Herxheim

Dorf kriegt ordentlich auf die „Hitlerglocke“

Die Idee, dass Medien in ihrer eher linksliberalen Großstadtprägung sämtlichen Kontakt zum angeblich „normalen“ Menschen auf dem Land verloren haben, hat sich nicht erst seit der Wahl Donald Trumps verbreitet. Ein Dorf und seine Kirchturmglocke haben in den vergangenen neun Monaten ein dazu passendes Schauspiel beschert, das am Ende nur Verlierer zu haben scheint. Es ist eine Mikrogeschichte, die zeigt, was passiert, wenn Stadt und Land, wenn akademisierter Diskurs und Stammtisch aufeinanderprallen.

Das Dorf ist Herxheim, ein Ort mit um die 700 Einwohnern, so klein also, dass er sich mit dem Zusatz „am Berg“ vom 50 Kilometer entfernten Herxheim bei Landau (Pfalz) abgrenzen muss. Seit der Herxheimer Kirchturm 1934 nach einem Brand neu errichtet werden musste, hängt dort eine Glocke, die (durchaus zeittypisch) mit einem Hakenkreuz und dem Schriftzug „Alles fuer’s Vaterland. Adolf Hitler“ versehen wurde, die wiederum seit den 1950er Jahren abgestimmt ist mit zwei weiteren, unpolitischen Glocken.

Dass dies nun eine Geschichte für Medien in der ganzen Welt geworden ist, hat viel mit dem Konflikt zwischen Stadt und Land, zwischen Bildungsständen und Selbstverständnissen zu tun, die aufeinandergeprallt sind. Derweil hat, zum Beispiel, die BBC über die „hitler bell“ berichtet; auch Trevor Noah widmete sich in der „Daily Show“ der „Fuhrer Friendly Church“.


Die Aufregung begann damit, dass sich eine Bürgerin bei der Lokalzeitung meldete. Sigrid Peters, pensionierte Lehrerin aus dem Nachbardorf, war empört: Sie hatte von der Aufschrift der Glocke erfahren, aber vom Pfarrer der Gemeinde keine ihr ausreichende Erklärung bekommen. Also schickte sie im Mai 2017 eine E-Mail an „Die Rheinpfalz“, die daraus ein vorbildliches Stück Lokaljournalismus machte. Überschrift: „Hochzeit unter der Hitler-Glocke“.

Internetseite der "Rheinpfalz" mit einem Foto der "Hitlerglocke"

In dem Artikel ließ das Lokalblatt alle Seiten zu Wort kommen, Lehrerin wie Bürgermeister und Pfarrer, es bettete die lokale Begebenheit in den deutschlandweiten Kontext des Wehrmachtgedenkens ein, erläuterte Handlungsoptionen und endete gar mit dem konstruktiven Aufruf an Geschichtsinteressierte, sich mit dem Ortshistoriker Eric Hass in Verbindung zu setzen.

Im Prinzip hätte die Gemeinde die Angelegenheit in diesem Moment befrieden können, indem sie den Historiker oder gar mit dem Thema befasste Universitätsprofessoren beauftragt hätte, eine Gedenktafel am oder im Turm anbringen zu lassen. Das allerdings lässt sich im Nachhinein leicht sagen – der damalige Bürgermeister Ronald Becker (Freie Wähler) jedenfalls hielt das Thema, das in Herxheim nie eines gewesen war, für irrelevant. Eine Gedenktafel sei jedenfalls nicht nötig.

Dass das Thema jedoch nicht erledigt war, konnten die Herxheimer bald daran erkennen, dass sich die „Landesschau Rheinland-Pfalz“ des SWR einschaltete und den Direktor der Evangelischen Akademie Rheinland-Pfalz prophetisch mit „Die Herxheimer haben noch einiges vor sich“ zitierte – und so kam es dann auch.

Und dann kam mit „Kontraste“ die Stadt ins Dorf

Wenig später wurde die Glockengeschichte bundesweit von Onlinemedien aufgegriffen, von „Focus Online“, „Express“ („Irrer Streit um Hitler!“) und sogar „bento“, wo man allerdings bloß zusammenfasste, was andere schon recherchiert hatten, während das Kölner „Domradio“ ausgewogen kontextualisierte und klar dafür plädierte, eine Plakette anzubringen. Der Gemeinderat hingegen reagierte mit Wagenburgmentalität und beschloss, den Kirchturm erst einmal geschlossen zu halten.

Einen sehr kurzen Sommer lang konnten die Herxheimer hoffen, die Angelegenheit tatsächlich ausgesessen zu haben. Ein anonymer Spender hatte den Bürgermeister inzwischen überzeugt, dass eine würdevolle Gedenktafel eine gute Idee wäre; und der Gemeinderat hatte ein Gutachten bei einer Glockensachverständigen in Auftrag gegeben, das er noch abwarten wollte. Aber dann kam ein Kamerateam der Sendung „Kontraste“ und damit die Stadt ins Dorf.

Es gab viele Momente, in denen die Gemeinde alles hätte beenden können, aber mit der Reportage des ARD-Politmagazins Ende August bekam der Streit um die Hitlerglocke eine Dynamik, der das Dorf nicht gewachsen sein konnte.

Mann mit grauen Haaren und rötlichem Hemd steht im Glockenturm der örtlichen Kirche

Über den gesendeten Bericht gibt es zwei grundverschiedene Versionen: Bürgermeister Becker sagt, seine ausgestrahlten Aussagen seien „sinnentstellend“ geschnitten worden. Er habe nur zitiert, was ihm Herxheims älteste Bürgerin, eine 95-jährige NS-Zeitzeugin, gesagt habe. Das sei im Bericht aber dann „nicht erkennbar gewesen“.

Reinhold Borgmann, damals „Kontraste“-Redaktionsleiter, dementiert den Vorwurf. Dem Evangelischen Pressedienst sagte er, Beckers Aussagen, von denen der sich inzwischen distanziert hat, seien keinesfalls ein Nachzitieren von Äußerungen Dritter.

Fest steht, dass von Becker so Sätze gesendet wurden wie:

„Ich glaub, drei Stück gibt es in der ganzen Bundesrepublik, die diese Aufschrift tragen. Von daher, kann man da nur stolz sein, sowas zu haben. (…) Ich würde sagen, wir sind stolz, eine Glocke mit solcher Inschrift zu haben. Diese Glocke jetzt als ‚Hitlerglocke‘ zu bezeichnen, das ist immer so negativ.“

oder

„Wenn man den Namen Adolf Hitler nennt, dann ist gleich die Judenverfolgung und die Kriegszeiten als erstes oben auf. Wenn man über so eine Sache berichtet, sollte man umfangreich berichten, dass man sagt, das waren Greueltaten, und das waren auch Sachen, die er in die Wege geleitet hat und die wir heute noch benutzen.“

Dazu lächelte Becker in traumhafter pfälzischer Naturkulisse so freundlich in die Kamera, dass man fast vergessen konnte, was er da gerade gesagt hatte, und was sich mit Äußerungen von Dorfbewohnern deckte. Ein Mann, zum Beispiel, der die NS-Zeit in Herxheim als Kind miterlebt habe, sagt in die „Kontraste“-Kamera:

„Es war nicht alles schlecht. Ich will nicht sagen, wir bräuchten heute noch mal einen Adolf Hitler, das braucht man nich mehr, aber es war nicht alles schlecht, was Adolf Hitler gemacht hat. (…) Als der Hitler an die Macht kam, wurden die Leute beschäftigt, die Autobahnen wurden gebaut, es gab keine Arbeitslosigkeit mehr, die Leute waren zufrieden.“

Das alles wollte so gar nicht zum medialen Selbstbild der vergangenheitsbewältigten Bundesrepublik passen. Ob Arbeit für alle, Familienpolitik oder neue Autobahnen: Was in Hauptstadtredaktionen und Universitäten höchstens als bitterer Witz durchgehen würde, war in Herxheim offenbar in allem Ernst sagbar geblieben. Und so verschob sich der Fokus von der Hitlerglocke, die alles ausgelöst hatte, auf das, was die Menschen dort auf dem Dorf so insgesamt denken.

Donnerstags der Fernsehbericht, am Mittwoch der Rücktritt

Das spürte natürlich auch die Herxheimer Lokalpolitik, und so folgte auf den Donnerstag, an dem „Kontraste“ sendete, gleich am Montag die Rücktrittsforderung aus dem Gemeinderat. Zwei Tage später trat der Bürgermeister zurück. Innerhalb von sechs Tagen hatte also, so sahen das offenbar viele Herxheimer, der Rundfunk Berlin Brandenburg, der „Kontraste“ produziert, ihren überaus beliebten Bürgermeister abgesägt. Aus eher spöttischen Blicken der fürs Fernsehen interviewten Bürger wurden bitterlich genervte Gesichter.

In diesem Moment war die letzte Möglichkeit verstrichen, die Glocke in Frieden abzuhängen. Selbst als das Hauptargument der Gegner, die enormen Kosten, dadurch entkräftet wurde, dass die evangelische Landeskirche einen Fonds einrichtete, stand diese Option in keiner Verlautbarung aus dem Dorf mehr zur Debatte. Der Fall war nun emotional derart aufgeladen, dass an rationales Handeln nicht mehr zu denken war.

Eigentlich war an dieser Stelle überhaupt nicht mehr zu diskutieren: In einer Kirche läutet mehrmals täglich eine Glocke, die den Nationalsozialismus verherrlicht. Jemand erklärt sich bereit, den Austausch der Glocke zu finanzieren. Dagegen sachliche Argumente zu finden, ist schwierig – es sei denn, man findet Gefallen an einer Glocke, die den Nationalsozialismus verherrlicht.


Ist Herxheim am Berg also ein lange Jahre übersehenes westdeutsches Zentrum des Neofaschismus? Dagegen spricht, dass an einer von der NPD organisierten Demo für die Glocke lediglich 16 Menschen teilnahmen, während mehr als 200 zwar für die Glocke, aber gegen rechte Vereinnahmung demonstrierten. Tatsächlich befassten sich die dort gezeigten Transparente weder mit Nationalsozialismus noch mit der Glocke des Anstoßes, sondern mit dem medialen Bild des Ortes:

„Wir sind Opfer von Pauschalisierungen“ stand darauf. Oder: „Objektive Berichterstattung statt alternativer Fakten!“ Und nicht zuletzt: „Wer hat uns die ‚Rechte Szene‘ ins Dorf gebracht?“

Ein trotziger Kampf gegen als unfair empfundene Medien

Herxheim, so wurde deutlich, wollte eigentlich nur: seine Ruhe. Das war auch der Tenor einer Straßenumfrage, die „Kontraste“ ebenfalls gesendet hatte: Verschont uns bloß mit dem alten Kram! „Was kann die Glock‘ dafür“, fragt dort ein älterer Mann. Eine Frau schimpft: „Wegen der’e scheiß Glock‘, des is‘ doch G’schichte!“ Und ein weiterer Mann sagt, ihn störe das nicht, er habe die Zeit vergessen: „Das ist 70 Jahre her und für mich kein Problem.“

Weil aus der Dorfperspektive die Glocke 72 Nachkriegsjahre lang unbehelligt läutete, musste die Aufregung also von Medien verschuldet worden sein. Die vom Ex-Bürgermeister kolportierte Manipulation seines Interviews passte da nur ins Bild, trotz Widerspruchs der Redaktion. Und aus einem Konflikt um den Umgang mit einem NS-Überrest war ein von Trotz bestimmter Kampf gegen als unfair empfundene Medien geworden.

Kamermann, Tonassistent und Reporerin befragen eine Frau in ihrem Vorgarten
Auf Stimmenfang: „Kontraste“-Kamerateam

Dieser Eindruck verstärkte sich im Januar umso mehr, als dass „Kontraste“ wieder nach Herxheim kam und weiter berichtete – mit unveränderter Stoßrichtung. Eine veränderte Tonalität wäre auch kaum möglich gewesen, schließlich fand man sofort einen Dorfbewohner, der in die Kamera sagte:

„Woher kommt ihr genau? ARD? Na, dann habt ihr was mit den Juden zu tun, nicht?“

Anschließend regt auch er sich, wie eine andere Frau im Beitrag, darüber auf, dass die Glocke mehr als 70 Jahre lang niemanden gestört habe, aber „nun kommt ihr alle hierher… die Glocke muss weg… was soll das?“

Der zuvor gewählte neue Bürgermeister, der pensionierte Dorfpfarrer Georg Welker, war hingegen deutlich abwägender und um eine ruhige und bedachte Stimme bemüht. Wie er später betonte, dauerte das Gespräch mit „Kontraste“ gut zwei Stunden, und da rutschte dem Pfarrer eine entscheidende Äußerung heraus, ein „Halbsatz“, wie Welker sagt, den „Kontraste“ sogar als Pressemitteilung verbreitete:

„Ich sage nur: Ich höre die Opfer, das waren auch deutsche Bürger, also nicht nur die jüdischen.“

Ein solcher Satz spricht den jüdischen Opfern der NS-Verfolgung ihr Deutschsein ab. Natürlich bleibt dem Zentralrat der Juden, von „Kontraste“ um einen Kommentar gebeten, gar nichts anderes übrig, als das zu verurteilen. Die Frage bleibt aber, ob man einem sichtlich nervösen Dorfbürgermeister bundesweit anlasten muss, nicht „nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft“ gesagt zu haben, was auch die meisten Geschichtsstudierenden im ersten Semester noch nicht draufhaben.


Am 26. Februar hat der Gemeinderat nun beschlossen, die Glocke hängen zu lassen und eine Gedenktafel zu errichten. Jedes Jahr sollen zudem in Herxheim am Berg Gedenkveranstaltungen, Vorträge und Ausstellungen an die Gewalt und das Unrecht im Nationalsozialismus erinnern.

Gemeindesaal voll mit Menschen an Tischen, vor Kopf steht ein älterer Mann und redet
Auch die „Tagesthemen“ kamen zur Entscheidung

Rund 80 Menschen, darunter auch viele Journalisten, waren ins Dorfgemeinschaftshaus gekommen, in das sich sonst neben den 13 Ratsmitgliedern höchstens eine Handvoll Zuhörer verirren. Die „Tagesthemen“ berichteten über die Entscheidung, ebenso überregionale Presse und einige Radiosender.

Eric Hass, der Ortshistoriker, möchte nicht mehr zum Thema interviewt werden. Er begründet das dafür auf Anfrage von Übermedien umso ausführlicher: Viele Medien hätten einseitig in Richtung Beseitigung der Glocke berichtet und dafür Zitate aus dem Zusammenhang gerissen und unbescholtene Leute in schlechtem Licht dargestellt. Von seiner Seite sei dazu ohnehin alles gesagt, und weitere Stellungnahmen wären der Hoffnung im Dorf nicht förderlich, nun endlich ein Ende der Glocken-Diskussion erreicht zu haben.

Die übrigen Beteiligten sind noch verschwiegener: Weder der ehemalige noch der amtierende Bürgermeister waren für eine Stellungnahme zu erreichen. Herxheim am Berg, das nun weltbekannte Dorf in der Pfalz, möchte offenbar nur noch in Ruhe gelassen werden. Der Kirchturm bleibt verschlossen, und zu den ersten Gedenkveranstaltungen werden sicher deutlich weniger Medienvertreter kommen.

Die, die Herxheim am Berg dann besuchen, dürften sich allerdings über eine Außenansicht der Kirche wundern: Direkt unterm Dach hat ebenfalls in den 1930er Jahren ein Maurer ein Hakenkreuz in den Stein gemeißelt, offen sichtbar. Dieses Hakenkreuz war bisher nicht Teil der großen Herxheim-Debatte, aber immerhin die Schlusspointe im „Tagesthemen“-Beitrag zur Entscheidung des Gemeinderats. Wer weiß, was da noch nachkommt.


Nachtrag, 5.3.2018. Es wird doch noch nicht ruhig in Herxheim am Berg: Die Abstimmung über den Verbleib der Glocke muss wegen eines Formfehlers wiederholt werden, berichtet der SWR. Als Termin ist der 12.3.2018 angesetzt. Außerdem will die Evangelische Kirche „auf juristischem Weg“ klären lassen, wer der Eigentümer des Kirchturms ist. Wunsch der Landeskirche sei es, dass die Glocke doch abgehängt wird.

23 Kommentare

  1. Schließe mich dem Vorredner an! Zum Ortshistoriker muss ich allerings feststellen: für viele der zitierten Aussagen fällt mir kein Kontext ein, der diese auch nur ansatzweise erträglich machen würde. Gruselig.

  2. Schöner sachlicher Beitrag, vielen Dank!

    Dass manche Fernsehredaktionen, allen voran die Magazine, eine ausgeprägt boulevardistische Ader haben, ist immer wieder bedauerlich. Anstatt zu versuchen, den Leuten vor Ort und deren Einstellungen halbwegs gerecht zu werden, schnitzt man lieber mit grobem Werkzeug. Anstatt auch schon mal kleine Leute vor sich selbst zu schützen, ist man sogar noch stolz darauf, die TV-Magazin-kompatible, angebliche Realität mit fetten Scheinwerfern grell ausgeleuchtet zu haben.

    Und da sind einige Politmagazin-Reporter der ÖR prinzipiell auch nicht viel besser als die Blaulicht-Kollegen. Wo sie einmal waren, bleibt verbrannte Erde zurück.

  3. Danke für den erweiterten Hintergrund mancher Äußerungen der Dorfpolitiker. Wobei der Ex-Bürgermeister immer noch ein formidabler Depp bleibt.
    Aber für alle die hier gleich aufschlagen werden, um ÖR-Magazine zu dissen und infolgedessen die Abschaffung des ganzen ÖR zu fordern, die Frage: Glaubt ihr wirklich, bei einem rein kommerziellen TV a la Frühstücksfernsehen mit Claus „Reichelt“ Schulz würdet ihr nicht nur passende Soundbites präsentiert bekommen, vom völligen Fehlen investigativer Politmagazine im Programm ganz abgesehen?
    Rhetorische Frage, ich weiß ihr bevorzugt Deppenfernsehen wie Fox-News, hilft eurer Agenda.

  4. @Schnellinger

    Wollen Sie nicht erst einmal warten, bis hier jemand die Abschaffung des ganzen ÖR fordert, bevor Sie ihr komplettes rhetorisches Arsenal zum Einsatz bringen? Und wen meinen Sie eigentlich mit „ihr“?

  5. Als Berliner der vor kurzem in die Pfalz zog um genau die von den Dorfbewohnern beschriebene Ruhe zu suchen kann ich nur sagen: Dieser Artikel bestätigt mich in meiner Entscheidung hierher zu ziehen. Hoffentlich kommen die nicht als nächstes in mein neues Heimatdorf. (Obwohl nicht an mir vorbei ging dass auf dem Wikipedia Artikel unter „berühmte Persönlichkeiten“ 25% SS sturmanführer genannt wurden, dass muss man als Städter einfach verdrängen :D)

  6. Eine nichtöffentliche Glocke verherrlicht den Nationalsozialismus?

    Ich fand die mediale Aufregung und das allgemein recht boulevardeske Empören vieler Berichterstatter doch ziemlich daneben und der Aufklärung und Aufarbeitung der Sache nicht im mindesten dienlich. Insofern danke ich Übermedien für diese unaufgeregte Einordnung. Aber das mit der Verherrlichung verstehe ich beim besten Willen nicht. Wie soll sie das tun, die olle vollgekackte Glocke, und täte sie es denn auch, wenn ohne die empörte Leserbriefschreiberin, die nicht zur Glocke durfte wie zu dieser Zeit auch alle anderen, die Glocke ihr meist sehr stilles Dasein gefristet hätte. Nun muss sich ein ganzes Dorf weltöffentlich positionieren und entlarvungslüsternen Journalisten in die Mikros sprechen, gern stundenlang, um dann einen Halbsatz, eine dumme Äußerung oder die alltägliche unbedarfte Ewiggestrigkeit maßlos aufzubauschen. Und nun steht da eine Gedenktafel (ich weiß gar nicht, wem oder was die Tafel gedenken soll), es gibt jetzt natürlich jährliche Erinnerungsveranstaltungen. Nur interessiert sich dafür offenbar gar niemand (mehr) im Ort und beidem dürfte nun die selbe Aufmerksamkeit zuteil werden wie ehedem der ollen Glocke: keine. (Nur zur Klarstellung: Dass die Glocke oder zumindest ihre kritikwürdigen Insignien nun irgendwie weg müssen oder sich wenigstens ein allseits würdiger Umgang damit einstellen muss, versteht sich von selbst.)

    Das hat alles was von „Wir sind die Guten“ – und Ihr die Opfer unserer selbstverliebten und über den Dingen stehenden Scheinherrlichkeit. Dabei geht mir diese unselige Gutmenschenfloskel durch den Kopf. Wenn ich jetzt verrate, dass in meiner Wohnung ein philatelistischer Sammelband randvoll mit verherrlichenden Frankier-Hakenkreuzen herumliegt, unbeachtet und eingestaubt, der Öffentlichkeit unzugänglich in einem 150-Seelen-Dorf im flachen Norden, nebst einiger weiterer ‚Devotionalien‘ aus der langen und dunklen Geschichte Deutschlands…

  7. Wer aus einem Kaff kommt (wie ich) kennt das doch alles nur zur Genüge.
    Da ist man dann auch schon mal ne Zecke, wenn man an Karneval nicht das Host-Wessel-Lied mitsingt (nachts um 4 in Huber Willis Kneipe) – Echt passiert vor ca. 10 Jahren.
    Ich will hier auch niemandem etwas unterstellen, aber es muss ja nicht zwangsläufig falsch sein, wenn jemand von außen einem mal den Spiegel vorhält. Tut halt weh, wenn man merkt, dass die Verteidigung einer Hitler-Glocke in 2018 schon irgendwie was mit Nazi-Beschönigung zu tun hat.
    Daraus den Schluss zu ziehen, dass derjenige, der den Spiegel hochhält dies nur tut um zu „diffamieren“, statt eine real existierendes Problem aufzuzeigen, ist halt einfacher und im 700 Seelen Kaff dann sicher auch wieder konsensfähig. So muss man sich auch garnicht mehr fragen, ob tatsächlich ein Problem existiert. Man reduziert das auf ein: Die sagen wir sind Nazis, sind wir nicht, also sind die die Bösen!

    Gleiches passiert natürlich auch auf der anderen Seite. Ein paar sehr selbst- und geschichtsbewusste Menschen mit Mikros reisen an mit der Prämisse „Wir brauchen knallige O-Töne!“ (weil wir vom Verkauf unserer Storys leben). Dann wird so lange interviewt, bis man 2 Aufreger für irgendein Boulevard-Magazin hat (nein, Private machen es da sicher nicht besser als der ÖR!) und hat dann Wochenende (Privat ist man nicht betroffen, nur beruflich). Ob dann vielleicht der Dorfpfarrer in einem kleinen Nebensatz darauf verweist, dass es sich bei dem gesagten um ein Zitat einer Drittperson handelt, ja nu, das kann man auch mal vergessen, wenn man wieder zurück in Berlin (oder Stuttgart) ist und keine Notizen gemacht hat. Musser halt mit leben, sollen sich nicht so aufregen.
    Dann fährt man da nochmal hin und plötzlich hat sich die Stimmung in Feindlichkeit gegenüber den journalisten geändert. Der Verdacht, man habe hier ein Nazidorf straght outta 1943 aufgespürt, kommt auf – Und verkauft sich natürlich noch einmal besser.
    Nazis sind böse, die da verteidigen die Nazis, also auch böse.

    Dieser Artikel hier gefällt mir immer besser, je öfter ich ihn lese, weil er aus der Debatte keine ideologisch aufgeladene und irgendwie künstliche „links-rechts“ Diskussion macht, sondern das real existierende Problem der Diskrepanz zwischen Land- und Stadtvolk beschreibt.

    Außerdem finde ich, dass sich die ganze Posse schon allein wegen der Überschrift „Irrer Streit um Hitler!“ gelohnt hat.

  8. @Anderer Max: Danke für Ihren Kommentar, so brauche ich als ebenfalls Dorfkind nicht selber was mit ähnlichem Tenor schreiben.

    Mir tut das Dorf, in das plötzlich ein medialer Tornado hereinbricht, irgendwie leid. Andererseits muss man auch ein Stück weit sagen: selber schuld. Selbst in einem 700-Einwohner-Kaff hätte schon längst mal jemand von sich aus auf die Idee kommen können, dass Hitlerglocken und Hakenkreuzziegel ins Museum gehören, aber nicht in den Kirchturm. Vielleicht nicht Herr Kneipenwirt Müller oder Frau Kittelschürze Meier, aber ein Ortschronist, ein Bürgermeister oder ein Pfarrer wohl schon. Ich meine, Gottesdienste und Hochzeiten, zu denen eine Hitlerglocke ruft, und niemand stört sich dran? Nee, das geht im 21. Jahrhundert auch in Kleinkleckersheim nicht mehr.

    Mein Heimatdorf liegt im Osten, da ist die Mentalität nicht anders, höchstens noch schlimmer. (Ich lieb’s trotzdem und wünsche ihm, von Tornados aller Art verschont zu bleiben.) Derartige Relikte gibt es dort aber wohl schon deshalb nicht, weil man sowas ’45 aus schlichter Angst abgehängt, zerstört, ausgemeißelt, was auch immer hätte. Oder um es in anderer Diktion zu sagen: Unterm Stalin war nicht alles schlecht! ;-)

  9. Zum Nachtrag, 5.3.2018. „Wunsch der Landeskirche sei es, dass die Glocke doch abgehängt wird.“
    Oh je, das wird ja immer doller!
    Ein halbwegs pragmatisch begabter Bürgermeister, hätte das Teil aus allen Bilckwinkeln fotografiert, die Fotos im Dorfarchiv deponiert und einen Metallbearbeiter beauftragt, über die Inschrift einen Ring und über das Hakenkreuz eine Platte zu schweißen. Man hätte ihn deshalb wohl kaum wegen „Sachbeschädigung“ verdonnert und dem Klang dieses Glöckchens hätte es vermutlich auch nicht geschadet.

  10. „Derartige Relikte gibt es dort aber wohl schon deshalb nicht, weil man sowas ’45 aus schlichter Angst abgehängt, zerstört, ausgemeißelt, was auch immer hätte.“

    Weil man den Stahl für die Reparationszahlungen an die Sowjetunion brauchte. Die anderen Alliierten haben das mit den Reparationen lässiger gesehen.

  11. @11 Earendil
    „Selbst in einem 700-Einwohner-Kaff hätte schon längst mal jemand von sich aus auf die Idee kommen können, dass Hitlerglocken und Hakenkreuzziegel ins Museum gehören, aber nicht in den Kirchturm.“

    Also, die ganze Geschichte kam nur ins Rollen weil jemand aus dem Dorf, die Organistin der Kirche von sich aus auf die Idee kam damit mal an die Öffentlichkeit zu gehen.

  12. @Stefan Pannor / #13: Ja, oder das. (Wobei ich nicht weiß, ob tatsächlich Glocken als Reparationsleistungen eingezogen wurden.)

    @Schnellinger / #14: Die ist aus dem Nachbardorf, das zählt nicht. ;-)

  13. @ 11 Earendil
    Vielleicht bin ich da zu sehr Schwabe, aber auch ich finde, dass eine funktionstüchtige Glocke, die weit weg von öffentlichen Blicken ihren Dienst verrichtet, hängen bleiben soll, wo sie ist. Über ihre Geschichte aufzuklären, im örtlichen Museum oder eben über eine Gedenktafel, das reicht doch. Schließlich ist die Glocke ja nach wie vor nur eine Glocke – dass die Inschrift einen faschistischen Führer aus ferner Vergangenheit verherrlicht, dafür kann sie ja nix.
    @12 B. Hellwig „… und dem Klang dieses Glöckchens hätte es vermutlich auch nicht geschadet.“ Wenn Sie sich da mal nicht irren – Kirchenglocken sind sauteuer und kleine Risse bzw. Veränderungen der Oberfläche haben gravierende Auswirkungen auf den Ton!
    @Moritz Hoffmann & uebermedien: Danke, danke, danke! Wie immer ein Vergnügen zu lesen. Außerdem fühle ich mich jetzt darin bestätigt, in den drei Momenten in meinem Journalistenleben, in denen ich das Gefühl hatte, Menschen aufgrund ihrer Äußerungen vor sich selbst schützen zu müssen, das Richtige getan zu haben.

  14. Statt die Glocke als Anlass zu nehmen, die Rolle der evangelischen Kirche zu jener Zeit kritisch zu beleuchten und aufzuarbeiten, offenbaren beide Seiten ein immer stärker werdendes Kommunikationdefizit.

    Mich erschrickt vor allem das mangelnde Geschichtsbewusstsein der beteiligten Akteure.

  15. @MH: unaufgeregt, umfassend – danke, super
    @Earendil: unter Stalin… – ein Highlight, danke
    @Maria Decker: Kann man jetzt noch die Glocke hören und nicht an den Führer denken? Und: Was sind Kirchen, wenn nicht Symbole?

  16. Hallo, eins vorweg: Ich bin Autor bei Kontraste, an den betreffenden Beiträgen zwar nicht direkt beteiligt gewesen, fühle mich aber dennoch bemüßigt, zu ein paar Punkten Stellung zu nehmen.
    Lustig, wie hier einige Leute mehr Sachlichkeit und Differenzierung und genaueres Hinsehen einfordern, in ihren Urteilen über die angebliche Vorgehensweise öffentlich-rechtlicher Reporter aber wirklich die billigsten Vorurteile und Klischees wiederkäuen (die müssen ihre Geschichten verkaufen, genau wie die vom Boulevard), ohne auch nur den geringsten internen Einblick zu haben. Das alles gepaart mit der seltsam paternalistischen Vorstellung, man müsse als Reporter „die einfachen Leute vor sich selbst schützen“, anscheinend sind die Dörfler nicht so ganz zurechnungsfähig und so eine Hitler-Lobpreisung und ein bisschen Antisemitismus kann ja jedem Mal rausrutschen und überhaupt wollen die Armen doch nur in Ruhe gelassen werden. Alles, was es in diesem Land an Vergangenheitsbewältigung und Auseinandersetzung mit dem Faschismus gegeben hat, ist genau diesem Ruhebedürfnis und diesem Nichts-Hören-Wollen abgetrotzt worden, insbesondere was die Verstrickung der ganz normalen Bürger und der „einfachen Leute“ angeht. Und das ist auf dem Land nicht anders, das weiß jeder, der sich schon mal lokalgeschichtlich mit dem NS-Erbe befasst und ein paar unbequeme Fragen gestellt hat.
    Kontraste ist nicht mit einer bestimmten Zielsetzung nach Herxheim gefahren, insbesondere wurde nie die Forderung erhoben, die Glocke abzuhängen. Wir waren aber in der Redaktion irritiert, warum die nahe liegende Lösung – eine Gedenktafel mit historischer Einordnung – selbst nach monatelanger Debatte nicht durchzusetzen war. Wir wollten uns das genauer ansehen, und was die Kolleginnen aus Herxheim dann an Statements zurückgebracht haben, hat – zumindest mich – einigermaßen schockiert. Der Gedanke sei erlaubt: Wenn die Leute vor einer ARD-Kamera schon so reden, was sagen die dann erst, wenn sie unter sich sind? Dass der Autor des Artikels hier die falsche, durchschaubare und so oft gehörte Ausrede des Ex-Bürgermeisters, seine Aussagen seien aus dem Kontext gerissen worden, als eine Version der Wahrheit darstellt – nun gut, muss er wissen, ob das nun der viel beschworenen Objektivität entspricht oder nicht doch eher die Tatsachen verschleiert. Natürlich ist Herxheim kein „lange Jahre übersehenes westdeutsches Zentrum des Neofaschismus“. Das ist ja das Schlimme: Es ist ein ganz normales Dorf mitten in Deutschland, und die Auffassungen, die dort von Entscheidungsträgern und Teilen der Bevölkerung geäußert wurden, entsprechen eben dem, was man in Deutschland 2018 so sagt, wenn man der ARD-Reporterin mal die Meinung geigt.

  17. Hmmm, sind jetzt eigentlich alle Hochzeiten, bei denen diese Glocke läutete, ungültig? Oder werden die Kinder später alles Nazis?
    Fragen über Fragen.

    Das Kostenargument ist mMn nicht zu verachten; eine Tafel unten am Kircheneingang ist mMn die bessere Lösung.
    Und Meißeleien kann man überputzen oder sonstwie ändern; kostet auch Geld, aber vermutlich nichts fünfstelliges.

  18. Doch, das Kostenargument ist zu verachten. Zumal:

    Selbst als das Hauptargument der Gegner, die enormen Kosten, dadurch entkräftet wurde, dass die evangelische Landeskirche einen Fonds einrichtete

    Solange das Ding dort hängt, wird Herxheim das Dorf sein, in dem eine Hitlerglocke zum Gottensdienst ruft.

  19. Nicht oft, aber diesmal bin ich Mycroft’s Meinung. Das Geld kann im Haushalt des Dorfes anderweitig sicher sinnvoller eingesetzt werden.
    Vom Schall einer Glocke, auf der Hitler steht wird auch niemad zum Nazi. Den wissenschaftlichen Zusammenhang müsste man noch beweisen.

    Generell …. Niemand bestreitet (auch die Herxheimer in dem Beitrag) dass die Nazizeit scheiße war.
    Was ich betreiten möchte ist die Relevanz des Faktes, dass diese Glocke dort noch hängt „in Deutschland 2018“.

    Man muss dem Dorf noch lange kein „Ruhebedürfnis“ und „Nichts-Hören-Wollen“ unterstellen, nur weil einge Dörfler die Diskussion um die Glocke für, naja, relativ irrelevant halten.

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