Frank Stauss

„Die Medien haben sich danach gesehnt, dass es jemand spannend macht“

Der Wahlkampfberater Frank Stauss über ein mögliches Comeback für Martin Schulz, den Bedeutungsverlust klassischer Medien – und wie die Befindlichkeit von Journalisten die Berichterstattung beeinflusst.

Herr Stauss, Sie haben im vergangenen Jahr beschlossen, dass Sie nicht den Bundestagswahlkampf für die SPD machen wollen. Als dann plötzlich Martin Schulz auf der Bühne stand, gab es da Momente, wo Sie sagten: Ach Mensch, eigentlich wäre es jetzt doch spannend, dabei zu sein?

Ja, klar. Die gibt es eh, wenn man Wahlkampf so lange macht wie ich und mit Herzblut dabei ist. Aber es ist auch kein Geheimnis, dass Martin Schulz für mich die Idealperson ist für diese Kandidatur – mit allem, wofür er steht: für Europa, für Weltoffenheit, auch mit seinem Lebenslauf. Insofern hätte ich gern für Martin Schulz Wahlkampf gemacht, aber das stand nicht mehr zur Debatte, als es soweit war.

Warum nicht?

Weil ich überzeugt bin, dass man so eine Kanzlerkandidatur nicht ein halbes Jahr vor der Wahl aus dem Ärmel schüttelt. Das muss hervorragend, langfristig und minutiös vorbereitet sein. Ich glaube, dass das auch der Kandidatur von Martin Schulz gut getan hätte, wenn sie ein halbes Jahr vorher verkündet worden wäre.

Den „Schulz-Effekt“, den die Nominierung Anfang des Jahres auslöste, empfand ich als ungeheuer belebend, nicht nur für die SPD, sondern auch für die Demokratie. Plötzlich hatte man das Gefühl: Alles ist möglich!

Das hatten andere und ich schon länger gesagt, und sind dafür manchmal ausgelacht worden: Das Potential der SPD ist nach wie vor da. Es liegt irgendwo zwischen 35 und 37 Prozent. Das sind Leute, die sich faktisch und nicht nur abstrakt vorstellen können, diese Partei zu wählen, wenn alles rund läuft. Dazu gehört auch immer, dass es bei den anderen nicht rund läuft, klar.

In dem Augenblick, als Martin Schulz auf die Bühne trat und eine Projektionsfläche für viele wurde, lag die SPD plötzlich bei 31 oder 32 Prozent. Da hat man gesehen, das Potential ist da. Man hat gesehen, wie schwach Merkel war – oder wie sehr sie davon lebt, dass ihre Gegner schwach sind. Dass niemand sich danach sehnt, am Ende 16 Jahre von Angela Merkel regiert zu werden. Selbst CDU-Anhänger hätten gern eine Art Alternative oder Nachfolge. Darauf hätte die SPD eine Planung aufbauen müssen: Man weiß seit vier Jahren, dass im September eine Wahl ist und Angela Merkel dann zwölf Jahre im Amt ist. Das ist immer eine Chance für einen Wechsel.

War dieser „Schulz-Effekt“ real? Oder nur eine Blase, die von den Medien gemacht wurde?

Natürlich war es eine Kombination. Die Medien haben sich auch danach gesehnt, dass jemand kommt und es spannend macht – aus welchen Gründen auch immer: wegen der Auflage, wegen Klick-Raten, aber auch aus persönlicher Befindlichkeit. Das ist immer so. Das haben wir selbst auch bei früheren Wahlkämpfen erlebt, etwa bei der dritten Wahl von Wowereit: Die Journalisten haben die Schnauze voll, wollen entweder einen Wechsel oder zumindest, dass es spannend ist. Und es hat sich gegenseitig hochgeschaukelt, denn wann hatte man mal diese Bilder von jubelnden Anhängern in Deutschland, egal für wen? Die hatte man seit der Wendezeit nicht mehr gesehen.

SPD-Kampagne Berlin 2011 Quelle: Butter Berlin

Stimmungsschwankungen

Ein Wahlforscher von Allensbach spricht beim „Schulz-Effekt“ von „Medienechodemoskopie“: Umfragen bestätigten eigentlich nur die Stimmung, die die Medien vorher verbreitet haben, und jedes neue Umfrageergebnis verbessere die Stimmung noch mehr und sorge für noch bessere Umfragen …

Meinungsumfragen sind Momentaufnahmen, und in dem Moment, wo sie 30 Prozent für die SPD gemessen haben, konnten sich 30 Prozent vorstellen, die SPD zu wählen. Es kann aber sein, dass sie drei Wochen später schon wieder auf einem ganz anderen Zug sind. Diese Geschwindigkeit, in der die Leute ihre Meinung ändern, hat zugenommen, und die Stimmungsabhängigkeit. Das hat immer mit Wissen und Nichtwissen, mit gefestigten Überzeugungen und nicht gefestigten Überzeugungen zu tun. Wir leben in Zeiten, in denen die Leute immer weniger wissen und daher immer anfälliger sind für Schwankungen.

Inzwischen sorgen die Umfragen und die Art, wie Medien sie interpretieren, wieder für den gegenteiligen Effekt: Sie erwecken den Eindruck, das Rennen ist eh schon gelaufen.

Ja, das ist zum Verzweifeln. Dabei ist das Ausmaß der Schwankungen seit Jahren so groß, das lässt sich in allen modernen Demokratien zeigen. Diese komplette Überraschung in allen Gesichtern am Wahlabend 2005 – einschliesslich das der späteren Kanzlerin. Da haben die großen Institute am Tag zuvor intern die relativ klare Ansage gemacht, dass wir sieben oder acht Prozent hinter der Union liegen. Am Ende war es ein Prozent. Die Medien hatten zum Teil schon Wochen vorher gesagt: Ihr habt überhaupt keine Chance mehr.

Die Begeisterung für Schulz Anfang des Jahres kam scheinbar aus dem Nichts.

Dass er Potential hat, ließ sich in Fokusgruppen über ein Jahr im Voraus feststellen. Wenn man seinen Namen in die Diskussion geworfen hat, haben sich plötzlich die Gesichter erhellt. Als das später in diesem „Schulz-Effekt“ sichtbar wurde, waren die Medien davon überrascht. Wenn ich mit Journalisten darüber gesprochen hatte, hatten die immer gesagt: Ach ja, der Schulz. Der steht doch für Europa, und Europa ist out. Ich sagte dann: Nein, Europa ist nicht out, im Gegenteil, gerade bei denen nicht, die wollen, dass wieder mal einer dafür kämpft. Als dann die Zahlen durch die Decke gingen, waren die Journalisten überwältigt von dem, was er ausgelöst hat, und haben das dann, um ihre eigenen Fehler zu kompensieren, auch noch über-hyped.

Medien ohne Unterbau

Das bedeutet: Auch wenn die Journalisten das Gefühl haben und vermitteln, das Rennen sei gelaufen, kann bei den Wählern trotzdem noch einmal so ein Funke überspringen?

Das passiert ja ständig. Nehmen Sie die berühmtesten, zum Teil ja auch die schlimmen Entwicklungen, die man nicht vorausgesehen hat. Oder auch Emmanuel Macron. Als der zum französischen Präsidenten gewählt wurde, hieß es unisono: Oh, er muss jetzt gegen eine Nationalversammlung regieren, die gegen ihn ist – und dann hat er die komplett abgeräumt. Ich weiß gar nicht, was bei den Leuten tatsächlich noch ankommt von den Medienbotschaften, das ist für mich das große Rätsel. Ist das jetzt nur eine gegenseitige journalistische Bestätigung? Wird die noch ernst genommen von den Leuten, für die sie geschrieben wurde?

Welche Bedeutung haben die klassischen Medien heute?

Meiner Meinung nach konnte man schon 2005 sehen, wie die Bedeutung abgenommen hat. Gegen was für eine Medienwand Schröder gerannt ist im Wahlkampf damals! Von „Stern“ über „Spiegel“ bis „Zeit“ waren alle auf dem Neo-Liberalismus-Trip und dachten, jetzt müsse mit Merkel und Westerwelle „durchregiert“ werden. Das war der erste Moment, wo ich dachte: Diese Nummer von Schröder: „‚Bild‘, ‚BamS‘ und Glotze“, die läuft nicht mehr. Ich sagte auch zum ersten Mal: Leute, lasst euch von der „Bild“-Zeitung nicht kirre machen. Wir wissen gar nicht, ob deren Leser die noch ernst nehmen. Das wird immer stärker gerade. Ob das gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage. Diese bekannten Medien, mit denen ich aufgewachsen bin und die meisten, die an den Schaltstellen der Republik sitzen … manchmal habe ich das Gefühl, die sind ohne Unterbau. Alle, die unter 40 sind, haben damit eigentlich nichts mehr am Hut.

Im Frühjahr haben die Medien Martin Schulz immer wieder vorgeworfen, dass er bloß „über die Dörfer tingelt“, während die Kanzlerin die tollen Bildern mit Staatsmännern macht.

An diese Rote-Teppich-Nummer habe ich noch nie geglaubt. Schauen Sie sich die Leute an, die in letzter Zeit erfolgreich Wahlen gewonnen haben. Die kamen aus der Opposition heraus, die hatten alle keinen roten Teppich.

Ist es dann egal, wenn die Medien das erzählen?

Egal ist es ja nie. Es hat eine starke Wirkung auf die Kandidaten, auf deren Umfeld, auf die Partei. Die Parteien werden ja auch von Über-50- oder 60-Jährigen dominiert, die diese Medien lesen. Dieser ganze Apparat wird dann nervös, er wird mobilisiert oder demobilisiert oder demotiviert. Der Horror sind Pressespiegel. Ich bin dafür, dass die sofort abgeschafft werden. Jeden Morgen um halb sieben kriegen die Leute Clippings aus allen Tageszeitungen, aber natürlich nur solche, die sie betreffen. Die gehen immer davon aus, dass das außer ihnen noch jemand alles liest. Das ist eine vollkommene Irreführung, das hat mit der Mediennutzung der Wählerinnen und Wählern nichts zu tun.

SPD-Kampagne Hamburg 2015 Quelle: Butter Berlin

Kollateralwissen

Wenn die Bedeutung der klassischen Medien abnimmt – was rückt an deren Stelle?

Die große Konfusion. Wir begleiten Wahlen seit bald 25 Jahren, immer mit Fokusgruppen. Da ist schon spürbar, wie viel weniger Menschen über politische Zusammenhänge, wirtschaftliche Zusammenhänge, internationale Zusammenhänge, über Personen wissen. Das nimmt dramatisch ab.

Sie sprechen vom „Kollateralwissen“, das verloren geht, weil die Leute nicht mehr nebenbei beim Zeitunglesen Informationen bekommen, nach denen sie gar nicht gesucht haben.

Das ist wirklich so. Die Leute können Dinge kaum noch zuordnen. Sie beschäftigen sich nicht mehr damit. Wir haben auf der einen Seite die News-Junkies, die nichts anderes mehr mitkriegen und dadurch auch einen gewissen Teil des Lebens verpassen. Und auf der anderen Seite die, die so viele Zerstreuungsmöglichkeiten haben, und es zum Teil auch gar nicht wissen, dass ihnen, wenn sie sich nur noch über „neue Medien“ informieren, ein Teil der Informationen vorenthalten wird – durch den berüchtigten Algorithmus. In den Landtagswahlkämpfen merken wir ganz stark, dass gerade das Wissen über Landespolitik komplett verloren geht. Auch ein Heavy-User von „Spiegel Online“ klickt da keine Landespolitik an, wenn sie ihm überhaupt angeboten wird. In einer Tageszeitung früher war halt eine Seite oder zwei Seiten Landespolitik, und die haben Sie dann, spätestens auf der Toilette, auch noch irgendwie mitgenommen.

Es kommt eine große Konfusion, eine große Orientierungslosigkeit. Gleichzeitig haben wir durch die Flüchtlingsdebatte eine große Politisierung erlebt. Das Seltsame ist, dass die Leute immer weniger wissen, aber im Moment immer mehr wählen gehen. Sie haben mitbekommen, irgendwo ist das jetzt wichtig, es passiert gerade was in der Welt. Aber wir haben immer mehr die, die ich als „Snapchat-Wähler“ bezeichne. Die tauchen kurz auf, schauen kurz hin und sind wieder weg.

Was bedeutet das für den Wahlkampf?

Einerseits brauchen Sie immer länger, bis Sie mit einem Thema durchkommen, das heißt, Sie brauchen eine kontinuierliche Basisbotschaft. Andererseits müssen Sie höllisch aufpassen, dass Sie in den letzten drei Wochen wirklich richtig gut sind – dass Ihnen nicht ausgerechnet da die Puste ausgeht oder Ihnen Fehler unterlaufen oder Sie einen müden oder erschöpften Eindruck machen. Sie müssen dann noch Pfeile im Köcher haben und nicht schon alles verschossen haben.

Anfällig für „Fake News“

Glauben Sie, dass „fake news“ im Wahlkampf eine Rolle spielen werden?

Sie können halt verunsichern. Sie können die Verunsicherung, die schon da ist, bestätigen und je weniger die Menschen an Basiswissen über die Gesellschaft haben, über politische und über wirtschaftliche Zusammenhänge, umso anfälliger sind sie. Ich glaube aber, es gibt wenige Menschen, die sich ausschließlich innerhalb ihrer jeweiligen Ideologie informieren, was in Amerika ganz anders ist. Das ist so bei uns noch nicht möglich.

Die Gesellschaft ist bei uns noch nicht so gespalten.

Und auch die Medien sind nicht so linear aufgestellt, dass Sie sagen können: Ich bewege mich keinen Meter aus meinem Umfeld raus.

Mein Eindruck ist, dass Medien heute häufiger nicht über Inhalte diskutieren, sondern über Strategien. Man bewegt sich sofort auf einer Metaebene. Bei Merkels Kehrtwende in Sachen „Ehe für alle“ gab es sofort diese Erzählung: Wie clever von ihr, sie hat das abgeräumt. Die geniale Strategie dominierte die Berichterstattung mehr als die inhaltliche Frage: Möchte ich eigentlich, dass meine Kanzlerin, meine Partei, für oder gegen etwas eintritt.

Diese Unterstellung, dass etwas, was Merkel macht, genial sein muss, geht mir wahnsinnig auf den Senkel. Es ist ja so viel improvisiert und schief gegangen. Aber sie hat diese Aura von „sie hat es immer irgendwie nochmal geschafft“, dass jeder Verstolperer so interpretiert wird. Ich bin mir sicher, dass Merkel die „Ehe für alle“ im Wahlkampf abräumen wollte, aber nicht an jenem Abend bei „Brigitte“. Sie hat sicher nicht auf dem Schirm gehabt, dass da am Freitag im Bundestag noch eine Abstimmung hinkriegen könnte. Das war nicht genial.

Sie haben Merkel in Ihrem Blog vorgeworfen, dass sie berechnend ist, keine Überzeugung hat, keinen inneren Kompass. Die Frage ist …

Stört es jemanden?

Genau!

Aber deswegen kann man es doch trotzdem sagen.

Kann es nicht sein, dass es der Mehrheit der Wähler – anders als Ihnen – völlig egal ist, ob ein Politiker Leidenschaft für die Sache oder klare inhaltliche Überzeugungen mitbringt?

Das glaube ich nicht. Ich glaube schon, dass wir in diesem Schulz-Moment gesehen haben, dass es eine Sehnsucht danach gibt. Wir haben die nicht nur bei uns gesehen, sondern auch bei Trudeau, Macron, Corbyn. Das sind politisch ganz unterschiedliche Charaktere, die alle für etwas anderes stehen, aber diese Sehnsucht ist schon da.

Wähler demobilisieren

Merkel wird ja immer unterstellt, eine Strategie der „Asymmetrischen Demobilisierung“ zu fahren.

Die Frage ist halt: Lässt man sie damit durchkommen und zwar von Seiten der Herausforderer, aber auch von Seiten der Medien. Wenn ich den Journalisten sage: Ihr seid zu unkritisch, dann lesen mir alle ihre Artikel vor, die sie mal vor zwei Jahren geschrieben haben, aber faktisch ist es ja so. So hart wie Schulz oder andere wird sie nicht mehr angegangen.

Andererseits hat die CDU die drei Landtagswahlen in diesem Jahr gewonnen bei steigender Wahlbeteiligung.

Wir haben seit dem Frühjahr 2016 höhere Wählerzahlen. Auf der einen Seite wurden Leute aktiviert, die vorher zuhause geblieben sind und dann die AfD gewählt haben. Das hat dazu geführt, dass andere Leute sagten: Um Gottes Willen, die AfD geht gar nicht! – und auch zur Wahl gegangen sind. Das hallt jetzt noch ein bisschen nach, ich weiß allerdings nicht, wie lange das trägt. Das Thema Flüchtlingskrise ist jetzt, zumindest vorübergehend, verschwunden und damit auch der Grad der Politisierung.

Aber Sie glauben, dass es Strategie der Union ist, die potentiellen Wähler der anderen zu demobilisieren?

Das war ja kurios! Schulz sagt an einem Tag: Die Merkel ist beliebig und räumt aus strategischen Gründen alles ab – und am nächsten Tag räumt sie die „Ehe für alle“ ab. Hätte man da noch ein klareres Beispiel gebraucht? Man braucht halt mehr, wenn man diese Frau oder die Art ihrer Politik herausfordern will. Dann muss man sie wirklich herausfordern, mit Mut und Energie.

Sich als Kanzlerkandidat hinzustellen und zu klagen: Die will sich gar nicht mit uns streiten und ihr einen „Anschlag auf die Demokratie“ vorzuwerfen, hat aber auch etwas sehr Hilfloses. Wäre es Aufgabe der Medien, eine solche Strategie zu durchkreuzen?

Man kann über Schulz‘ Wortwahl reden, aber eine andere Wortwahl hätte vielleicht dazu geführt, dass es gar nicht transportiert worden wäre. Es war nicht nur ein Moment in Richtung Journalisten, es war auch ein Moment in Richtung Öffentlichkeit zu sagen: Wacht mal auf!

Zukunftsangst

Sein Thema ist die soziale Gerechtigkeit. Die Reaktion vieler Medien ist: Wo soll das Problem sein? Und in den Umfragen sagen 80 Prozent der Menschen auch regelmäßig, dass sie mit ihrer wirtschaftlichen Situation zufrieden sind.

Das Thema, um das sich alle rumdrücken, wahrscheinlich, weil niemand eine Antwort hat: Woher kommt diese Unzufriedenheit, obwohl es den Leuten tatsächlich ziemlich gut geht? Die anfälligste Generation für die AfD sind die, die heute zwischen 45 und 55 sind. Das ist die Gruppe, die am meisten verunsichert ist. Das hat mit der Digitalisierung zu tun, mit den Umbrüchen in der Arbeitswelt. Das sind die, die spüren: Diesen Job, den ich mache, werde ich ziemlich sicher keine zehn oder 15 Jahre mehr machen können.

Sie sagen: Es geht um die Zukunft, es findet gerade ein großer Umbruch statt, und niemand redet darüber. Wessen Fehler ist das? Wer könnte das ändern?

Wenn das von der Amtsinhaberin nicht gemacht wird, muss es der Herausforderer machen, wer denn sonst. Es geht dabei nicht darum, Angst zu machen, die Angst ist ja sowieso da. Dieses Klima der Unruhe war schon vor zweieinhalb Jahren da. Da war noch kein einziger Flüchtling auf der Autobahn. Die AfD hatte 2013 schon fast fünf Prozent ohne Flüchtlinge, und wir schweigen dieses Thema tot oder adressieren es nicht. Entweder weil keiner weiß, wohin es führt, oder weil keiner guten Gewissens sagen kann: Wir kriegen das hin, wir arbeiten daran. Oder weil es Debatten erfordert, die man jahrelang abgeblockt hat, wie zum Beispiel das Grundeinkommen: Wie organisieren wir in einer hoch industrialisierten und eigentlich wohlhabenden Nation weniger Arbeit? Ich glaube, das ist eine ganz große Aufgabe der Medien zu fordern: Wie wollen wir jetzt eigentlich damit umgehen?

Vor 20 Jahren beherrschte das Wort „Reformen“ alle Debatten, es gab das Wort vom „Reformstau“. Jetzt ist der Gedanke, dass Dinge vielleicht geändert werden müssten, völlig verschwunden. Den unterdrückt Merkel aber ja nicht mit Gewalt, sondern den bringen viele Medien auch nicht auf.

Vielleicht weil das ihre eigene Empfindlichkeit ist. Wir haben ängstliche Medien heute, das darf man nicht vergessen. In der großen Debatte in den Jahren 1998 und 2002 haben die Medien die Regierung getrieben. Sie haben gesagt, wir brauchen liberalere Arbeitsverträge, weniger Arbeitsschutz, die Leute sollen den Gürtel enger schnallen (nur wir nicht). Das war eine geballte neoliberale Stimmung. Jetzt geht den Journalisten selbst der Arsch auf Grundeis. Die sind nicht frei davon, sich an das zu klammern, was ist. Die Medien sind ja nicht losgelöst von der Gesellschaft. Keiner kann sich freimachen von seiner persönlichen Situation und seiner Befindlichkeit. Diese Sorge spiegelt sich in der Berichterstattung wieder. Und eine alternde Gesellschaft ist auch eine innovationsfeindliche Gesellschaft.

Wobei noch die Frage wäre, ob ausgerechnet die SPD die Partei ist, die für Innovation steht.

Aus meiner Sicht tat sie das immer. Die haben eine Partei gegründet, da gab es noch keine Demokratie, das finde ich schon mal grundoptimistisch und fortschrittlich. Sowas wie das Heidelberger Programm oder der Ruf „mehr Demokratie wagen“, das war ja kein Massenthema, das war ein intellektueller Anspruch. Die Arbeiter haben nicht Willy Brandt gewählt, weil er mehr Demokratie wagen wollte, sondern wegen der sozialen Gerechtigkeit. Das waren immer die beiden Bestandteile. Dieses zweite Standbein Fortschritt, das kam in den letzten Jahren einfach zu kurz.

Comeback-Kid

Sie haben in der Neuauflage Ihres Buches geschrieben, die Wahl sei eigentlich schon entschieden. Der deutsche Wähler wolle eigentlich den Wechsel nicht, und die einfachste Art, etwas ohne einen richtigen Wechsel zu ändern, ist …

… den Koalitionspartner zu wechseln.

Dann hat man die FDP als Antreiber und Modernisierer und Angela Merkel kann nochmal vier Jahre weitermachen. Ich fand das so überzeugend, dass ich jetzt gar nicht weiß, warum das nicht eintreten soll.

Ich hab ja immer noch die Hoffnung, dass ich mich, wie so oft, täusche. Und ich bin der festen Überzeugung, die SPD hat in dieser Regierungsphase viel an Reputation zurückgewonnen, weil sie zwei, drei Schlüsselthemen umgesetzt hat, für die sie angetreten ist. Aber der zweite Teil wäre gewesen, danach mit ein paar jungen Leuten, die es ja gibt, Modernisierungsthemen zu setzen. Das ist nicht passiert.

Sie sagen, nichts sei gefährlicher als ein „Comeback-Kid“: „Ein Gegner, der schon totgesagt war, aber wieder kommt und dadurch sogar noch mehr Momentum entfachen kann, als beim ersten Anlauf.“ Ist das bezogen auf Martin Schulz nicht nur Wunschdenken?

Die Möglichkeit für ein Comeback gibt es.

Was bräuchte es dafür? Reicht da ein kleiner Effekt, dass es wieder ein, zwei Prozent nach oben geht, und die Medien fangen an, anders zu schreiben und produzieren wieder einen Verstärkungseffekt?

Etwas ist auf jeden Fall gesetzt, vielleicht durch die Rede von Martin Schulz, vielleicht auch durch das Agieren rund um die „Ehe für alle“: Viele in den Medien sind offensichtlich der Meinung, wir lassen die Merkel jetzt mal nicht ungecheckt weiterwurschteln. Wenn das anhält, dann wird sich das weiter verbreiten. Ich glaube, dass Schulz auch immer noch ein Sympathie-Potential hat, der ist noch nicht durch.

18 Kommentare

  1. Wir leben in völlig verschiedenen Filterblasen… Wo hat die SPD ein Potenzial von >35%? Vielleicht mit anderen Personen in der Führungsriege und mit einem viel mutigerem und radikalerem Wahlprogramm, aber das wäre ja dann auch wieder sozialdemokratisch.

    Meinetwegen gab es einen Schulzeffekt, aber dann haben die Leute gesehen, dass das der gleiche alte Wein in neuen Schläuchen ist. Und schon war die Luft raus. Man muss schon extrem-SPD-Afficionado sein, um sich das schön zu trinken. (Die Leute sind der SPD doch nicht grundlos weggelaufen und sie werden nicht grundlos wieder zurück kommen.)

    Und mal zum Thema Wahlkampf: Es ist eher verstörend für eine Demokratie, wenn die Verpackung von Politik im Wahlkampf einen so hohen Einfluss auf das Ergebnis hat und nicht der eigentliche Inhalt. Man kann das verstehen, weil die allermeisten Menschen eher emotional als nachdenklich unterwegs sind. Was ein Wahlkampfmanager also spannend, faszinierend und herausfordernd findet, ist für die Leute nach der Wahl, die dann die Schnapsideen ausbaden müssen, leider nicht mehr so toll…

  2. Wenn die SPD nicht jeden Tag auf’s neue ihre Werte ausverkaufen würde, könnte das mit den 37% klappen, ich gehöre auch zu diesem Potential.

    Solange eine Frau Nahles das Tarifeinheitsgesetz mit „Heute ist ein guter Tage für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland“ kommentiert, solange ein Olaf Scholz über jedes innenpolitische Stöckchen springt, das ihm hingehalten wird und solange die SPD Gerhard Schröder als Sonderredner auf Wahlkampfveranstaltungen einlädt, nein, so lange bekommt die SPD meine Stimme nicht.

    Sobald mal wieder eine klare Linie erkennbar ist und ein gewisses sozialdemokratisches Selbstbewusstsein wiederkommt, könnte sich das ändern.
    Wenn ein Olaf Scholz unserem Innenminister antwortet „Hören Sie bitte auf, die fehlerbehaftete Polizeistrategie auf dem G20 Gipfel auf das Billigste für Ihren anti-links Wahlkampf zu instumentalisieren.“, dann würde ich da noch mal drüber nachdenken.

    Ein sozialdemokratisches Selbstverständnis, vielleicht sogar Weltbild, das innbrünstig von seinen Parteigenossen vertreten wird, das möchte ich sehen.

    So wie bei der CSU: Alle wirken echt zerknirscht, wenn die Ehe für Alle kommt. Ist einfach authentisch; man glaubt einem Typen wie Joachim Herrman sofort, dass er lieber in die „gute alte Zeit“ zurück will (aber ist nicht homophob, böses Wort). Er steht zu seiner Meinung, egal wie (vermeintlich) unpopulär.

    Deshalb respektieren wir Menschen:
    Kurs halten, egal wieviel Gegenwind.
    Bei der SPD kommt es mir derzeit genau andersherum vor:
    Das Segel nach dem stärksten Wind ausrichten und hoffen, dass man ankommt.
    Dabei geht halt nur der Kurs verloren.

    (Sorry für superschwellige, nautische Allegorien)

  3. Das meiste was sie bei der SPD vermissen hat die Linkspartei im Angebot. Warum liegt die nicht bei 37%?

  4. @Leo, na das ist die Gretchenfrage. Es gibt Regionen im Osten, da hatte die Linkspartei das. Und dann haben sie in Regierungen ihre Werte verkauft, so wie die SPD. Mit dem gleichen Effekt.

    Im Westen hat die Linke einfach einen Igittigitt-Faktor, da ist Deutschland einfach besonders. Das geht in anderen Ländern (auch aktuell, siehe Belgien, UK,…) einfacher, dass da echte linke Typen plötzlich Zulauf kriegen. Mal sehen, was passiert, wenn die SPD von 25% auf 5% alá Frankreich abstürzt. Wo die sich hinverteilen… Nichtwähler, AfD, Linke, … (In meinen Augen wäre ein ehrliches Wahlergebnis in Deutschland: 20% Nazis, 50% CDU, 30% Linke. Alles andere im Spektrum wird von denen auch inhaltlich heute schon mit aufgefangen. (So ehrlich muss man als Linker sein, dass der konservative Block hier einfach die Mehrheit stellt, allem Gequatsche von angeblich linksgrünversifftem Mainstream zum Trotz.)

  5. In meiner Bubble höre ich immer, immer wieder: Bei Wahlomat und ähnlichen Auswertungen kommt heraus, ich solle Die Linke wählen – aber die wähle ich auf keinen Fall. Hm. Ist das das SPD-Potential? (Oder einfach die Beschränktheit der Leute, gegen ihre eigenen Interessen zu wählen?)

  6. @Alexander #4,

    Die Leute, die enttäuscht sind, dass die Linkspartei in Regierungskoalitionen nur noch sozialdemokratisch ist, wählen ja deshalb bei der nächsten Wahl nicht CDU oder SPD mit ihrem derzeitigen Programm. Da ist ja von vornherein klar, dass in ihrem Sinne nichts bei rauskommt. Und auch @John #5, wenn man von der Sinnhaftigkeit von Wahlen überzeugt ist und dass Inhalte wichtig sind, dann ist die einzig logische Entscheidung, die Linkspartei zu wählen, wenn man mit dem Programm übereinstimmt. Wenn die keine soziale Politik hinbekommen, dann muss man wohl einsehen, dass das gar nicht zu haben ist, denn die andern kündigen ja gleich schon unsozialere Politik an.

    Zum Interview noch: Schröder hatte also 2005 Gegenwind aus den Medien, weil er sich geweigert hat, neoliberale Politik zu machen? Im Ernst? Oder verstehe ich die Antwort falsch?

  7. @5 John,

    na frag dich doch mal selbst, warum du nicht die Linke wählst. Sei mal absolut ehrlich zu dir. Und da kommt mindestens „weil die igittigitt sind“ raus. Und dann müsstest du noch ergründen, warum… Aber es ist ja vielleicht ein christlicher Wert, immer auch noch die andere Wange hinzuhalten, insofern macht es hierzulande total Sinn, gegen die eigenen Interessen zu wählen. (Nur den Reichen passiert das – bis auf Ausnahmen, man hüte sich vor Verallgemeinerung – nie, aber vielleicht sind die nicht so christlich und nächstenliebend.)

    Ich kenne übrigens gefühlt tausend Leute wie dich, weil von denen, denen ich den Wahlomat-Link schicke, 90% auch auf das Ergebnis kommen, dass sie ideologisch (!!!) mit der Linkspartei weitgehend konform gehen. (Manchmal liegen Tierschutzpartei und Grüne auch mit weit vorne. Hängt immer davon ab, ob die Grünen grad wieder Krieg spielen wollen.)

  8. @5, oh sorry, John, habe schlampig gelesen. Du redest von deiner Bubble, nicht von dir. Dann nehme ich alles auf dich bezogene zurück. Und wünsche viel Spaß, in deiner Bubble rumzufragen, warum die nicht Linke wählen.

  9. Die SPD hat in den letzten 2 Jahren so viele ehemalige Wähler endgültig vergrault und ist auch jetzt noch so konfus, dass sie am 24. September froh sein kann, wenn sie die 20%-Hürde nimmt. Ein inhaltlich, strategisch und taktisch desolater Haufen!

  10. Nichts führt mehr in die Irre als der Vorwurf, dass Angela Merkel „berechnend ist, keine Überzeugung hat, keinen inneren Kompass“. Das kannn ja auch heißen: „analytisch und frei von Ideologie“. Und wenn dann noch jemand so uneitel und scheinbar ohne Ego auftritt, dann gibt das ein schlüssiges, Bild ab. Wenn Linke und SPD von Gerechtigkeit sprechen, dann mag dahinter ein echtes Anliegen stehen, aber es hat eben auch immer etwas von Parteienfolklore. Die gibt es bei Merkel fast nie. Das kann man als Manko empfinden, muss man aber nicht.

  11. @ Alexander #9
    „in deiner Bubble rumzufragen, warum die nicht Linke wählen.“
    Hier die Liste der Gründe, die mir genannt wurden: Anne Helm, Jan van Aken, Julia Schramm, Katharina König, Katja Kipping, Klaus Lederer, Petra Pau

  12. @Tobias #11

    Ideologie ist immer das, was die anderen haben, wie?

    Merkel steht komplett solide für die Position „es ist gut so, wie es ist“. Sie braucht kein Programm oder Visionen, weil die Welt genau so ist, wie sie die gerne haben will. Das ist ihre Ideologie, Demokratie, Kapitalismus, ein bisschen soziale Gerechtigkeit, aber nicht zu viel, Außenpolitik mit ökonomischen und militärischen Mitteln, traditionelles Familien- und Religionsbild, aber immer ein bisschen flexibel, solange das Gesamtbild für Deutschland funktioniert. Alle, die meinen, „Deutschland geht es gut, das soll so bleiben“ oder „ich will kein Risiko eingehen, dass es vielleicht schlimmer wird“, die wählen weiter Merkel. Das ist solide Politik, da kann man sich entspannt zurück lehnen, die macht das sehr souverän und zuverlässig, und ist dafür auch international anerkannt.

    Die Medien wollen im Prinzip keine andere Politik. Schulz hatte ja noch überhaupt kein Programm angekündigt, als er gehypt wurde. Es sollte das gleiche Programm mit anderer Führungsposition gemacht werden, nur stellt sich jetzt heraus, dass Schulz nicht sympathischer oder „besser“ ist, sondern nur anders und neu (eigentlich ja nicht mal das). Und jetzt wo das Programm da ist, muss man die Unterschiede schon mit der Lupe suchen.

    Man vergleiche das mal mit der Situation in Großbritannien, wo Corbyn wirklich das Gefühl vermittelt, er will etwas ändern, und das auch glaubwürdig rüber bringen kann. Der wird nicht gewählt oder bejubelt (oder verteufelt) wegen seiner Person, sondern seinem Programm. Mit so einer Person an der Spitze und auch dementsprechenden Programm kann ich mir schon vorstellen, dass die deutsche SPD bei 35% landet. Wie eine Linkspartei ohne linken Flügel und ohne „igitt-SED-Nachfolger“-Faktor.

  13. @12, Andreas Müller
    Na ja, das sind ja erst einmal Namen und keine Gründe. Die Leute müssen doch mit den Namen Stories verbinden, woraus sich dann ein Grund ergibt. (Und ja, das kenne ich, da fällt den Leuten immer eine Nase ein, wegen derer man dann gleich die ganze Partei komplett ablehnen muss. Wenn man das konsequent durchzieht, wird man zum Nichtwähler.)

    @7, Stefan Niggemeier
    Weil die Reformen nicht weit genug gingen UND nicht gut genug kommuniziert worden sind.

  14. Super Interview, vielen Dank!

    Da Frank Stauss ja Hannelore Kraft im letzten Wahlkampf beraten hat, hätte ich mir nur noch eine Frage zu der gängigen Darstellung gewünscht, Schulz‘ wochenlange bescheidene Zurückhaltung sei allein Krafts Wunsch nach einem rein landespolitisch geführten Wahlkampf geschuldet gewesen…

  15. Ich habe schon Anfang des Jahres, als der Schulz-Hype losbrach, gesagt: Das Ganze beruht auf zwei Dingen:
    1. Tatsächlich der Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit.
    2. Vergesslichkeit der Wähler allgemein und der SPD-Wähler und Mitglieder im Besonderen.
    Das Schwafeln von Herrn Schulz von mehr Gerechtigkeit – als die sozialpolitischen Sauereien à la Hartz4 mitsamt allen Ungerechtigkeiten durchgezogen wurden, war Herr Schulz Mitglied des Parteipräsidiums und hat alles mitabgesegnet. Dies wurde allgemein vergessen oder war nie im Bewusstsein der Wähler

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