkspartei in einem durchaus kritischen Kommentar in der „Süddeutschen Zeitung“, aber sie verwendet ihn unkritisch und so, dass nur Union und SPD gemeint sind. Warum spricht sich nicht von „Regierungsparteien“?
Habeck sagt, die so genannten Volksparteien suchten „in der hoch individualisierten Gesellschaft oft nur noch den kleinsten gemeinsamen Nenner, was dazu führt, dass irgendwie nichts mehr vorangeht.“ Flugs definiert er zugleich das „Bündnis 90“ im Parteinamen um:
„Wir tragen in unserem Namen „Bündnis“. Und darum geht es: individuelle Unterschiede anerkennen, sich auf gemeinsame Ziele einigen, politische Bündnisse schmieden und dann die enormen Herausforderungen wie Digitalisierung, Klimakrise anpacken.“
Nur: In Hinsicht auf die Organisation sagt er kaum anderes als das, was Volksparteien früher über sich gesagt haben und heute noch – wider besseres Wissen? – behaupten zu leisten: unter einem durch gemeinsame Werte definierten Dach Bündnisse von verschiedenen sozialen und Interessengruppen bilden. Dabei Widersprüche und Gegensätze versöhnen und mit einem eher allgemeinen, dem Charakter der Volkspartei als „Allerweltspartei“ (catch-all party) entsprechenden Programm für möglichst viele Wähler mit einer eher allgemeinen Parteiidentifikation attraktiv sein zu können.
Das hat Frau Merkel als ihre Fähigkeit – und die der CDU – bezeichnet, „mal liberal, mal christlich-sozial, mal konservativ“ sein zu können, weshalb sie als Vorsitzende jeder dieser Gruppen das Gefühl politischer Heimat vermitteln könne. Das sagte sie 2010, heute dürften viele daran zweifeln.
CDU und CSU sind längst keine Honoratiorenpartei alten Stils mehr, repräsentiert durch Personen. Die „Union“ als Bündnis aus verschiedenen politisch-ideologischen und sozialen Gruppen, aber nicht konfessionell geprägt, hatte dadurch in den 1950er Jahren bessere Voraussetzungen, zur Volkspartei zu werden, als die SPD. Die wandelte sich von der Massenpartei – Klassenpartei war sie schon lange nicht mehr – mit dem Godesberger Programm (1959) zur „Volkspartei“.
Beide erhoben den Anspruch, großen gesellschaftliche Gruppen eine politische Heimat bieten zu können: die SPD den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, die CDU den liberalen Protestanten wie den konservativen Katholiken und den Nationalen, die sie sich mit der FDP und nationalkonservativen Kleinstparteien teilten. Die CSU konnte als bayrische Regionalpartei durch ihre regionale Fixierung und ihre konfessionell katholisch geprägte Basis nie mehr sein als eine „bayrische Staats-Volkspartei“.
Ihr gemeinsames Pech war mehr oder weniger, dass spätestens mit dem Beginn der 1970er Jahre sich die alten großen sozial-moralischen Milieus zunehmend auflösten, und zwar im Zuge der industriellen Entwicklung und des dadurch geförderten sozialen Wandels. So stiegen die Herausforderungen an die Volksparteien, sich durch alternative Politikangebote und unterschiedliche Kompetenzen zu unterscheiden, nicht jedoch durch ideologisch geprägte Allgemeinplätze und Orientierungen.
Der Funktionswandel und das Entstehen neuer Parteien führten in der Phase der Dämmerung der Volksparteien in der Politikwissenschaft zu Versuchen, den Typ Volkspartei durch neue Bezeichnungen zu variieren oder neue Typenbezeichnungen zu finden. Die Rede war nun von „Kartellparteien“, „Netzwerkparteien“, „professionellen Wählerparteien“ oder „Rahmenparteien“.
Gero Neugebauer ist Politikwissenschaftler und war bis 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.
Kartellparteien wurden durch ihr Verhalten definiert: Sie versuchten, Neulingen im Parteiensystem den Zugang zu politischen Institutionen zu erschweren. Funktioniert hat das weder bei den Grünen noch später bei der PDS bzw. der Linkspartei; und heute ist auch die AfD etabliert.
Von diesen Diskussionen unbeeindruckt blieben die großen Parteien dabei, sich als Volksparteien zu bezeichnen; als was sollten sie sich sonst bezeichnen, wollten sie nicht ihren Anspruch auf ihre – eigentlich nicht mehr zu realisierende – Fähigkeit aufgeben, große gesellschaftliche Gruppen repräsentieren zu können. Die SPD traf es mit der Entstehung der Grünen schneller als die CDU und die CSU, die an ihrem rechten Rand zwar Konkurrenten wie die NPD oder die Republikaner hatten, die ihnen jedoch nicht streitig machen konnten, die Gesellschaft rechts der Mitte zu repräsentieren.
Nach der deutschen Einheit war es dann die PDS, die den Repräsentationsraum der SPD links von der Mitte einschränkte. Die Union erwischte es de facto erst nach der Gründung der AfD 2012, die sich rechts von ihr etablierte.
Wenn nun Alice Weidel meint, die AfD sei auf dem Weg zur „Volkspartei“ oder sogar schon dort angekommen, dann kümmert es sie nicht, dass sowohl die Position der Partei am rechten Rand des Parteiensystems als auch der ideologische Volksbegriff der AfD, der weder der sozialen noch der kulturellen Realität der deutschen Gesellschaft entspricht, diesem rhetorischen Anspruch entgegenstehen. Zudem hat die AfD weder eine Mitgliederzahl noch eine Wählerunterstützung, die sie in den Rang einer großen Partei erheben könnten.
Nun ergibt es wenig Sinn, eine wissenschaftlich geprägte Diskussion darüber zu führen, ob der Begriff „Volkspartei“ in Medien gebraucht werden sollte. Klar ist aber, dass die Parteiführer*innen, die diesen Begriff für ihre Partei benutzen, damit einen Anspruch legitimieren wollen, der nicht mehr erfüllt werden kann.
Die deutsche Gesellschaft besteht aus vielen kleinen Völkern, die sich nicht nur durch Herkunft – ein Fünftel hat einen Migrationshintergrund – und Heimat (Lebensmittelpunkt), sondern zugleich durch verschiedene Lebensstile wie durch Wertorientierungen und politische Überzeugungen so sehr unterscheiden, dass sie schon lange nicht mehr große soziale oder politische Milieus bilden, also Gruppen mit gleichen oder ähnlichen sozialstrukturellen Merkmalen oder politischen Orientierungen.
Vielleicht sollten sich die medialen Verfechter des Wortes bewusst werden, dass sie vor allem Parteivertretern behilflich sind, deren Anspruch zu legitimieren, wenn sie von „Volksparteien“ sprechen oder schreiben. Der Öffentlichkeit dürfte es reichen, wenn von „einstigen Volksparteien“ oder schlicht von „großen Parteien“ gesprochen wird, selbst wenn weiten Teilen unbekannt sein dürfte, wie viele Mitglieder diese haben. Die mittleren und die kleinen Parteien machen schon von selbst auf sich aufmerksam.
Und ich dachte immer, eine Volkspartei ist eine Partei, die regelmäßig min. 2/5 aller Stimmen für sich verbuchen kann, denn so wurde der Begriff jahrzehntelang verwendet.
Tja, so kann man sich irren.
„Die deutsche Gesellschaft besteht aus vielen kleinen Völkern…“
Und wie heißen die?
Ach Heinz. Der Satz geht noch weiter und ist für einen zumindest durchschnittlich Lesekompetenten, auch im Zusammenhang mit dem restlichen Artikel, nicht all zu schwer zu verstehen. Versuchs doch noch mal, dann kannst du dir die Frage vielleicht selbst beantworten.
„Die deutsche Gesellschaft besteht aus vielen kleinen Völkern, die sich nicht nur durch Herkunft … sondern zugleich durch verschiedene Lebensstile wie durch Wertorientierungen und politische Überzeugungen so sehr unterscheiden, dass sie schon lange nicht mehr große soziale oder politische Milieus bilden, also Gruppen mit gleichen oder ähnlichen sozialstrukturellen Merkmalen oder politischen Orientierungen“
Das ist einfach so behauptet ohne es zu belegen – als wäre es unmittelbar offensichtlich. Mir leuchtet es nicht ein. Welche Völker das sind müsste man schon benennen. Die SPD hat in Baden-Württemberg doch nicht deshalb bloß 12 % erreicht, weil sich Badener und Württemberger nicht verstehen. Sicher, die Gesellschaft verschiebt sich vom Industriearbeiter zu mehr Dienstleistungen usw…. trotzdem gibt es nach wie vor die große Gruppe der Arbeitnehmer. Denen würde ich viele gemeinsame Interessen unterstellen: Arbeitsplatzsicherheit, Sorge vor Hartz IV, Sorgen um die Rente trotz hoher Rentenbeiträge, kein langes Warten auf Arzttermine bei gleichzeitig hohen Beitragszahlungen, Sorge um Kriminalität wie Einbrüche, Steuergerechtigkeit…
Da haben der Malocher am Band, der Krankenpfleger, der Programmierer, der Busfahrer oder der Flugbegleiter doch noch immer einen großen Satz an Gemeinsamkeiten.
Der Autor Gero Neugebauer unterstellt, wenn ich ihn richtig verstehe: wenn die SPD keine Volkspartei mehr ist, liegt es daran, dass Arbeitnehmer derart unterschiedliche Grundinteressen haben, dass sie nicht mehr von einer einzigen Partei abgedeckt werden können.
Ich meine hingegen, es könnte stattdessen auch einfach daran liegen, dass die SPD diese Arbeitnehmerinteressen schlicht nicht mehr verfolgt (oder zumindest nicht so wahrgenommen wird). Für meine Theorie würde sprechen, dass selbst der ursprüngliche Kern der SPD-Wähler, nämlich die Industriearbeiter, ihr Kreuz immer seltener bei der SPD machen.
Herr Neugebauer, wenn ich mir die Entwicklung der Schweizer Sozialdemokraten der letzten 100 Jahre bei den Nationalratswahlen ansehe, erkenne ich den Hochpunkt mit 28,6 % im Jahre 1943, den Tiefpunkt mit 18,4 % in 1987 – bei den letzten Wahlen rangierte die SP bei den Nationalratswahlen wieder am unteren Ende dieser Bandbreite, durchbricht diese Bandbreite aber seit 1987 nicht mehr, während sie sich gleichzeitig im Ständerat fantastisch entwickelt hat.
Anscheinend gibt es eine Volksdiversifizierung in Baden-Württemberg, aber in der Schweiz findet sie nicht statt? Wenn dem so wäre, müsste es dafür nicht politische Gründe geben? Oder gibt es diese Volksdiversifizierung überhaupt nicht und die Schweizer SP pflegt einfach nach wie vor ihren Markenkern, während die SPD heute von Politik- und Sozialwissenschaftlern nach völlig anderen Gesichtspunkten geführt wird?
Wurde die AfD vielleicht einfach deshalb möglich, weil die Union nach links gerutscht ist? Ist die Politik der offenen Grenzen für die Union einfach das, was Hartz IV für die SPD ist? Wenn es keine Volksparteien mehr gibt, kann der Grund sein, dass es im Volk keine verbindenden Interessen mehr gibt. Es kann aber auch sein, dass die früheren Volksparteien diese außer Acht lassen.
@ Joe Average: ich verstehe dass Sie anderer Meinung sind wie Heinz Schnabel. Ich finde schade, dass Sie ihn aber mit „Ach Heinz“, „ist für einen durchschnittlich Lesekompetenten … nicht allzu schwer zu verstehen“… abfällig herabsetzen.
Soweit ich das sehe, wählen viele Menschen nicht so sehr nach politischen Inhalten und Versprechen ( Hartz iv, Rente, usw.), sondern eine Partei, von der sie sich ideologisch verstanden fühlen. Da geht es dann um (gefühlten) sozialen Status, Familienbild, Arbeit als sinnstiftende oder schlicht Lebensunterhalt sichernde Funktion, Wohnsitz in der Stadt oder auf dem Land, Männer- und Frauenbild usw..
Dazu passend suchen sich viele Menschen die zu wählende Partei.
Das sind vielleicht die vielen kleinen Völker?
@Martin: Ach,Martin, wer nicht Adalbert-Stifter-affin ist kommt mit Bandwurm halt nicht klar ;-)
Ansonsten „Volkspartei“ ist nur noch ein Label das inhaltsleerer nicht sein könnte…ne Dose „Berliner Luft“ hat mehr Inhaltsstoffe!