Politischer Selbsttest

Die „Zeit“ sucht die politische Mitte – und findet lauter Radikale

Links, rechts oder fest im Zentrum? Mit einem digitalen Schnelltest können sich Leserinnen und Leser der „Zeit“ im politischen Spektrum verorten. Die Ergebnisse sind teilweise spektakulär, beispielsweise bei einem prominenten Politiker – und sie sorgen für Empörung in allen Lagern. Zu Recht?
Grafik mit dem Logo der „Zeit“, darunter ein Balkendiagramm und die Aufschrift: „eher links", „Mitte“, „eher rechts“.
Montage: Übermedien

Je stärker die politischen Ränder, umso mehr erscheint die „Mitte“ als Sehnsuchtsort. „Fast alle wollen dazugehören“, schrieb die „Zeit“ in der vergangenen Woche gegen den Trend der jüngsten Wahlergebnisse und veröffentlichte einen digitalen Selbsttest. „Gehören Sie zur politischen Mitte?“, lautete die Gretchenfrage – Antwort bekommt, wer sich zu 13 Fragen von der Klima- bis zur Steuerpolitik positioniert.

Auf den ersten Blick erinnert das ein wenig an die „Psycho-Tests“ der „Bravo“ („Bin ich verliebt?“, „Bist du in einer toxischen Beziehung?“, „Wie viel Einhorn steckt in dir?“). Tatsächlich ist der „Zeit“-Test natürlich weitaus ausgeklügelter – und fördert dennoch einiges Gift in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu Tage.

„Deutlich mehr Resonanz als erwartet“

Als Basis nahm die Redaktion empirische Daten aus der German Longitudinal Election Study (GLES) der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung und des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften, einer repräsentativen Befragung von mehr als 7.000 Wahlberechtigten. Aus dem Fragenkatalog dieser Langzeitstudie suchte sich die „Zeit“ 13 Fragen aus und übertrug die Antwortoptionen in ein Rechts-Links-Schema: Wem etwa die staatlichen Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen „heute schon viel zu weit“ gehen, vertritt demnach eine rechte Position, wer die Steuern für Reiche erhöhen möchte, eine linke. 

Die User:innen können die Forderungen unterschiedlich stark befürworten oder ablehnen. Anschließend erhalten sie eine Auswertung zu den einzelnen Fragen, aber auch ein Gesamtergebnis auf Basis eines Mittelwerts aus allen Antworten. Eine Balkengrafik sortiert sie anschaulich „eher links“, „eher rechts“ oder eben am Sehnsuchtsort, in der „Mitte“, ein. Die Visualisierung verrät zudem, welcher Anteil der Gesellschaft (noch) weiter links oder rechts steht als man selbst.

Das alles könnte ein spielerisches Online-Tool sein, das einfach ein bisschen Spaß macht, womöglich viele Klicks bringt und bestenfalls ein bisschen zum Nachdenken anregt. Es wurde dann aber doch ein bisschen größer. 

„So schnell ist man ein Nazi“

„Das Projekt hat sehr viele Leute interessiert und deutlich mehr Resonanz hervorgerufen, als wir erwartet hatten“, sagt Christian Endt, stellvertretender Ressortleiter Daten und Visualisierung bei der „Zeit“, im Gespräch mit Übermedien. Nutzerzahlen nennt die Redaktion nicht. 

In den sozialen Medien kam man an den Rechts-Links-Balkengrafiken kaum vorbei. Über Tage hinweg posteten Menschen ihre Testergebnisse. Nicht selten mit erstaunten, empörten oder hämischen Kommentaren – weil der „Zeit“-Test sie entweder sehr, sehr weit rechts (X-User:innen) oder sehr, sehr weit links (Bluesky-Nutzende) verortet hatte. 

Manche unterstellten der „Zeit“, mit ihrem Test eine Agenda zu verfolgen, nämlich die halbe Welt wahlweise als Links- oder Rechtsaußen abstempeln zu wollen. Auch einige traditionelle Medien griffen die Kritik auf. „So schnell ist man Nazi“, empörte sich Alexander Grau im „Cicero“ über die vermeintliche Aussage des Selbsttest. Bei „Focus Online“ schimpfte Chefkorrespondent Ulrich Reitz darüber, dass „ein Gesinnungstest zum Desaster wird“ – er selbst sah sich „plötzlich rechter als die AfD“ positioniert, unter anderem, weil er eine „von oben verordnete“ gendergerechte Sprache ablehne. (Gendern, das Lieblingsthema von Menschen, die alles, aber auf keinen Fall links sein wollen, durfte bei den 13 Fragen natürlich nicht fehlen.) Es schien, als hätte die „Zeit“ auf der Suche nach der politischen Mitte nur lauter Radikale aufgespürt. 

Ein visuelles Missverständnis

Zum Teil basiert das auf einem Missverständnis, das die Redaktion mit ihrer Grafik allerdings selbst provozierte. Denn unter den Balken, die für die gut 7.000 Antworten aus der Repräsentativbefragung stehen, sind die fünf im Bundestag vertretenen Parteien verzeichnet. Schon deren Verortung bot reichlich Diskussionsstoff: Die rechtsextreme AfD ist dort nämlich keineswegs rechtsaußen angesiedelt, sondern irgendwo zwischen „Mitte“ und „eher rechts“. Die Grünen wiederum stehen noch links von den Linken. Und rechts von der AfD sowie links von den Grünen bleibt ganz viel Raum, in dem sich zahlreiche Selbsttester:innen wiederfanden, zu ihrem eigenen Erstaunen. 

Tatsächlich aber geht die Stelle, an der die Parteien stehen, weder auf eine redaktionelle Einschätzung der Parteiprogramme zurück, noch markiert sie ihre gemittelten Positionen zu den 13 Fragen. Es geht in der Grafik gar nicht um die Parteien, sondern um die Positionen ihrer Wähler:innen – also darum, welche Antworten die 7.000 Menschen in der Repräsentativbefragung gegeben hatten, sortiert danach, ob sie bei der Bundestagswahl 2025 ihr Kreuz bei der CDU, der SPD usw. gemacht hatten. In ihrer Grafik machte es sich die „Zeit“ einfach und nannte nur das Parteikürzel. 

Was es damit auf sich hat, erklärte die Redaktion zunächst nur etwas versteckt in einer Box. Drei Tage, nachdem der Test veröffentlicht worden war und längst hohe Wellen schlug, reagierte sie und ergänzte am unteren Rand der Balkengrafik den Hinweis: „Wir haben in der Ergebnisübersicht deutlicher gemacht, dass mittlere Positionen der Parteianhänger dargestellt werden, nicht die Positionen der Parteien selbst.“ Das ist besser als am Anfang – wirklich klar wird es trotzdem nicht unbedingt, zumindest nicht auf den ersten Blick. 

FDP-Chef ganz rechts außen

Es hagelte auch methodische Kritik. „Ihr systematischer Fehler ist es, alle politischen Themen in ein Links-Rechts-Schema zu pressen und weitere Kategorien wie liberal versus autoritär zu ignorieren. Das Ergebnis ist hochgradiger Blödsinn“, hielt Dennis Heinert, stellvertretender Sprecher des Hamburger Senats, der „Zeit“ in einem LinkedIn-Kommentar vor. „Das ist der gröbste Unfug, der mir seit ewigen Zeiten von einem seriösen Medium untergekommen ist“, kommentierte Politikberater Frank Stauss in derselben Diskussion, in der Nutzer:innen die wissenschaftlichen Grundlage vermissten sowie die arg verkürzten Fragestellungen bemängelten. Das Testschema suggeriere eine stärkere Radikalisierung, als sie tatsächlich gegeben ist, so ein weiterer Vorwurf.

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In der Tat förderte der Test einige lustige Ergebnisse zu Tage. So postete der FDP-Vorsitzende Christian Dürr auf X eine Grafik, die die „Zeit“ offenbar auf Basis seiner Antworten ausgespuckt hatte: Der Freidemokrat steht demnach so weit rechts außen, dass rechts von ihm gerundete „0 %“ der übrigen Gesellschaft stehen. 

„Das Tool ist eine Art Reality Check“, meint Christian Endt: „Viele denken, dass ihre eigenen Einstellungen viel verbreiteter sind, als das in der Gesellschaft tatsächlich der Fall ist. Die Irritation bei manchen Usern bestätigt das.“ Zugleich stellt der Datenjournalist klar, dass das Online-Instrument gerade „kein Extremismustest“ sei: „Wir messen, wie weit politische Einstellungen von denen der gesellschaftlichen Mehrheit abweichen – die Fragen bewegen sich aber alle innerhalb des demokratischen Spektrums.“

Nicht alles passt auf die Rechts-Links-Achse

Von der Hand zu weisen sind die Argumente der Kritiker:innen jedoch nicht. Das beginnt bei der Frage, inwieweit das eindimensionale Rechts-Links-Schema überhaupt noch taugt, um politische Positionen zu verorten. 

Dass wir bis heute „linken“ und „rechten“ Parteien sprechen, geht auf die Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung nach der Revolution von 1789 zurück: Rechts vom König saßen die reaktionären Aristokraten, links die republikanischen Revolutionäre. Die beiden Pole lauteten elitär und egalitär, später am ehesten konservativ und progressiv – und schon darüber ließe sich streiten. 

An einer Partei wie der FDP, die einst sowohl wirtschafts- wie auch gesellschaftlich liberale Positionen vertrat, scheitert das Raster. Politische Strömungen wie der Populismus passen erst recht nicht hinein, das BSW etwa lässt sich auf einer Links-Rechts-Achse nicht verorten. Ebenso schwierig ist es bei inhaltlichen Positionen. Der Klimaschutz muss nicht zwingend ein „linkes“ Anliegen sein, genauso gut kann er auch das konservative Narrativ vom Bewahren der Lebensgrundlagen bedienen. Hinzu kommt: Wer in allen Fragen möglichst radikale Positionen vertritt, dabei aber mal vermeintlich linke, mal vermeintlich rechte, steht am Ende genau in der Mitte – was eine eigentümliche Betrachtung ist. 

Auf Trigger-Wörter verkürzt 

Hinzu kommt ein weiteres Problem. Dass ein Online-Tool – wie beispielsweise auch der Wahl-O-Mat – politische Komplexität reduzieren muss, leuchtet natürlich ein. Das gelang im „Zeit“-Test bei der Auswahl von Themen und dem Formulieren von Fragen nicht immer glücklich. „Sollte man die Zuwanderung nach Deutschland beschränken?“, heißt es da – ohne zu unterscheiden, um welche Art von Zuwanderung es geht. Die Gender-Sprache („zum Beispiel ‚Bürger*innen“) führt der Fragebogen nur als „Maßnahme“ ein, ohne zu verraten, ob diese freiwillige Optionen oder Schreibvorgaben sein sollen. Jede Antwort wird so vor allem zum Reflex auf ein Trigger-Wort.

Auch bei der „europäischen Einigung“ steht nirgends, wie diese aussehen könnte. Wahrscheinlich stellt jeder Antwortende sich darunter etwas anderes vor. Ergibt es Sinn zu schließen, dass Befürworter eher links ticken? Und ist, wer gegen ein „deutliches“ Kürzen des Bürgergeld klickt, ebenfalls zwingend ein Linker? Oder könnte die Ablehnung auch von jenen kommen, die bloß verstanden haben, dass das Bundesverfassungsgericht das Existenzminimum geschützt hat und eine deutliche Kürzung der Sozialtransfers ausgeschlossen sind?

Einen Teil der Kritik nimmt man bei der „Zeit“ an, insbesondere in Bezug auf die Darstellung. „Wir stehen weiterhin hinter der Geschichte und unserer Methodik“, sagt Christian Endt. „Aber wir setzen uns mit der Kritik natürlich auseinander und thematisieren sie auch auf zeit.de. Missverständnisse in der Interpretation hätten wir gerne vermieden.“ 

Jesus – ein Radikaler

Dabei hätte eine andere grafische Aufbereitung sicher geholfen. Denn letztlich sind die möglichen Antworten des Selbsttests fast ausnahmslos wenig radikal. Abgefragt wurden eher viele shades of Mitte – nur das Ergebnis konnte allzu leicht nach verdammt weit rechts oder verdammt weit links aussehen. „Jesus von Nazareth war ein Linksradikaler“, schrieb ein LinkedIn-Nutzer, der den Test als „einigermaßen bibelfester, Kirchensteuer zahlender Katholik“ im Sinne des Heilands ausgefüllt haben will. Er hatte damit nicht ganz Unrecht. 

Der sicherste Weg, sich von der „Zeit“ in der Mitte verorten zu lassen, war es, sich einfach gar keine Meinung zu leisten. Wer sich bei allen 13 Fragen nicht positionierte und stattdessen die Option „teils/teils“ auswählte, fand sich am Ende im Zentrum der Grafik wieder. Vielleicht liegt darin ja das Fünkchen Wahrheit hinter all den Balken: Die Mitte ist dort, wo die Ratlosigkeit besonders groß ist und sich die Menschen zu keiner Haltung durchringen können. 

Und ebenfalls lässt sich sagen: Die „Zeit“ hat, was sie wollte. Für ihren Selbsttest bekam sie Ärger von Links und Ärger von Rechts, und zwischen all der Empörung steht sie genau in der Mitte. Dort, wo fast alle hingehören möchten.

3 Kommentare

  1. Ok, anderswo schreiben Journalisten mit KI-Unterstützung zu 100% für Google.
    Bei der Zeit baut man sich mit viel humanen Hirnschmalz eine Rage-Bait-Umfrage. Da sieht man doch, das Qualitätsjournalismus nicht tot ist.

    „Zum Teil basiert das auf einem Missverständnis, das die Redaktion mit ihrer Grafik allerdings selbst provozierte.“ Ja, wenn jemand eine völlig missverständliche Graphik veröffentlicht, hat der Jemand nicht etwa einen fetten, dummen und ultraleicht zu vermeidenden Fehler gemacht, bei dem der Verdacht, dass das Absicht war, irgendwie von alleine aufkommt, sondern es heißt, er hätte ein „Missverständnis _selbst_ provoziert“. Ich verstehe ja, dass auch eine Seite über Medienkritik ihre Kollegen nicht mit victim-blaming überziehen will, aber so viel Samthandschuhe müssen es auch nicht sein.

    „Wer sich bei allen 13 Fragen nicht positionierte und stattdessen die Option „teils/teils“ auswählte, fand sich am Ende im Zentrum der Grafik wieder.“
    Da stellt sich mal die Frage, warum es keine Fragen gab, die nur die eine Hälfte des Spektrums abfragen? Wer bspw. die Kollektivierung der Produktionsmittel gutheißt, ist wohl links, aber wer sie ablehnt, könnte auch Mitte sein. Oder wer eine völkisch definierte Staatsangehörigkeit ablehnt, ist wohl nicht rechts, aber vielleicht „trotzdem“ Mitte.

    Wenn die Zeit „Mitte“ nur als Wischi-Waschi-Kompromiss aus Rechts und Links begreifen kann, muss man sich über sowas nicht wundern.

  2. Naja. Um das unsägliche eindimensionale Einsortieren nach rechts und links vielleicht ein wenig zu hinterfragen, taugt die Umfrage ja vielleicht doch.

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