Presserat missbilligt „Welt“-Berichte über angeblich vereitelten Anschlag
Der Deutsche Presserat hat die Berichterstattung der „Welt“ über einen angeblich vereitelten Terroranschlag auf den Berliner Halbmarathon im Frühjahr missbilligt. Er sieht einen „schweren Verstoß gegen die journalistische Sorgfaltspflicht“. Die Information über terroristische Anschlagspläne sei hochsensibel und erfordere ein entsprechend hohes Maß an Sorgfalt. Erschwerend komme hinzu, dass die „Welt“ ihre Berichterstattung nicht zeitnah und transparent richtiggestellt hat, nachdem die Polizei ihr widersprach.
Am Nachmittag des 8. April hatte die „Welt“ berichtet, dass die Berliner Polizei sechs Männer aus der islamistischen Szene festgenommen hatte. Sie behauptete, als Tatsache, dass der Hauptverdächtige „Messerangriffe auf Passanten beim Berliner Halbmarathon“ plante. Sie titelte, sowohl online als auch als Seite-1-Aufmacher der Zeitung am nächsten Tag, ebenfalls als Tatsache: „Polizei verhindert Terroranschlag auf Berliner Halbmarathon“.
Dadurch, dass die „Welt“ exklusiv über die Verhaftungen berichtete, prägte diese Darstellung auch die Berichterstattung der anderen Medien.
Tatsächlich hat die Polizei die Verdächtigen aber schnell wieder freigelassen. Nach ihren späteren Erkenntnissen war ein Terroranschlag auf den Halbmarathon nicht geplant.
Es habe einen Anfangsverdacht wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gegeben. Sie verfüge aber über „keine konkreten Hinweise, dass der Halbmarathon in der Hauptstadt Ziel eines Anschlags gewesen sein könnte“.
Die Polizei widersprach noch am 8. April teilweise explizit der „Welt“-Darstellung. Die „Welt“ ignorierte das zunächst und erweckte in ihrer Print-Ausgabe sogar den gegenteiligen Eindruck.
Uns gegenüber wollte die Springer-Pressestelle die Beweggründe der Redaktion, wie so oft, nicht erläutern. Auf unsere Beschwerde beim Presserat gab der zuständige Ressortleiter eine lange Erklärung gegenüber dem Gremium ab.
Es habe eindeutig einen Zusammenhang zwischen den Festnahmen und dem Halbmarathon gegeben: die indiziengestützte Sorge, es könnte zu einer Tat bei dem Massenlauf kommen. Die Behörden hätten einen solchen Anschlag für möglich gehalten. Nichts anderes habe man berichtet.
(Zum Vergleich noch einmal die „Welt“-Überschrift: „Polizei verhindert Terroranschlag in Berlin“.)
Weitere Erklärungen der „Welt“ referiert der Presserat so:
Wenn die Behörden nach den Durchsuchungen zu dem Ergebnis gekommen seien, die Gefahr sei weniger groß gewesen als zuvor befürchtet, dann ändere das nichts an der Lage, aus der heraus diese Durchsuchungen stattfanden – diese sei aber Gegenstand ihres Berichtes. Man sei nun einmal das Medium gewesen, das vorab und währenddessen informiert gewesen sei. Man könne in der Lage billigerweise keinen Bericht erwarten, der aus der Perspektive danach geschrieben sei. Was habe man tun sollen? Abwarten, bis alles vorbei ist und dann eine abgeklärte Agentur nehmen?
Das ist eine verblüffende – und erstaunlich pampig klingende – Argumentation. Als wäre es ein Nachteil, dass die Redaktion, wie sie mehrfach betont, schon vorab über die Aktion der Polizei informiert war, weil es sie zwang, unreflektiert sich deren Perspektive zu eigen zu machen. Und natürlich hätte die „Welt“ nicht abwarten und dann eine „abgeklärte Agentur“ nehmen müssen. Sie hätte zutreffend berichten können: „Verhaftungen aus Sorge um möglichen Anschlag“. Stattdessen meldete sie: „Polizei verhindert Terroranschlag“. Das war zum damaligen Zeitpunkt unklar – und im Nachhinein falsch.
Die „Welt“ erklärt gegenüber dem Presserat, ihr Bericht sei durchweg in einem konjunktivistischen Ton gehalten. Einzig in der Überschrift sei das durchaus angebrachte Wort „offenbar“ entfallen – das bedaure man. Aber es tauche schon in der Unterzeile auf.
Dort steht tatsächlich: „… plante offenbar einen Messerangriff auf den Halbmarathon“. Doch das „offenbar“ bezieht sich hier, wie auch der Presserat feststellte, auf die Art der Ausführung, nicht den Anschlag an sich.
Die „Welt“-Argumentation endet, zusammengefasst vom Presserat:
Was habe man getan? Man habe gewusst, die Polizei sorge sich vor einer Tat und greife ein, sie durchsuche und nehme fest. Das habe man aufgeschrieben.
Hier noch einmal zum Vergleich die Startseite der „Welt“ von damals:
Der Beschwerdeausschuss sah in den „Welt“- und „Welt Online“-Artikeln Verstöße gegen die Ziffern 2 (Sorgfaltspflicht) und 3 (Gebot zur Richtigstellung) des Pressekodex. Er sprach eine „Missbilligung“ aus. Die ist weniger scharf als eine „Rüge“, aber schärfer als ein „Hinweis“.
Welche Konsequenzen ziehen „Hinweis“, „Missbilligung“ und „Rüge“ denn nach sich. Interessiert dies überhaupt (noch) jemanden?
In dem Artikel „Was der Presserat bewirken kann“, erschienen am 02.04.2015 beim Deutschlandfunk (https://www.deutschlandfunk.de/medienberichterstattung-was-der-presserat-bewirken-kann.862.de.html?dram:article_id=316090) ist z.B. zu lesen:
„Für ihn [Anm.: den Anwalt Christian Schertz] und für seine Mandanten ist das schärfste Schwert des Deutschen Presserates, die öffentliche Rüge, in Wirklichkeit längst stumpf.
‚Das Einzige, was Medien interessiert, sind tatsächlich rechtliche Schritte, Unterlassungsverpflichtungen, Gegendarstellungen, die gedruckt werden müssen und, vor allem und entscheidend, so genannte Geldentschädigungen von Medienopfern, also Personen, die durch eine rechtswidrige Berichterstattung verletzt worden sind.'“
@ 1
Der Presserat ist ein Resultat freiwilliger Selbstverpflichtung. Man könnte meinen, damit sei schon alles gesagt.
Und ja, je öfter dagegen verstoßen wird, desto lächerlicher wird’s.
Mir fiel doch spontan „Reporter des Satans“ ein…
so vonwegen „Wir machen die Nachrichten!“
Könnte/dürfte ein Presserat eigentlich auch einen einzelnen Redakteur für sein Gesamtwerk folgenlos missbilligen oder rügen? Ich frage für einen Bild.de-Chef.
@2
So sieht es aus. Die BILD trägt diese Rügen doch schon wie eine Auszeichnungvor sich her, um ihr Image als „Widerstands-Blatt “ gegen halluziniertes „Gutmenschentum“, formerly known as Anstand, bei der anvisierten dauerempörten AFD-Community zu betonen.
@Übermedien:
Der Artikel hier, die Diskussion bei der Gewalt gegen Journalisten und die neue Reihe von Fernseh-Rezensionen bringt mich auf den Gedanken, die rechtliche Seite bzw. den rechtlichen Rahmen journalistischer Tätigkeit in einer Beitragreihe zu beleuchten: Man könnt ja mal die einzelnen Normen des Kodex beleuchten, etwa mit Beispielen, was noch geht und was nicht, weiter rechtliche Grenzfälle wie das Fotografieren/Filmen anderer Menschen, dies das jenes. Es ließen sich bestimmt dutzende Themen finden. Vielleicht mit Gastautoren aus der Juristenecke, die Erfahrung im Medienrecht aufweisen, aber die Materie auch nicht ganz so dröge darstellen.
Ich fände das sinnvoll, u.a. auch deswegen, weil es einen Teil des Maßstabs transparenter macht, anhand dessen Ihr die Medien beäugt/beurteilt.
Ich finde Vannays Vorschlag gut. Das würde mich auch interessieren!