„Rheinische Post“

Vielleicht doch kein Vietnamkrieg im Hambacher Forst

Das wird also der nächste Schauplatz, über den alle streiten. Der Energiekonzern RWE will bald den Hambacher Forst in Nordrhein-Westfalen abholzen, um dort dann Kohle abzubauen. Gegner des Vorhabens verschanzen sich seit Jahren im Wald. Sie rüsten sich für den Tag der Rodung, und da der nun näher rückt, wird das Klima rauher. Polizisten sind vor Ort. Demonstranten. Journalisten. Und angeblich ist es im Forst so ähnlich wie im Vietnamkrieg.

Der angebliche Tunnel-Fund auf Seite 1 Ausriss: RP

Die „Rheinische Post“ (RP) berichtet am Samstag, die Polizei habe „ausgeklügelte, von den Gegnern der Abholzung angelegte Tunnelsysteme entdeckt“, die „in vier Metern Tiefe“ lägen. Dabei handle es sich „keineswegs um primitive Erdlöcher, sondern um gut ausgebaute Anlagen“. Sie dienten „den Aktivisten als Rückzugsort, als Schlafstätte, Versteck und vermutlich auch Schmuggelroute, um Waffen und Krawallmacher in den Forst zu bringen“, zitiert die Zeitung einen „leitenden Polizisten“.

Polizist vergleicht mit Vietnamkrieg – Polizei widerspricht

Und damit auch ganz klar wird, wie bedrohlich der Polizist die Lage findet, hat er sich einen knalligen Vergleich einfallen lassen: „Die Tunnel erinnern an die unterirdischen Anlagen während des Vietnamkriegs.“ Von dort aus könne die Polizei „wie aus dem Nichts“ angegriffen werden. Es klingt, als müsste die Bundeswehr schon bald auch im Innern für Sicherheit sorgen.

Allerdings: Die Polizei Aachen hat dem RP-Bericht – und damit auch ihrem anonymen Kollegen – inzwischen widersprochen. Als „einsatzführender Behörde“ lägen ihr „bislang keine Erkenntnisse über solche Tunnelsysteme“ vor.

Auch auf Nachfrage von Übermedien zeigt sich ein Einsatzleiter am Sonntag amüsiert. Über den Vergleich muss er lachen: Die Polizei habe zwar „Depots“ und „Erdlöcher“ festgestellt, aber von „Tunnelbau“ oder gar „Tunnelsystemen“ wisse er nichts. Er findet auch nicht, dass dort im Wald irgendetwas an den Vietnamkrieg erinnere.

So ein Vergleich ist für Journalisten aber natürlich verlockend: Tunnelsysteme wie im Vietnamkrieg! Dementsprechend schnell verbreitet sich die Meldung, manche Medien nehmen den Vergleich sogar in die Überschrift. Aber: Sollte man ihn, auch wenn es ein Zitat ist, so in Umlauf bringen? Trifft er?

Geschenk für den Boulevard: Bericht bei Bild.de Screenshot: Bild

Im Wikipedia-Eintrag über die Tunnel von Củ Chi steht, dass die Tunnelsysteme, die den Vietcong damals als Unterschlupf dienten, am Ende rund 200 Kilometer lang waren. Sie erstreckten sich über drei Ebenen, deren tiefste zwischen acht und zehn Metern lag: „Unter der Erde waren ganze Städte entstanden mit Schulen, Lazaretten, Büros und Schlafgelegenheiten.“

Und so etwas gibt es jetzt im Hambacher Forst?

RP-Chefredakteur Michael Bröcker schreibt uns, seiner Zeitung hätten mehrere umfangreiche Berichte über den Polizeieinsatz im Hambacher Forst vorgelegen. Der RP-Chefreporter habe „Einsicht in eine Präsentation (rund 8 Seiten) nehmen“ können, „die mit NRW-Innenministerium gekennzeichnet ist und die ausgewählte Polizeivertreter zur Vorbereitung ihrer Einsätze während der Rodungen gezeigt wurde“. Sie sei von Ende Juli 2018.

„Rheinische Post“ hat keine Zweifel an der Echtheit der Dokumente

Als zweite Quelle nennt Bröcker den fortlaufenden Einsatzbericht der Polizei Aachen, den die RP auch gelesen habe. Am 28. August 2018 heiße es dort, dass „eine Luke im Boden gefunden wurde, die zu einem Tunnel führt“. Im Dokument sei „explizit“ von einem „Tunnel“ die Rede, mit einem Einstiegsloch von 60 mal 60 Zentimetern. „Im weiteren Verlauf des Tages wurden laut Bericht dann weitere Tunnel und Erdlöcher mit Beton verfüllt“, schreibt Bröcker.

Angeblich aus Polizeiakten: eine Tunnel-Skizze Ausriss: RP

Die RP hat keine Zweifel an an der Echtheit dieser Dokumente, sagt sie. Das Foto, das die Zeitung verwendet und das keinen Tunnel, sondern eine Luke zeigt, stammt von der Polizei, was aber nicht in der Bildunterschrift steht; dort ist die RP als Quelle angegeben. Außerdem hat die Zeitung eine Skizze veröffentlicht, die einen Tunnel zeigen soll. Auch sie stamme aus der Präsentation des NRW-Innenministeriums.

Das Problem dabei ist: Der RP-Chefreporter hat diese Tunnelsysteme nie selbst gesehen, offenbar auch kein anderer Reporter. Alles, was in der RP steht, beruht auf den Polizei-Dokumenten. Aber stimmen sie? Oder ist ihr Inhalt vielleicht älter, als die RP denkt? Die „taz“ berichtet, dass auch dem NRW-Innenministerium „keine Informationen über Tunnelsysteme“ vorlägen. Stattdessen vermuten sowohl Ministerium als auch Polizei gegenüber der Zeitung, dass es sich um einen Tunnel handeln könnte, „der bereits im Jahr 2012 geräumt und verfüllt wurde“. Womöglich führen die RP-Tunnel also in die Vergangenheit.

Auch ein Kampf um die Deutungshoheit

Die Stimmung im Hambacher Forst ist angespannt. Die Polizei hat bisher diverse gefährliche Gegenstände sichergestellt, beispielsweise mit Nägeln gespickte Reifen oder entflammbare Flüssigkeiten. Außerdem wurden die Beamten, sagen sie, mit Molotowcocktails und Fäkalien beworfen.

Aber Tunnel wie im Vietnamkrieg? Eher nicht.

Es wird in den nächsten Wochen nicht nur einen Streit um den Wald geben, sondern auch einen Kampf um die Deutungshoheit. Die Frage wird dann auch sein, inwieweit sich Journalisten ungehindert vor Ort ein Bild machen und mit allen Beteiligten reden können – oder ob sie vor allem auf Angaben von Behörden angewiesen sind oder auf Informationen und (möglicherweise etwas zugespitzte) Vergleiche einzelner Polizisten.

Die „Rheinische Post“ jedenfalls beschwört schon mal eine Art Kriegsszenario, nicht nur mit dem Vietnam-Vergleich. In seinem Leitartikel zur Lage im Hambacher Forst schreibt der Chefreporter, es sei mit „Schwerverletzten auf beiden Seiten“ zu rechnen, „sollte es nicht doch noch eine friedliche Lösung geben“. Über dem Kommentar steht: „Im Forst droht ein blutiger Herbst“.

Nachtrag, 21:48 Uhr. Die „Rheinische Post“ berichtet nun auch über das Dementi der Polizei und bekräftigt noch mal, Einblick in interne Akten gehabt zu haben.

Nachtrag, 10.9.2018. Ein Sprecher des NRW-Innenministeriums hat uns bestätigt, dass die Skizze, die die RP abgedruckt hat, ein Erdloch zeigt, das bereits 2012 gefunden wurde. Diese Skizze sei Teil einer Präsentation gewesen, die nun Führungskräften der Polizei gezeigt worden sei. In einem Vortrag habe man dabei auch erklärt, von wann die Beispiele sind – um die Beamten vorzubereiten, was im Hambacher Forst möglicherweise zu erwarten ist.

16 Kommentare

  1. Wenn man bedenkt, wie die Rheinische Post in ihrem Forum Kommentare zensiert z.B. mit der Begründung „Leider können wir die Aussagen in Ihrem Kommentar nicht überprüfen“ obwohl Links und Quellen angegeben wurden, dann sind hier wohl grundsätzliche Zweifel an diesem rheinisch-deutschen Qualitätsjournalismus angebracht.

  2. „’Im weiteren Verlauf des Tages wurden laut Bericht dann weitere Tunnel und Erdlöcher mit Beton verfüllt‘, schreibt Bröcker“.

    Da habe ich spontan eine Frage: Hatten die eine Baugenehmigung (vgl. §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1, 65 Abs. 1 Nr. 1 BauO NW)?

  3. @Th. Koch

    „Hatten die eine Baugenehmigung?”

    § 64 und § 65 nennen zahlreiche genehmigungsfrei Vorhaben und Anlagen. Zwar ist da nichts, was Tunnel nennt, aber das ist auch egal, weil davon auszugehen ist, dass von den Tunneln eine Gefahr ausgeht, bspw. durch Einsturz wenn forstwirtschaftliche Maschinen darüber fahren.

    In dem Fall kann die untere Baurechtsbehörde eine solche Maßnahme zum sofortigen Vollzug anordnen, das geht sogar sofort mündlich. Da gibt es keine Genehmigung.

  4. @4:

    Woher haben Sie denn diese Erkenntnisse?

    1. Ausweislich eine Meldung des Kölner Stadtanzeigers vom 09.09. hat die „Polizei“, nicht aber die untere Bauaufsichtsbehörde (Kreis Düren) die „Erdlöcher“ verfüllt.
    2. Die genehmigungsfreien Anlagen / Vorhaben finden sich nicht in §§ 64, 65 NBauO, sondern in §§ 65 bis 67 (§ 64 gibt es gar nicht). Von den dort genannten Ausnahmetatbeständen ist hier keiner einschlägig.
    3. Durch das Einbringen von Beton in ein Erdloch im Außenbereich wird eine bauliche Anlage errichtet. Hierfür ist mithin eine Baugenehmigung erforderlich, da ein Ausnahmetatbestand nicht existiert (s. 2). Die Maßnahme wäre als Baumaßnahme im Außenbereich auch kaum genehmigungsfähig.
    4. Die Ausführungen zu angeblichen Gefahren sind spekulativ. Wenn Gefahren bestünden, wären diese in anderer Weise bekämpfbar, z.B. Sicherungsmaßnahmen (Absperrband) oder Verfüllung mit Stoffen, die keine Baustoffe sind ( Erde) sind.
    5. Es handelt sich daher um eine illegale Maßnahme. Das unkontrollierte Aufbringen von Flüssigbeton im Außenbereich lässt auch darauf schließen, dass es hier an hinreichendem Respekt vor der Rechtsordnung fehlt.

  5. Ich habe nicht behauptet, die Baurechtsbehörde hätte die Löcher verfüllt. Ich habe geschrieben sie kann den Vollzug anordnen.

    Ob es sich dabei um eine bauliche Anlage handelt, darüber lässt sich streiten. Und selbst wenn es sich um eine bauliche Anlage handelt, ist eine Genehmigung nicht zwingend erforderlich, wie die Liste der genehmigungsfreien Vorhaben zeigt.

    Darüber hinaus kann eine Baurechtsbehörde im Sinne einer Gefahrenabwehr Maßnahmen anordnen die sehr wohl bauliche Anlagen im Sinne der jeweiligen Landesbauordnung sind. Ohne ein Genehmigungsverfahren. Das exerziere ich gerade durch, wenn auch in einem anderen Bundesland.

    § 64 habe ich von hier: http://www.bvs-nrw.de/backstage/bks_vpi/documentpool/bks/vorschriften/landesbauordnung-15-12-2016.pdf

    Für Bauten im Außenbereich gibt es genehmigungsfähige Ausnahmen, siehe § 35 BauGB.

    Die Annahme einer Gefahr ist immer zu einem großen Teil spekulativ. Zur Tatsache wird sie Gefahr erst, wenn der Schaden eingetreten ist. Und im Zweifelsfall wird immer eine Abwägung getroffen werden, die „auf der sicheren Seite” liegt.

  6. Blöd gesagt, wenn das ganze Gebiet dem Tagebau zum Opfer fällt, ist der Beton dann auch weg.
    Und mit Beton geht das schneller und einfacher als mit Erde, weil Erde nicht flüssig ist.

    Ist aber trotzdem wichtig, wie bei rechten Ausschreitungen abgewiegelt wird und bei linken übertrieben.

  7. „Als wesentliches Tatbestandsmerkmal für die Zulässigkeit polizeilichen Einschreitens sind Spekulationen ungeeignet.”

    Polizeiliche Einsatzstrategien basieren immer auf einer Annahme des Verhaltens der Gegenseite. Man versucht vorausschauend abzuschätzen, was passieren könnte und sein Verhalten dementsprechend auszurichten. Allerdings kommt es manchmal doch anders. Bleibt also innerhalb bestimmter Grenzen spekulativ.

    Mit baulicher Gefahrenabwehr hat das allerdings nichts zu tun.

  8. @2 Fruufus Maximus: Zensur ist etwas anderes. Die „Rheinische Post“ zensiert nicht, sie schaltet allenfalls Kommentare nicht frei. Kann sie machen.

  9. Mit dem Update vom 10.9.2018 wird mir der Vorgang klar.
    Ein Zuschauer der Präsentation ist nicht ganz aufmerksam und bekommt nicht alles richtig mit.
    Vielleicht wurde dabei gesagt: „Aber stellen Sie sich keine Tunnelsysteme wie im Vietnamkrieg vor.“

    Da blieb nur die Hälfte hängen und davon wurde 100% an die Rheinische Post weitergeleitet und die dichtete noch was dazu.

    Nun, auf diesen Informanten wird diese Zeitung wohl nicht mehr zugreifen

  10. mir fehlt jetzt nur noch ein Kommentar von einer der Polizeigewerkschaften die fordert diese neue Qualität der Gewalt mit geeigneten Mitteln zu bekämpfen – am Besten den ganzen Wald verminen und jeden der nicht auf der Payroll von RWE steht vorsorglich in Haft nehmen.

  11. Das traurigste an der ganzen Geschichte war ja mal wieder, dass erst die Nachrichtenagenturen und dann ein Gutteil der deutschen Leitmedien die Geschichte einfach übernommen haben, ohne auch nur eine Minute Arbeit darin zu investieren. Malte Kreutzfeld hatte mit einem einzigen Anruf das Dementi der Polizei Aachen parat, aber auch ohne diesen hätten doch Formulierungen wie „im Vietnamkrieg“ von jeder verantwortlichen Redaktion rausgestrichen werden müssen aufgrund offensichtlichen Blödsinns. Wenn man die Redaktionen Samstags nicht besetzt hat darf man doch nicht ungeprüft irgendwelches Fremdmaterial schalten um die Seite vollzukriegen.Das widerspricht doch jeglichem journalistischen Standards.

    Auch die „Korrektur“, die wenn überhaupt viele Stunden später erschien, sah dann so aus, dass weiterhin drei Absätze über Vietnamkrieg, Angriffe aus dem Hinterhalt, Tunnelsysteme und Waffenschmuggel geschrieben wird, nur um im vierten Absatz „Die einsatzleidende Polizei Aachen bestreit übrigens, dass all das was wir gerade geschrieben haben überhaupt existiert“ einzuschieben. Das ist doch keine Korrektur, man verbreitet diese Gewaltbilder wissentlich ohne jegliche Grundlage einfach weiter.

    Zur Krönung all dieser Versäumnisse findet dann Beatrix von Storch die Meldungen Stunden nach der Richtigstellung und instrumentalisiert sie im „Linksextreme sind noch viel schlimmer“ Duktus, um von Chemnitz abzulenken. Selbst die paar, welche die Richtigstellung noch mitbekommen grunzen dann nur „Siehste, der Spiegel lügt wie es im passt, deswegen glaub ich denen auch nichts“. Grandiose Arbeit unserer Medien.

  12. @Anderer Thomas
    Auf Twitter haben sowohl DPolG (Hamburg) als auch GdP die Meldung der RP geteilt und auch auf Hinweis auf das Dementi aus Aachen nicht runtergenommen oder auch nur eingeschränkt. Rainer Wendt hatte da schon längst gesagt, dass es mindestens genauso schlimm sei wenn Polizisten im Hambacher Forst mit Zwillen attackiert werden wie wenn Nazis auf offener Straße Menschen jagen.

  13. Und wenn man nun noch mit einer hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass die Tunnel-Geschichte bewusst von staatlichen Stellen lanciert worden ist, um die Eskalation voranzutreiben und damit ein günstiges mediales Umfeld für eine Räumung des Waldes zu schaffen…
    dann lautet die Gleichung so:
    Waldschützer contra Wendt/CDU/SPD/FDP/AfD/RWE/IGBCE und einer Presse, die sich nicht mehr an ihre ureigensten Prinzipien (nutze immer mindestens zwei voneinader unabhängige Quellen) erinnert.

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