Wissenschaftsjournalismus

Nah drin: WDR sendet live aus drei Kühen

Als er mit Kabeln einer alten Märklin-Eisenbahn einen Methansensor in die Butterbrotsdose seiner Tochter baut, dämmert Jakob Vicari, dass man ihn für einen Nerd halten könnte. Und das war erst der Anfang der Geschichte. Das Ende startet heute, dauert 30 Tage und dreht sich um drei Hauptdarstellerinnen: Connie, Emma und Nr. 71, drei Kühe auf verschiedenen Höfen in Nordrhein-Westfalen. Was mit ihnen geschieht, kann nun jeder beim WDR sehen.

Vicari ist Wissenschaftsjournalist, und diesmal hat er sich das Experiment, über das er berichtet, gleich selbst ausgedacht. Sein Projekt mit dem Namen „Superkühe“ ist verrückt, vielleicht ein bisschen spinnert, vor allem aber ist es beeindruckend. Es fußt auf einem ganz alltäglichen Problem: „Ich stehe im Supermarkt vorm Milchregal, und da gibt’s so 18, 20 Sorten Milch. Und ich muss mich für eine entscheiden, dabei hab ich überhaupt keine Grundlage“, sagt Vicari. „Ich selbst greife immer nach der hässlichen blauen Packung im TetraPack, weil die irgendwie sehr echt und vertrauenserweckend aussieht und nicht gestylt ist. Aber ich weiß nicht, wie die Kühe auf ihren Höfen leben.“

Screenshot einer WDR-Seite mit dem Titel "Superkühe": Zu sehen sind die gezeichneten Konterfeis dreier Kühe
Das Projekt „Superkühe“ ab heute beim WDR Screenshot: WDR

Das soll sich jetzt ändern. Und zwar wird nicht irgendein Journalist erzählen und bewerten, ob es den Kühen gut geht und was ihnen fehlt, nein – Connie, Emma und Nr. 71 erzählen selbst aus ihrem Leben. Sie schreiben quasi Tagebuch. Dafür machen sich Vicari und sein Team die so genannte Sensorstory-Life-Technologie zunutze: Sie vermessen Ställe und Kühe mit Sensoren, die permanent Daten liefern. Und sie haben ein Redaktionssystem entwickelt, das die Daten automatisch in Text wandelt. Roboterjournalismus meets Kuhstall.

Die drei Kühe stehen auf einem Großbetrieb mit fast 800 Kühen in Kleve, einem Familienhof mit 120 Kühen in Lohmar und auf einem Biohof mit 60 Kühen in Altenbeken. Außerdem sind Connie, Emma und Nr. 71 trächtig und erwarten demnächst Nachwuchs. Eine kritische Phase im Leben der Kühe. Nach der Geburt entscheidet sich, ob sie Milchkühe bleiben, wenn alles klappt und wieder Mich kommt – oder ob sie remontiert, also ausgemustert werden.

Zwei kleine Plastik-Dosen mit Computerchips und Kabeln, eins in neongrün, eins in rot
Superkuh-Sensoren Foto: Ü

Damit sich diese spannenden Wochen auch spannend lesen, sammeln die Macher reichlich Sensordaten: Der Melkstand wird ausgelesen, das heißt, wieviel Milch die Kuh gibt. Die Milchqualität wird übermittelt und wie viel Kraftfutter die Kühe bekommen. Außerdem werden Temperatur und Luftfeuchtigkeit im Stall gemessen, und am Bein trägt jede der Kühe ein Pedometer, das überträgt, wie viele Meter sie zurücklegt. Das Highlight: Ein Innensensor liefert Daten direkt aus dem Pansen, etwa den ph-Wert oder die Innentemperatur. Ein Tierarzt hat den Kühen diesen Sensor bei einer Routineuntersuchung eingesetzt. „Das ist so eine Kapsel im Blättermagen. Wenn etwas schwer genug ist, bleibt das da einfach liegen und funkt nach draußen.“

Den Methan- und Lautstärkesensor hat Vicari selbst gebaut und gelötet. Das erste Modell mit Märklin-Kabeln und Butterbrotsdose hat er perfektioniert, und er ist fasziniert von den Möglichkeiten. Ein halber Tag Online-Recherche, dann könne jeder sowas bauen. „Das ist doch toll, dass ich gar nicht drauf angewiesen bin, dass irgendeine öffentliche Stelle oder eine wissenschaftliche Institution mir Sensordaten gibt, sondern dass ich auch meine eigenen Sensoren aufhängen kann, wo mich die Werte interessieren“, sagt Vicari. „Das ist auch so eine Selbstermächtigung von freien Journalisten. Jetzt haben wir jedenfalls ein lasergeschnittenes Gehäuse und eine eigene CNC-Fräse“, sagt Vicari und lacht. „Man wird zum Nerd!“

Ein Mann steht mit iPad in einem Stall, links und rechts stehen Kühe aufgereiht.
Recherche: Jakob Vicari im Kuhstall Foto: Ü

Dass Software, die aus Daten Texte macht, gerade boomt, ist nicht eben neu. Texte über Fußballspiele, Wetterberichte oder Aktienkurse entstehen längst automatisch. Vicaris „Superkühe“ aber schaffen eine eigene Dramaturgie, berichten in Echtzeit, live, 30 Tage nonstop – das ist sehr wohl sehr neu. Und aufwändig. „Natürlich könnte man viel billiger drei Studenten auf drei Höfe setzen, die dann aufschreiben, was die Kuh so erlebt. Aber man sähe eben weiter nur von außen auf so eine Kuh“, sagt Vicari. „Dadurch, dass wir Sensoren haben und die Sensoren Texte auslösen, haben wir etwas viel Unmittelbareres.“

Wer bis zum 2. Oktober auf die „Superkühe“-Seite des WDR surft, bekommt einen Startext zu lesen, der in diesem Moment für ihn generiert wird – über den Moment, den er gerade anguckt. Der Text 13:27 Uhr unterscheidet sich beispielsweise von dem um 13:32 Uhr, denn die Daten ändern sich. „Das ist ein Gewinn für den Leser, dass man so nah an eine Kuh kommt, wie man eigentlich noch nie dran war“, sagt Vicari. „Wir wollen die Technologie nutzen, um Geschichten auf eine neue Art und besser für den Zuschauer zu erzählen.“

Die grobe Idee dazu hat Vicari vor etwa zwei Jahren. Damals experimentiert er bereits mit Sensordaten, statt Kühen sind die Hauptdarsteller aber Urzeitkrebse. Vicari gewinnt damit beim Formatfestival Babelsberg ein Stipendium, um die Idee mit den Urzeitkrebsen weiterzuentwickeln. Wer die Viecher aus dem „Yps“-Heft kennt, mag zwar sentimental daran zurückdenken, doch besonders geistreich sind die Tiere nicht. „Das war alles ganz schön und hat gut funktioniert“, sagt auch Vicari, „aber Urzeitkrebse sind jetzt nicht so die geborenen Medienstars und eben auch kein gesellschaftlich drängendes Thema.“

Ein Mann hockt auf einer Wiese und fotografiert, während ihn von hinten eine Kuh beschnuppert.
Auf Kuhfühlung: Journalist Björn Erichsen Foto: Ü

Dann lernt Vicari die Journalisten Björn Erichsen und Bertram Weiß kennen, seine heutigen Partner, und den dreien kommt die Idee mit den „Superkühen“. Für das Projekt haben sie ein Storyboard entwickelt und programmiert, das abhängig von den übermittelten Daten Texte ausspuckt. So entsteht das Kuh-Tagebuch. Für Kuh Emma etwa gibt es einen Text namens „Auf und ab“. Den veröffentlicht das System automatisch, sobald der Sensor meldet, dass der ph-Wert in Emmas Magen schwankt.

Für alle möglichen Fälle haben die Journalisten vorab Texte geschrieben, etwa 300 pro Kuh. „Dazu kommen dann natürlich noch neue, die wir aktuell anpassen müssen, wenn die Kuh zum Beispiel eine Zwillingsgeburt hat. Man kann ja nicht alles vorhersehen.“ Für diese Fälle begleitet je ein Hofreporter das Projekt bei den Landwirten. Ganz ohne menschliche Journalisten geht es dann doch noch nicht. Die Sensoren können zwar liefern: Die Kuh hat Fieber. „Aber ob sie eine Euterentzündung hat oder eine andere Krankheit, dafür muss man einen Tierarzt fragen und irgendwie auf dem Hof sein“, sagt Vicari. Die Hofreporter liefern auch Fotos von den Tieren.

Auf den ersten Blick wirkt das „Superkühe“-Projekt nur skurril oder komisch, und es gerät leicht in Vergessenheit, worauf es eigentlich fußt: auf Wissenschaft. Dass der Pansen-ph-Wert relevant ist, haben sie sich nicht ausgedacht, weil das komisch ist. „Das ist so einer der Gold-Standards, dass es der Kuh gut geht“, sagt Vicari. „Und wenn die mit Kraftfutter vollgestopft wird, dann sieht man das da direkt. Dann gibt die Kuh auch keine Milch mehr.“

Braucht es dafür nun aber diesen riesigen Aufwand, vermessene Kühe und Ställe, Sensoren, ein eigens entwickeltes Redaktionssystem? „Das ist das übliche Wissenschaftsjournalismus-Problem“, sagt Vicari. „Du kannst natürlich auch in die Bibliothek gehen und dir Literatur raussuchen. Wir wollen dieses Fachwissen aber so übersetzen, dass das jeder verstehen kann. Und die Chance ist ja, dass wir dafür 30 Tage Zeit haben.“

Eine schwarze Kuh mit weißen Flecken schaut in die Kamera
Superkuh Emma ist gerne allein Foto: Ü

Die Texte, die Connie, Emma und Nr. 71 schreiben, unterscheiden sich übrigens auch stilistisch, schließlich stünden echte Persönlichkeiten auf der Weide, mit eigenem Charakter. „Connie auf dem Großbetrieb ist eine Macherin und nicht so eine verträumte Bio-Kuh“, sagt Vicari. „Und Emma ist eher eine, die alleine auf der Wiese steht und andere wegstößt. Das wollten wir schon auch in die Texte transportieren.“

Via Facebook-Messenger kann man mit den drei Kühen sogar chatten. Also, sozusagen. Wer Nr. 71 fragt: „Wieviel Milch hast du heute gegeben?“, antwortet sie. Wer weiterfragt: „Ist das viel oder wenig?“, erklärt Nr. 71 es: „Ist vielleicht noch ein bisschen wenig. Wenn ich weiter so wenig Milch gebe, werde ich remontiert.“ Automatisch generierter Journalismus, zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Zuschauer.

Um Connie, Emma und Nr. 71 zu finden, sind Vicari und seine Kollege über Höfe in Nordrhein-Westfalen getingelt und haben versucht „Bauern von unserer verrückten Idee zu überzeugen“. Als Stadtmensch komme man da dann rein und kriege, wenn man Glück hat, ein Glas Leitungswasser angeboten. Aufrüttelnde Berichte über Massentierhaltung und Antibiotika-Missbrauch haben nicht eben Vertrauen aufgebaut zwischen Landwirten und Journalisten. „Ich glaube, nachdem unsere drei Bauern zugesagt hatten, hatten die erstmal schlaflose Nächte“, schmunzelt Vicari.

Mittlerweile haben sich die Problemlagen geändert. Kurz vor Projektstart ist alles verdrahtet und und verkabelt. Was den „Superkühen“ jetzt noch in die Quere kommen kann, ist: kein Netz auf den Höfen. „Das ist in Deutschland auf dem Land ja öfter mal ein Problem. Wir bangen jedenfalls und haben mehrere Prepaid-Verträge mit Datenvolumen abgeschlossen“, sagt er. Einen Schockmoment gab es auch schon: Nr. 19 hat vier Wochen zu früh gekalbt. Sie war eingeplant – und hat sich dann selbst um ihre 30 Tage Ruhm gebracht. „Zum Glück hatten wir Backup-Kühe gecastet“, sagt Vicari. „Jetzt ist eben Nr. 71 dabei.“

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