„Mail Online“

Wie man die Amok­fahrt von Münster mit dem IS in Verbindung bringt

Schon auf dem Weg zum Flughafen von London nach Münster am frühen Sonntagmorgen ist die Reporterin von „Mail Online“ enttäuscht. Ein Mann war mit einem Campingbus in eine Gruppe von Gästen vor einem Café gefahren. Was zuerst wie ein terroristischer Anschlag aussieht, entpuppt sich bald als Tat eines offenbar psychisch labilen einzelnen Deutschen.

Die Geschichte verliert an Wichtigkeit für die Online-Ausgabe der „Daily Mail“, die zweitgrößte Boulevardzeitung Großbritanniens – zu wenig Drama, zu wenig Terror. Wäre der Flug nicht schon gebucht gewesen, wären die Reporterin und ihr Fotograf zu Hause geblieben. Doch jetzt sind sie hier und der Druck von der Chefredaktion in London ist groß, mit einer brauchbaren Story zurückzukommen. Also wird fieberhaft nach Drama und Terror gesucht. Und dann findet die Reporterin, wonach sie gesucht hat.

Am Montag titelt „Mail Online“:

EXCLUSIVE: How ISIS Bataclan attack influenced German heavy metal fanatic who killed two by ramming his van into a cafe in Münster

Der IS-Terroranschlag auf das Bataclan in Paris habe den fanatischen Heavy-Metal-Anhänger beeinflusst, der seinen Lieferwagen in das Café steuerte, steht da. Diese Behauptung ist allerdings so nicht richtig. Auch im Artikel finden sich fehlerhafte Schlussfolgerungen, Übertreibungen und falsche Angaben.

Woher ich das weiß? Ich war als sogenannte „Fixerin“ für das „Mail Online“-Team mit vor Ort. Journalisten holen sich bei Recherchen im Ausland oft lokale Unterstützung, die bei Übersetzungen und Interviewanfragen helfen. Ich arbeite selbst als freie Journalistin für deutsch- und englischsprachige Medien. Als eine britische Kollegin anfragte, ob ich Zeit und Lust hätte, „Mail Online“ in Münster als Fixerin zu unterstützen, sagte ich spontan zu. Ich half der Reporterin und dem Fotografen, sich in Münster zurecht zu finden und übersetzte, wenn nötig, bei Interviews von deutsch auf englisch. Redaktionell beteiligt war ich nicht.

Es war meine erste Zusammenarbeit mit „Mail Online“ und meine erste Tätigkeit als „Fixerin“. Es wird wahrscheinlich auch meine letzte sein. Nachdem ich den veröffentlichten Artikel gelesen und festgestellt habe, wie weit sich der Text teilweise von der Recherche entfernt hat, habe ich mich dazu entschlossen, auf mein Honorar zu verzichten und diesen Text zu schreiben.

Ich möchte hier rekonstruieren, wie die Reporterin zu ihrer IS-These kam. Einige Verschwörungstheoretiker haben den „Mail Online“-Artikel bereits auf Twitter gepostet – als Beweis dafür, dass hiesige Medien bestimmte Fakten ignorieren würden. Das ist eine Annahme, die man häufig vor allem in rechten Kreisen findet: Dass man eigentlich nur noch in der Auslandspresse liest, was in Deutschland wirklich passiert.

Die Berichterstattung über Katastrophen unterscheidet sich in Deutschland und Großbritannien in einem Aspekt sehr: Während in deutschen Medien in der Regel Wert auf Privatsphäre und Datenschutz gelegt wird, werden in britischen Zeitungen sowohl Täter als auch Opfer mit Vor- und Nachnamen genannt und auf Fotos gezeigt.

Nur mit persönlichen Details könne man das britische Publikum interessieren, erzählt die Reporterin, je intimer desto besser, und ohne Foto des Täters werde der Artikel über Münster erst gar nicht veröffentlicht. Es sei denn, sie findet wirklich pikante Informationen. Mit diesem Auftrag macht sie die Boulevardjournalistin auf, das Leben des Täters Jens R. zu durchleuchten.

Im Internet lässt sich so gut wie nichts über ihn finden, er ist nicht auf Facebook oder in anderen sozialen Netzwerken registriert, es gibt keine Fotos. Jens‘ Nachname lässt sich dagegen relativ einfach ausfindig machen, ebenso seine Adresse.

Vor seiner Wohnung stehen bereits etliche weitere Journalisten. Sie fotografieren die Polizisten, die den Hauseingang bewachen, und interviewen Nachbarn. Die „Mail Online“-Reporterin entdeckt drei Männer, die etwas abseits stehen und das Treiben beobachten. Sie wollen ihren Namen nicht in der Zeitung sehen, möchten aber gerne über Jens R. reden.

Zwanzig Minuten lang unterhält sich die Reporterin mit den Herren. Der Schock sei groß, dass einer aus ihrer eigenen Nachbarschaft zu so einer Tat fähig sei. Er sei immer freundlich, wenn auch zurückhaltend gewesen, erzählen sie.

Der älteste Herr in der Runde hatte von den dreien am meisten Kontakt zu Jens R., aber auch wenig. Small Talk hier und da, vor vielen Jahren waren sie gemeinsam auf einer Design-Ausstellung. Als der Nachbar gegenüber der Journalistin erwähnt, dass Jens R. viel auf Reisen war und auch ein paar Mal Konzerte im Bataclan-Theater in Paris besuchte, wird sie hellhörig. Jens R. sei auch einige Wochen vor dem 13. November 2015 im Bataclan gewesen, jenem Tag, als Angreifer das Konzerthaus mit Kalaschnikow-Sturmgewehren stürmten und 89 Menschen erschossen. Die Terrororganisation Islamischer Staat hat sich zu den Anschlag bekannt.

Die Reporterin hakt nach: „Würden Sie sagen, dass Jens R. von dem Anschlag fasziniert war?“ Der Nachbar schüttelt den Kopf: „Ich würde nicht sagen, dass er fasziniert davon war. Eher geschockt. Wie das halt so ist, wenn man kurz vor einem Attentat an dem Ort des Geschehens war.“ Aus diesem Statement wird später in dem Artikel die Aussage, dass Jens R. von dem Terrorangriff „schwer betroffen“ („badly affected“) gewesen sei und diese Beinah-Erfahrung ihn weiter begleitet habe.

Hinweise an die Reporterin, dass der Nachbar nicht das gesagt hat, was sie aus der Unterhaltung mitgenommen hat, ignoriert sie. Die Verlockung ist zu groß. Endlich hat sie etwas gefunden, dass der Story die nötige Würze verleiht. Aus den Bataclan-Besuchen schließt sie auch darauf, dass Jens R. Heavy-Metal-Fan gewesen sei. Als IS-Kämpfer das Konzerthaus in Paris angriffen, spielte die Rockband Eagles of Death Metal, die in der Berichterstattung nach dem Terrorangriff oft fälschlicherweise als Heavy-Metal-Band bezeichnet wurde. In dem Konzertsaal treten Bands verschiedener Genres auf. Welche Konzerte Jens R. im Bataclan besuchte, ist unklar. Der Nachbar äußerte sich dazu nicht.

Nach dem Gespräch mit den drei Herren, wovon sie zwei im Artikel zitiert, klingelt sie an der Haustür weiterer Nachbarn. Sie ist auf der Suche nach einem Foto von Jens R. Doch wenige Anwohner wollen mit den Medien reden, und noch weniger haben etwas über Jens R. zu sagen, geschweige denn ein Foto von ihm. Sie unterhält sich mit der Polizei, kontaktiert alte Studienkollegen von ihm via E-Mail und spricht jeden in Jens R.s Nachbarschaft an, der auf der Straße steht und das Polizeitreiben beobachtet. Sechs Stunden lang ist sie insgesamt unterwegs. Doch sie findet nichts Brauchbares heraus. Das Interview mit den drei Herren wird zum Kern ihrer Geschichte.

Die Reporterin ist etwas enttäuscht über die Rechercheergebnisse. Vielleicht schmückt sie deshalb ihren Text aus. Illegale Silvesterböller, die im Fahrzeug von Jens R. gefunden wurden, seien „als Fake-Bombe getarnt“ gewesen, schreibt sie. Von einer Bombenattrappe oder Fake-Bombe ist bei der Polizei allerdings nie die Rede. Polizisten hatten nach der Amokfahrt im Campingbus „mehrere Drähte, die zum Teil ins nicht einsehbare Fahrzeuginnere führten“ gesehen, heißt es in einer Pressemitteilung der Polizei Münster. Diese stellten sich später als sogenannte Polenböller heraus.

Sie schreibt, dass Nachbarn am Samstagabend eine Explosion gehört hätten, als schwer bewaffnete Polizisten Jens R.s Wohnung stürmten. Dass es sich dabei um die kontrollierte Sprengung der Wohnungstür durch die Polizei handelte, erwähnt sie nicht.

Die „Mail Online“-Reporterin weist in ihrem Text darauf hin, dass Jens R. nach Angaben der Behörden keinen islamistischen Hintergrund gehabt habe und seine Tat nicht politisch motiviert gewesen sei. Doch ihr Text lässt es zu, dass die Leser andere Rückschlüsse ziehen – schließlich erwähnt er eine unerklärte Explosion und eine falsche Bombe. Und macht den IS-Terrorangriff auf das Bataclan zum Aufhänger der ganzen Geschichte.

5 Kommentare

  1. Nach kurzem Besuch bei Wikipedia und der Webseite von Mail Online habe ich den Eindruck, das Medium rangiert irgendwo zwischen BILD und Freizeitwoche. Ich hoffe, „wird wahrscheinlich auch meine letzte sein“ bezieht sich auf die Zusammenarbeit mit Mail Online, nicht auf die „Fixerin“-Tätigkeit. Viel Glück, es gibt sicher auch seriösere Anfragen!

  2. Vielen Dank für diesen interessanten Insider-Einblick!
    Sehr imponierend, dass Sie sich entschieden haben, diese unsaubere Vorgangsweise aufzudecken, statt (indirekt) von ihr zu profitieren!
    Einem britischen Medium wird das zwar auf einem deutschen Medienblog (oder wie man Übermedien sonst nennen soll) recht egal sein, aber dennoch gut zu wissen.

  3. Für mich als Nicht-Journalist eine interessante Hintergrundberichterstattung. Zwei der Vorwürfe sind aus meiner Sicht jedoch etwas dürftig.
    Zum Beispiel, dass der Nachbar sagt: „geschockt“, aus dem dann im Text „schwer betroffen“ wird. Ich würd´ dies eher als legitime Umschreibung bewerten im Hinblick auf die englische Übersetzung.
    Die Sache mit den im Mail-online-Text beschriebenen, ins Fahrzeug führenden Drähte, welche als „Fake-Bombe“ beschrieben wurden. Wenn jemand Polenböller mit Drähten verbindet und das Ganze selbst für die Polizei gefährlich erscheint, kann man doch von einer Fakebombe sprechen, oder?
    Bleiben am Ende die üblichen miesen Boulevard-Recherche-Methoden.

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