Blinder Fleck

Wie Berliner Journalisten sich und Martin Schulz überschätzten

Warum haben viele Medien den SPD-Politiker Martin Schulz lange Zeit überschätzt? Es liegt an der „deutschen Brille“ vieler Parlamentskorrespondenten. Aber auch die EU-Berichterstatter haben ein Problem.

Es ist ruhig geworden um Martin Schulz. Seit seinem plötzlichen Abgang als SPD-Vorsitzender hört man kaum noch etwas von ihm. Die deutschen Medien, die Schulz in kürzester Zeit zum Mega-Star hochgeschrieben hatten, lassen ihn nun genauso schnell wieder fallen.

Allenfalls findet man noch hämische Nachrufe, die behaupten, mit seiner europäischen Laufbahn sei Schulz von vornherein chancenlos gewesen. In der Brüsseler Konsenskultur könne auch ein Nobody schnell zum Star aufsteigen, so die These. Im Berliner Haifischbecken hingegen erweise sich die wahre Größe.

In der Bundespolitik geht es zuallererst um die Macht, erst dann um die Sache, schreibt Cerstin Gammelin in der „Süddeutschen Zeitung“. Deshalb sei Schulz durch seine europäische Sozialisation gehandicapt gewesen. Noch weiter geht Ulrike Guérot in „Politico“. Schulz sei zum Scheitern verdammt gewesen, denn seine EU-Erfahrungen seien in Berlin schlicht wertlos.

Martin Schulz 2014 im Europaparlament Foto: Ralf Roletschek CC-BY

Beide Thesen halten einer näheren Prüfung kaum stand. Schließlich geht es auch in Brüssel um Macht; als Präsident des Europaparlaments führte Schulz eine GroKo nach Berliner Muster. Zudem nahm er als Europabeauftragter der SPD an den Sitzungen des Parteivorstands in Berlin teil. Auch so partizipierte er an den deutschen Machtspielen – und das schon seit Jahren.

Doch selbst wenn man annimmt, dass Brüssel in der Regionalliga spielt und Berlin in der Bundesliga, so stellt sich doch die Frage, welche Rolle die deutschen Medien beim Aufstieg in die Oberklasse gespielt haben. Haben sie versucht, ihren Lesern den Europäer Schulz vorzustellen? Haben sie die Berichte ihrer Kollegen aus Brüssel gelesen und ihre Erfahrungen aufgegriffen?

Wenn ja, dann hätten sie wissen müssen, dass Schulz schon als EU-Präsident alles andere als mega war. Er hat die Europawahl 2014 verloren, obwohl er als Spitzenkandidat antrat. Damit hat er sein erstes Ziel – die EU-Kommission zu führen – klar verfehlt. Danach wollte er deutscher EU-Kommissar werden – und scheiterte an Kanzlerin Angela Merkel.

Selbst sein Wechsel nach Berlin war nur zweite Wahl. Am liebsten wäre Schulz nämlich Chef des Europaparlaments geblieben. Doch dafür hätte er sein Wort brechen müssen, das er der konservativen EVP-Fraktion gegeben hatte. Ein Problem schien dies nicht zu sein; wochenlang hielt er Freund und Feind über seine Absichten im Unklaren.

Eine „überdurchschnittlich fröhliche Bereitschaft zur Unaufrichtigkeit“ bescheinigt ihm daher „Stern“-Reporter Martin Tillack. Schulz habe schon in seiner Brüsseler Zeit Erwartungen geweckt, die er hinterher nicht erfüllen könne, schreibt auch Gammelin. All dies hätte also bekannt sein können, als er in Berlin eintraf.

Doch die meisten Hauptstadt-Journalisten taten so, als würde Schulz bei Null beginnen. Sie sahen in ihm, was sie sehen wollten – und ignorierten die Erfahrungen der EU-Kollegen. Dass Schulz sein europäisches Vorleben komplett ausblendete, wurde offenbar als willkommene Gelegenheit gesehen, Tabula rasa zu machen – und sein Porträt fürs deutsche Publikum völlig neu zu schreiben.

So entstanden die Geschichten vom authentischen, leidenschaftlichen Obergenossen, der die Glaubwürdigkeit in Person sei. Schulz heizte den Hype mit emotionalen Geschichten über den gescheiterten Fußballer und den geläuterten Alkoholiker an. Diese Aspekte seiner Biographie hatte er auch schon vor der Europawahl in Brüssel herausgestellt.

Die EU-Korrespondenten fielen darauf nicht herein, viele Berliner Kollegen schon. Zufall? Leider nein. Denn statt mit den EU-Kollegen zusammenzuarbeiten, wurde Schulz nach seinem Wechsel nach Berlin von den Inlandsressorts und Parlamentskorrespondenten „übernommen“. Und die zeichnen sich, nun ja, durch ein gesundes Selbstbewusstsein aus.

Wir in Brüssel kennen das schon von den EU-Gipfeln: Auch dort geben die mitgereisten Parlamentskorrespondenten gern den Ton an. Die professionellen Merkel-Watcher meinen besser zu wissen, was die Kanzlerin macht und wie sie sich in Europa schlägt. Am Ende gewinnt immer Merkel: Die deutsche Brille schlägt die europäische Perspektive, sobald Europapolitik als Innenpolitik präsentiert wird.

Das soll nicht heißen, dass die europäische Brille unbedingt besser wäre. Wo die Journalisten in Berlin zu sehr auf Personalisierung und Zuspitzung setzen, begehen viele Kollegen in Brüssel den entgegengesetzten Fehler: Sie stellen die News aus Europa entpersonalisiert und institutionalisiert dar. Sie berichten über die EU und ihre Politiker mit dem wohlmeinenden Weichzeichner – kein Wunder, dass sich in Berlin das Bild einer langweiligen und letztlich irrelevanten Konsenskultur festsetzt.

Dabei hat sich Brüssel mittlerweile zu einem zentralen Schlachtfeld entwickelt, wo Nord gegen Süd, Ost gegen West und jeder irgendwie mit oder gegen Deutschland kämpft. Die EU steckt in einer „Poly-Krise“ (so Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker), die spätestens seit der Bundestagswahl auch das größte EU-Land erfasst hat.

Auch das hätte man von den Berichten aus Brüssel oder vom Auslandsressort lernen kennen. Stattdessen scheinen viele Berliner Parlamentskorrespondenten und „Innenpolitiker“ erst jetzt zu merken, dass nun auch Deutschland jene Probleme bekommt, die man in Paris, Den Haag, Athen, Rom oder eben auch Brüssel schon seit Jahren kennt.

Die Hauptstadtpresse hat sich leider nicht nur in Schulz getäuscht – sondern auch in Merkel und in der Diagnose der politischen Krise, in die sie das Land geführt hat.

4 Kommentare

  1. Der Artikel lässt mich etwas ratlos zurück unf fühlt sich für mich an, als wäre er noch nicht beendet. Kommt da noch ein weiterer Teil?
    Z.B. „Die Hauptstadtpresse hat sich leider nicht nur in Schulz getäuscht – sondern auch in Merkel und in der Diagnose der politischen Krise, in die sie das Land geführt hat.“
    Ich hätte gern erfahren, was diese politische Krise nun genau ausmacht. Irgendwie habe ich das in dem Artikel nicht gefunden (ein Link zu solch einer Analyse würde mir auch reichen).
    Oder was ist denn eine „Poly-Krise“? Das Wort habe ich noch nie gehört.

    Grundsätzlich aber ein interessanter Artikel aus der Brüsseler Sicht — gerne mehr davon!

  2. „Oder was ist denn eine „Poly-Krise“? “

    Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Brexit. In fast allen Mitgliedsstaaten werden Parteien stärker die ein gemeinsames Europa ablehnen.
    In der EU brennt wahrlich mehr als ein Feuer…

  3. Erinnert sich noch jemand daran, wie Merkel Anlass hatte zu zittern vor…

    Steinbrück und Steinmeier?

    Genau wie Schulz stehen alle für den selben Flügel der SPD. Der Flügel, vor dem die Verlagseigentümer keine Angst haben müssen, der für ein „weiter so“ im Sinne des unter Schröder eingeschlagenen INSM-nahen Kurses steht und bei dem man keine Angst vor Experimenten haben muss, wie vor Sanders oder Corbyn (vgl. entsprechende Berichterstattung in den selben Medien zu diesen).

    Die eigentlich entscheidende Wahl findet also statt, wenn die SPD ihren Kandidaten bestimmt. Und da legt man sich ähnlich ins Zeug, wie jetzt im Vorfeld des SPD-Mitgliederentscheids. Da wird Steinbrück zur Weltwirtschaftsexperten-Koryphäe und Schulz zum Urnengold-Expresszug.

    Bisher hat es immer geklappt, die SPD-Basis davon zu überzeugen, dass nur der jeweils protegierte Kandidat realistische Wahlchancen bietet. (Von aussen betrachtet der jämmerlichste Part dieses Schauspiels).

    Dummerweise kann man mit diesem Kurs die roundabout Hälfte der SPD-Ex-Wähler, die nicht für eine rotlackierte FDP-Politik zur Urne strömen, nicht remotivieren.

    Was aber wiederum den Steinbrückmeier-Schulz-Zug-Fahrdienstleistern schnuppe ist, solange es für eine GroKo oder schwarz/gelb reicht.
    Gut, für die SPD ist das natürlich sich akkumulierendes Gift. Aber: Wer braucht schon eine Partei, die sich derart willfährig fremdsteuern lässt, wie unter dem Eindruck eines Stockholmsyndroms?

    Insofern ist der spannende Punkt, dass die ganze Medienarbeit weniger in die allgemeine Öfffentlichkeit zielt, sondern in die Apparate hinein. Und dass sie da bisher auch gut wirkt.
    Im Nachhinein Fehlurteile über Schulz zu analysieren bedient dann letztlich nur den selben Trend zur Dekomplexierung per chronischer Überpersonalisierung aller politischen Vorgänge.

  4. Danke für die Analyse, ich hatte bisher die EU-Berichterstattung in der Zeitung und im Internet meist überlesen („Laaaangweilig“), das sollte ich wohl in Zukunft nicht mehr tun…
    Dass Schulz überschätzt wird und nie im Leben Kanzler wird war mir aber schon bei seiner Wahl zum Obersozen klar, vor allem der Medienhype hat mich da eher abgeschreckt. Und wenn er nach der Wahl dabei geblieben wäre, nicht in die GroKo zu gehen (zum Beispiel sofort zurücktreten als der Parteivorstand der SPD die Sondierungen begonnen hat), hätte ich ihn vielleicht sogar als ehrliche Haut in Erinnerung behalten. Nach diesem Artikel ist er wohl doch einfach nur der typische Politiker, der nur für seinen eigenen Vorteil arbeitet.

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