OPCW-Bericht

Russland war’s! Die Geschichte einer vergifteten Eilmeldung

Also doch. „OPCW bestätigt russische Herkunft des Giftes im Fall Skripal“, schrieb die Nachrichtenagentur AFP gestern Nachmittag um kurz nach eins, und sie verschickte die Neuigkeit als Eilmeldung, natürlich. Schließlich wird derzeit über keine Frage so intensiv spekuliert, wie über jene, woher die Substanz stammt, mit der der frühere russische Spion Sergej Skripal und seine Tochter Julia vergiftet wurden. AFP lieferte scheinbar die Antwort.

Dabei äußert sich die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in ihrem Abschlussbericht, den sie gestern vorlegte, gar nicht zur Herkunft des Stoffes. Sie hat also auch nicht gesagt, dass Russland der Produzent sei. AFP hatte das aber so gedeutet und auch noch mal in einer längeren Übersicht um 13:32 Uhr verbreitet. Bis zur Korrektur verging dann viel Zeit. „Der Interpretationsfehler“, schreibt AFP auf Anfrage, „entstand in unserem Londoner Korrespondentenbüro“. Zwei Stunden später sei er bemerkt worden.

Die Nachrichtenagentur schreibt, sie bedauere „diesen Vorgang außerordentlich“ und werde „zusätzliche Vorkehrungen“ treffen, „um solche Fehler künftig zu vermeiden.“ Der aktuelle Fehler verbreitete sich rasend. Etliche Medien übernahmen ihn, oft ebenfalls als Eilmeldung, die auf tausende Smartphones versendet wurde. Eine virale Falschmeldung, die schlechte alte Ente.

Um kurz vor halb zwei berichtete dann Reuters korrekt, die OPCW habe „keinen mutmaßlichen Urheber der Attacke“ genannt, sondern lediglich „britische Erkenntnisse“ bestätigt. Das ließ darauf schließen, dass die OPCW ebenfalls annimmt, es handle sich um das Nervengift Nowitschok.

Explizit genannt wird der Stoff in dem veröffentlichten Kurzbericht aber auch nicht. Und weiter ist eben ungewiss, ob Russland dahinter steckt. Es ist nur klar, dass Russland vor Jahren Nowitschok hergestellt hat.

Verschiedene Medien, darunter die „Welt“, „Tagesspiegel“ und n-tv, haben die Falschmeldung inzwischen transparent korrigiert, andere änderten Text und Überschrift, ohne dies im Beitrag nachträglich zu erwähnen. Und auch jetzt findet sich die falsche Aussage immer noch in Beiträgen, zum Beispiel in einem Video von t-online.de und in manchen Texten.

Der „Stern“, zum Beispiel, hat die falsche AFP-Meldung weiter auf der Seite:

Und dummerweise findet sie sich auch immer noch auf der AFP-Internetseite.

Nachträglich falsche Aussagen zu korrigieren, und zwar nachvollziehbar, mit einem erklärenden Nachtrag unterm Text, ist das eine. Eigentlich sollte das längst Standard sein, ist es aber nicht. Das andere sind: die Eilmeldungen in digitalen Netzwerken wie Twitter. Stellt sich eine Nachricht als falsch heraus, wird das dort häufig gar nicht korrigiert – oder nur halb.

Schlechtes Beispiel:

Die Überschrift es Textes, der da verlinkt ist, hat sich inzwischen verändert. Auch im Text steht nichts mehr von „russischer Herkunft“ des Giftes. Einen Nachtrag, der das transparent macht, hat der Text nicht, und auch der Tweet steht immer noch so da. Später hat ihn „Zeit Online“ korrigiert und eine „Präzisierung der Meldung“ getwittert, in die sie den alten Tweet einbettete. Das ist okay, allerdings: Unter dem alten Tweet steht nicht, dass er falsch ist. Dort finden sich nur wütende Kommentare, eben weil er falsch ist.

Die Nachrichten des Deutschlandfunks haben es anders gemacht und eine Korrektur direkt unter den falschen Tweet gestellt. So ist wenigstens klar, dass der vorher Unsinn war – und man ihn eigentlich löschen könnte.

Bei „Spiegel Online“ hingegen steht der falsche alte Tweet immer noch da, ohne Korrektur. Leserinnen und Leser wüten unter dem Tweet über die „Lügenpresse“, die „Lügenscheiße“ verbreite. Auch auf dem Eilmeldungs-Twitter-Kanal von SWR3 steht weiter die knappe Falschmeldung – und nirgends eine Korrektur. Und bei „Bild“ sind ebenfalls die beiden alten Eil-Tweets noch da, ebenfalls ohne Korrektur – im Gegenteil: Abends twittert „Bild“ das Zitat eines „Experten“, der sagt: „Russland mordet aus Tradition mit Gift“.

Die Reihe ließe sich fortsetzen. Denn es gibt in deutschen Redaktionen keine klaren Regeln, wie Fehler in digitalen Netzwerken richtiggestellt werden. Sie bleiben oft einfach stehen, als würde sie niemand mehr zur Kenntnis nehmen, nur weil sie im Feed nach unten rutschen. Aber allzu oft genügt bekanntlich ein Tweet oder ein Facebook-Eintrag, auch ein alter, und andere Nutzer kommentieren drauf los. Was im Text hinter dem Link steht, ist vielen egal.

Das ist gerade bei einem aufgeheizten Thema wie Russland schlecht. Eine Falschmeldung wird hier schnell als Beleg für eine große Kampagne gesehen. Gegen Russland. Dabei handelt es sich hier sicherlich nicht um gezielt gestreute „Fake-News“, aber einige Journalisten lauern derzeit eben auf eine Meldung, die endlich bestätigt, was sie ohnehin schon die ganze Zeit dachten: Dass der Ex-Spion nebst Tochter von Russen vergiftet wurde.

AFP mag anfangs einfach falsch interpretiert haben. Dass sich die Meldung aber so schnell so weit verbreitete, liegt sicher auch daran, dass es vielen gut ins Bild passt, und nun gab es scheinbar die lang ersehnte Auflösung.

18 Kommentare

  1. Mir standen gestern auch die Haare zu Berge. Beim rbb RadioEins wurde die Schlagzeile „die Russen waren es“ bis zum späten Abend beibehalten. Ich denke, das wirft ein ziemlich ärmliches Licht auf die Arbeitsweise der Nachrichtenredaktionen. Keiner liest das Originaldokument. Ich meine, die Kommentatoren unter den Meldungen haben es innerhalb Minuten hinbekommen, die wahre Aussage des Berichtes „zu ermitteln“. Warum kriegen das die – vermeintlichen – Profis nicht hin?
    Meine böse Vermutung ist, dass es leider oft gar nicht um „wahre“Nachrichten geht, sondern nur ums schnelle Dabei-sein. Und umso besser, wenn es viele wütende Kommentare gibt. Alles Clicks…

  2. ZITAT: „Es ist nur klar, dass Russland vor Jahren Nowitschok hergestellt hat.“

    Und selbst das ist noch falsch. Geforscht wurde daran Usbekistan, und einen Staat“ Russland“ gab es damals nicht. Gemeint ist die Sowjetunion.

  3. „Verschiedene Medien, darunter die „Welt“, „Tagesspiegel“ und n-tv, haben die Falschmeldung inzwischen transparent korrigiert,“

    Das stimmt so nicht ganz. Bei der „Welt“ steht die Falschmeldung immer noch drin (unter dem Video).

  4. „Explizit genannt wird der Stoff in dem veröffentlichten Kurzbericht aber auch nicht. Und weiter ist eben ungewiss, ob Russland dahinter steckt. Es ist nur klar, dass Russland vor Jahren Nowitschok hergestellt hat.“

    In der Tat, der Stoff wird nicht genannt. Wir müssen genau lesen. Was sagt die Zusammenfassung des OPCW-Berichts?

    „“The results of analysis by the OPCW designated laboratories of environmental and biomedical samples collected by the OPCW team confirm the findings of the United Kingdom relating to the identity of the toxic chemical that was used in Salisbury and
    severely injured three people.“

    https://20years.opcw.org/wp-content/uploads/2018/04/s-1612-2018e.pdf

    Wäre ich Journalist, würde ich mir jetzt die Erkenntnisse der Briten ansehen, die von der OPCW bestätigt werden, und dzwar die offiziellen Erkenntnisse, nicht die zum Tiel bereits als Lügen entlarvten Behauptungen der britischen Regierung. Welches also sind diese Erkenntnisse?

    „Blood samples from Sergei Skripal and Yulia Skripal were analysed and the findings indicated exposure to a nerve agent or related compound. The samples tested positive for the presence of a Novichok class nerve agent or closely related agent.“

    https://www.judiciary.gov.uk/wp-content/uploads/2018/03/sshd-v-skripal-and-another-20180322.pdf

    Die Passage stammt aus dem Gerichtsbeschluss zur Erlaubnis für die OPCW, den bewusstlosen Skripals Blut abnehmen zu dürfen. Die Briten hatten ihnen bereits zuvor Blut abgenommen und in Porton Down untersuchen lassen.

    Des weiteren haben wir die Formulierung „military-grade nerve-agent of a type developed by Russia“, von der die britische Regierung nicht abwich, wohl weil die Wissenschaftler in Porton Down trotz des enormen Drucks, unter dem sie standen, nicht bereit waren, sich auf Russland als Ursprung des Giftes festzulegen. Siehe hierzu:

    https://www.craigmurray.org.uk/archives/2018/03/of-a-type-developed-by-liars/

    Dann haben wir den Leiter von Porton Down (kein Wissenschaftler), Gary Aitkenhead, der in einem Interview mit Sky News von Novitschok sprach, aber ebenfalls feststellte, dass die Herkunft des Gifts nicht zu bestimmen sei. Damit war klar, dass Boris Johnson in seinem Interview mit der Deutschen Welle gelogen hatte:

    https://www.youtube.com/watch?v=Jmxj-p7EiR4

    Das Foreign Office zog daraufhin einen Tweet zurück, in dem es die gleiche Behauptung aufgestellt hatte:

    https://www.craigmurray.org.uk/archives/2018/04/the-poison-in-our-body-politic/

    An offiziellen schriftlichen und justiziablen Stellungnahmen haben wir nur den Auszug aus dem Urteil zur Blutentnahme. Aus dessen Wortlaut geht nicht einmal hervor, dass es sich um ein Nervengift handelte, ganz zu schweigen von der Herkunft.

    Die deutschen Medien sollten sich den schönen englischen Satz zu Herzen nehmen „When you’re in a hole, stop digging.“

    Davon abgesehen: Angesichts der verhältnismäßig milden Auswirkungen erscheint Lawrows Behauptung, in den Proben sei außer A-234 (Novitschok) auch BZ festgestellt worden, als die wahrscheinlichste Variante. Falls es außerdem zutrifft, dass das instabile A-234 (Novichok) in, als Laie sage ich mal, „frischem“ Zustand gefunden wurde, deutet das darauf hin, dass es nachträglich in die Proben eingebracht wurde. Falls es außerdem zutrifft, dass im nicht-öffentlichen Bericht der OPCW nur A-234 genannt wird, nicht aber BZ, so ist die OPCW kompromittiert. Wer weiß, vielleicht hat ja John Bolton wieder einmal in Den Haag vorbeigeschaut und dem Leiter gesagt „We know where your kids live“…

    https://theintercept.com/2018/03/29/john-bolton-trump-bush-bustani-kids-opcw/

    Und jetzt wird es interessant: Wird irgendein Medium Lawrows Behauptungen nachgehen und sie gegebenenfalls widerlegen? Falls nicht, halte ich sie für bestätigt.

  5. Die Propagandamaschine läuft auf beiden Seiten auf Hochtouren!
    Ich hoffe, dieser Fall wird zukünftig als Lehrstück zum Thema Medienkompetenz in die Geschichte eingehen.

  6. Vielleicht ist es ’nur‘ Ahnungslosigkeit bis Dummheit der Journaille; das hat sie ja oft – allzuoft – bewiesen; nicht nur in den paar Jahrzehnten, in denen ich’s bewusst und permanent mitbekam; auch die Jahrzehnte davor waren nicht besser, wer mehr wissen möchte, lese bei Karl Kraus nach.

    Dummheit…
    …allerdings gepaart mit einem Russenhass, den die Deutschen (Journalisten) offenbar seit ’39 pflegen. Ja, man kann in diesem und ähnlichen Fällen wohl zu Recht verallgemeinern; man nenne mir die Ausnahmen in den wichtigen klassischen deutschen Medien (incl. Radio/TV), die korrekt berichten.

  7. Vor einigen Tagen lief im Radio ein ausgedehntes Interview mit einem ehemaligen Sowjetagenten, der sich vor sehr langer Zeit in den Westen abgesetzt hatte (ich habe den Namen leider nicht mehr im Gedächtnis), der lieferte eine erschreckende, aber einleuchtende Begründung, warum er glaubt, dass nicht Russland hinter dem Anschlag steckt: „Der FSB [russischer Geheimdienst] macht keine Fehler. Wären die das gewesen, wäre Skripal jetzt tot.“

  8. @Orry:

    Jaaah, aber das ist doch eine Win-Win-Argumentation: „Entweder unser Mordanschlag ist erfolgreich, oder wir können uns überzeugend distanzieren.“
    Wenn die beiden jetzt tot wären, wäre die Argumentation: „Wenn wir das gewesen wären, hätte es keine Spuren gegeben, die uns belasten, denn wir machen keine Fehler.“

    Zur NOCH besseren Irreführung müsste sich der FSB mal so aus Spaß zu irgendwelchen Verbrechen bekennen, mit denen er nichts, aber wirklich rein gar nichts zu tun hat. „Wärt Ihr nie drauf gekommen was? Jahaaa, SO gut sind wir.“

  9. Es wird immer von einem Fehler gesprochen. Ich meine, es ist Absicht. Die Botschaft erstmal in die Köpfe transportieren und später die Korrektur nachschieben, die kaum ein Leser der Originalmeldung erreicht. Das korrigieren ist nur eine nachträgliche Reinwaschung, falls sich die politischen Verhältnisse einmal ändern werden.

  10. ne is klar, das arme unschuldige Russland war es ja nie. Wieviele Lügen und absurde Storys alleine zum Fall Skripal haben wir in den letzten Wochen aus dem Kreml gehört?

  11. Den Vorwurf, das mit Absicht so zu betreiben, könnte man leicht entkräften.
    Man müsste dazu nur über die selben SM-Kanäle die obligatorische Korrektur verschicken, in der Form:

    „Richtigstellung: Unsere Meldung war leider falsch. Das OPCW hat NICHT eine russische Herkunft des Giftes im Falle Skripal festgestellt oder gar bestätigt.“

    Wer das unterlässt, muss sich die Absicht unterstellen lassen, durch permanentes Dauerfeuer-Ausspielen solcher Meldungen alternative Fakten eines binären Weltbildes konstruieren zu wollen.

    Wo ich hier die „Eil-Meldung“ der SZ sehe: Wie hat die das denn in dieser Sache gehandhabt? Hat sie eine entsprechende Eil-Meldung zur Richtigstellung über die selben SM-Kanäle an die selben Empfänger versendet?

    Wenigstens dieses führende Blatt der seriösen, traditionell nicht Propaganda-verdächtigen Qualitätsmedien wird doch seine Verantwortung für die von ihm verbreitete Weltwahrnehmung verstehen?

  12. @ Symboltroll
    Ich habe die SZ per EMail auf den Fehler hingewiesen, als Antwort erhielt ich
    „… die OPCW hat die britischen Untersuchungsergebnisse bestätigt – und diese besagen, dass es sich um den Kampfstoff Nowitschok handelt, der russischer Herkunft ist.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dominik Fürst“
    Ist wohl nichts mehr mit „dieses führende Blatt der seriösen, traditionell nicht Propaganda-verdächtigen Qualitätsmedien“

  13. Hat denn irgendeiner von den letzten Klugscheißer-Kommentatoren hier neuere Informationen? Oder nur Blabla?

  14. #13:
    Putzig. Stinkt Ihnen einfach nur irgendwas oder gar Weltschmerzartig alles, oder hatten Sie was konkretes zu…
    a) den SM-Eil-Meldungen dieser Medien oder
    b) der Herkunft des Skripalgiftes…
    … im Sinn, das Sie aber niemandem verraten wollten, schon gar nicht in Ihrem Post?

  15. Der Leiter des OPCW hat gesagt, das von Lawrow angegebene BZ in den Proben, die das Schweizer Labor Spiez untersucht hat und über die ihm offenbar der Laborbericht vorlag, sei in einer Kontrollprobe enthalten gewesen und habe mit den in Salisbury gefundenen Substanzen bzw. der in Salisbury gefundenen Substanz nichts zu tun.

    Fragen:

    Ist es üblich, bei jeder OPCW-Untersuchung Kontrollproben an die beauftragten Labors zu versenden?

    Was bedeutet es, dass laut Lawrow „jungfräuliches“ A-234 (vulgo Novitschok) gefunden wurde? Stimmt das? Hätte das nicht längst Abbauerscheinungen aufweisen müssen? Galt das vielleicht nur für die Kontrollprobe?

    Ist A-234 die Substanz, die gefunden wurde? Das geht aus der veröffentlichten Zusammenfassung nämlich nicht hervor.

    Wieso leben die Skripals und der Polizist dann noch?

    Dass die OPCW zur Herkunft der Substanz keine Aussage getroffen hat, und die versammelte Westpresse ihr Publikum belogen hat, bleibt weiterhin gültig. Danke für den Artikel!

  16. Laut Aussage der OPCW ist Lawrow also entweder auf eine Kontrollprobe hereingefallen oder hat von den Kontrollproben gewusst und ist dennoch vorgeprescht. Dann hätte er die Wahrheit zumindest verdreht.

    A-aber: Wenn es sich bei der Probe, deren Analyse Lawrow zitierte, um eine Kontrollprobe handelte, wie kommt dann das A-234 (Nowitschok) da rein?

    Es waren dann in der Kontrollprobe nämlich BZ UND und „jungfräuliches“ A-234 vorhanden. Und das hat ja dann wohl irgendwer frisch für die Kontrollprobe hergestellt. Und Russland war das nicht…

  17. Mal eine Frage an die Uebermedienmacher:
    Warum ist das jetzt eine „Ente“ oder ein „Fehler“ und kein Fake News und warum greift dann an dieser Stelle das Maas—Gesetz nicht?

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