Warum #abmerkeln auf Twitter nicht zum Trendsport wird
Was, wenn nicht nur die klassischen Medien alle mit den Mächtigen unter einer Decke steckten, sondern auch auch die großen internationalen Konzerne sich mit ihnen gegen die Nutzer, das Publikum, die Bürger verschworen hätten? Wenn sogar ein Unternehmen wie Twitter seinen Teil dazu leistete, Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem ganzen, berechtigten Ausmaß des Volkszorns zu schützen?
Die folgende Geschichte ist jetzt schon ein paar Tage alt. Aber ich fürchte, sie ist symptomatisch. Typisch für die Art, wie sich Informationen verbreiten und Erregungswellen formieren und am Ende aus einer Mischung von falschen und fehlenden Informationen ein großer, böser Verdacht entsteht, neue Nahrung für ohnehin im Übermaß vorhandenes Misstrauen.
Die Geschichte beginnt damit, das ein Mann namens Ross Douthat am 9. Januar einen Text in der „New York Times“ veröffentlicht, der mit der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung abrechnet und mit der Forderung endet: Angela Merkel muss weg. Douthat ist ein konservativer amerikanischer Autor und Blogger, der als „Op-Ed columnist“ für die Zeitung schreibt. „Op-Ed“ steht für opposite editorial. Es sind Kolumnen, die traditionell gegenüber den Leitartikeln der Zeitungen veröffentlicht wurden und oft bewusst andere Meinungen vertreten. Die „New York Times“ hat ein sehr breites Spektrum von Op-Ed-Kolumnisten. Die Meinung, die Ross in der „New York Times“ vertritt, ist seine Meinung. Nicht die Meinung der „New York Times“.
Dennoch veröffentlicht die rechte Wochenzeitung „Junge Freiheit“ am folgenden Tag auf ihrer Internetseite eine Meldung, in der sie von der ersten bis zur letzten Zeile das Gegenteil behauptet und suggeriert:
New York Times: „Merkel muß gehen“
NEW YORK. Die New York Times fordert den Rücktritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel wegen ihres Versagens in der Asylkrise. Unter der Überschrift „Germany on the Brink“ (deutsch: Deutschland am Abgrund) fordert die einflußreichste amerikanische Tageszeitung: „Merkel muß gehen, damit Deutschland nicht einen zu hohen Preis für ihre Dummheit bezahlen muß.“
(…) Bislang hat die linksliberale Tageszeitung (Auflage: 1,3 Millionen) eine Merkel-freundliche Haltung eingenommen und sie für ihre Politik der unkontrollierten Einwanderung gelobt. (rg)
Die Falschmeldung findet rasante Verbreitung. Allein auf Facebook wird sie ingesamt über 50.000-mal empfohlen. Ihr Verfasser Ronald Gläser, der Medienredakteur der „Jungen Freiheit“, twittert stolz einen Link, wonach sein Artikel zeitweise auf Platz 1 der „News-Charts“ der Seite liegt, die misst, wie häufig Artikel empfohlen, geteilt und geliebt werden.
Mein Merkel-New-York-Times-Artikel gestern hat schon 35.000 Likes bekommen. Platz eins bei.. https://t.co/xgzVR5eVfW pic.twitter.com/W2SmOPLT67
— Ronald Gläser (@ronaldglaeser) 11. Januar 2016
Dass auch in den Kommentaren unter seinem Artikel mehrere „Junge Freiheit“-Leser darauf hinweisen, dass der Artikel mitnichten die Meinung der „New York Times“ wiedergibt, ficht ihn nicht an.
An demselben Wochenende, an dem die „New York Times“- und „Junge Freiheit“-Texte erscheinen, verbreitet sich auf Twitter der Hashtag #abmerkeln. Unter diesem Stichwort fordern Nutzer, teilweise unter Bezug auf den Artikel, dass die Kanzlerin zurücktreten soll. Ihre Zahl ist groß genug, dass der Hashtag als Trending Topic auf den Seiten von Twitter auftaucht.
Das ist für jede kleine oder große Bewegung ein Erfolg, denn dadurch werden auch andere Nutzer auf die Welle aufmerksam gemacht, wodurch sie im Idealfall noch größer wird. Am Samstagabend also trendet #abmerkeln. Am Sonntag aber – taucht der Begriff anscheinend nicht mehr unter den offiziellen Hashtags auf, die Twitter anzeigt.
Was ist passiert? Ein Blog spricht den offenkundigen Verdacht aus: Twitter hat den für die Kanzlerin lästigen Trend zensiert.
Ein eklatanter Verstoß gegen Meinungsfreiheit und Meinungsbildungsprozess der Erinnerungen weckt. (…)
Es stellt sich die Frage, wem die Einschränkung der Meinungsfreiheit nutzt. Twitter selbst erwirtschaftet mit seinen Usern bares Geld, den Usern die Nutzung einzuschränken, macht aus wirtschaftlicher Sicht wenig Sinn. Bleibt der Umstand, dass Twitter als amerikanisches Unternehmen Einfluss auf den Meinungsbildungsprozess in Deutschland genommen hat.
Wem hat’s genützt?
Brave new world.
Twitter sorgt sich um das Ansehen der Bundeskanzlerin und manipuliert dafür seine eigenen Trend-Angaben? Das wäre ein Hammer. Was sagt das Unternehmen selbst zu diesem Vorwurf?
Nun. Nicht viel.
Der deutsche Pressesprecher verweist darauf, dass für solche Anfragen ein Kollege in Dublin zuständig sei. Dessen Antwort auf unsere Frage und die Bitte, über den konkreten Fall oder den allgemeinen Vorwurf reden zu können, zitierfähig oder auch nur als Hintergrund, lautet, vollständig zitiert:
Hi there,
We’ve got nothing else for you here.
Please find our FAQ on trends on Twitter which might be useful.
Best,
Ian
Zumindest darum scheint sich die Firma Twitter also keine Sorgen zu machen: Dass die Deutschen denken könnten, sie greife aus Sorge um das Image von Angela Merkel in den Algorithmus ihrer Trending Topics ein.
Immerhin entpuppt sich der lapidare Hinweis auf die „Häufig gestellten Fragen“ als vergleichsweise nützlich, denn dort findet sich folgender Satz:
This algorithm identifies topics that are popular now, rather than topics that have been popular for a while or on a daily basis, to help you discover the hottest emerging topics of discussion on Twitter that matter most to you.
(Dieser Algorithmus identifiziert Themen, die jetzt beliebt sind, und nicht unbedingt Themen, die schon seit einer Weile oder jeden Tag wieder beliebt sind … .)
Das war auch schon die Antwort, die der damalige Twitter-Pressesprecher gab, als vor über vier Jahren Vorwürfe von verschiedenen Aktivisten laut wurden, das Unternehmen zensiere seine Trend-Listen. Diese Listen reflektierten, worüber in diesem Moment mehr Menschen redeten als vor einer Minute, einer Stunde, einem Tag zuvor. Es gehe um die Beschleunigung der Konversation über ein bestimmtes Thema, hatte Twitter zuvor schon betont.
Torsten Beeck beschäftigt sich als Leiter Social Media bei „Spiegel Online“ auch mit Twitter und seinen Mechanismen. Er sagt, er könne sich theoretisch durchaus vorstellen, dass Twitter im Einzelfall auch in die Trends eingreift. „Wenn man sich aber anschaut, was da teilweise für abstruses Zeug auftaucht, kann ich mir persönlich nicht vorstellen, dass das im Fall ‚abmerkeln‘ auch passiert ist.“
Für ihn sei die wahrscheinlichste Erklärung für das Verschwinden, dass Twitter einen relativ kurzen Zyklus für die Trends definiert hat:
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass in Deutschland bereits wenige Hundert Tweets mit einem Hashtag ausreichen, um in die Trending Topics zu gelangen. Genauso schnell verschwinden die Themen aber auch wieder, wenn die Welle abflaut. Themen verschwinden wieder aus den Trends, wenn sie schon länger trending sind, selbst wenn das Volume anhaltend hoch ist. Meine Annahme: Sonst würden die Trends weitestgehend von One Direction, Justin Bieber und irgendwelchen Youtubern bestimmt werden und so komplett ihre Aussagekraft verlieren.
Tja. Der Algorithmus ist, wie so vieles bei diesen Unternehmen, eine Black Box. Und zudem ist unbekannt, in welchen Fällen es ihn auch noch außer Kraft setzt, um von Hand unliebsame Ergebnisse zu vermeiden.
Aber wenn sich das Verschwinden eines Hashtags aus den offiziellen Trending Topics nach einem Tag durch eine Berechnungsregel erklären lässt, die das Unternehmen selbst und seit Jahren auf seiner Homepage angibt – dann war es womöglich doch kein bewusster Eingriff, um die Gegner von Angela Merkel und die „Junge Freiheit“ mit ihrer vielfach geteilten Falschmeldung klein zu halten.
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