Wo immer was läuft

Das beste Ritual zwischen den Jahren: lineares Fernsehen gucken

Was man gewinnt, wenn man einfach mal zappt und irgendwo hängenbleibt, statt sich in der Auswahl von Mediatheken und Streamingdiensten zu verlieren.
Lineares Fernsehen, gedruckt

Der Papst starb inmitten schottischer Rinder. Anders als bei Johannes Paul II., dessen Todesnachricht die RTL-Übertragung der ECHO-Verleihung 2005 unterbrochen hatte (und der deswegen für mich immer mit Schnappi, dem kleinen Krokodil, verbunden sein wird), war es bei Benedikt XVI. ein Laufband am unteren Bildrand (oder Crawl, wie wir beim Fernsehen sagen), das mich am Silvestermorgen vor zwei Jahren während einer Reisereportage auf Phoenix darüber informierte, dass der emeritierte Papst statt Stadt und Erdkreis das Zeitliche gesegnet hatte.

Ich hatte den Ereignis- und Dokumentationskanal von ARD und ZDF eingeschaltet, weil Weihnachtsferien waren und es seit Jahrzehnten zu meinen Weihnachtstraditionen gehört, die Zeit zwischen den Jahren vor dem Fernseher zu verbringen. Das konkrete Gerät ist im Laufe der Zeit immer größer und flacher geworden, die Empfangsmethoden haben sich geändert, ich hätte heute die Auswahl zwischen sieben Streamingdiensten und zahlreichen Mediatheken, aber meine selbst auferlegte Regel für diese Zeit lautet: Ich gucke so wie früher, im linearen Fernsehen.

Das Schöne ist, dass dort immer etwas läuft (angeblich habe ich mir im Kindergartenalter deshalb das Lesen beigebracht, weil ich meinen Eltern nicht glaubte, dass „gerade nichts läuft“, und selbst die Fernsehzeitung studieren wollte). Das Blöde ist, dass dort immer etwas läuft. Die Auswahl an Sendern ist allerdings sehr viel größer als noch vor 25 Jahren, als meine Eltern den letzten Haushalt in Westdeutschland hatten, der über weder Kabel- noch Satellitenempfang verfügte, und ich mich mit dem WDR-Landesprogramm und RTL-Boulevardmagazinen begnügen musste.

Die Fernsehzeitschrift zum Anstreichen

Meine Ferien-Fernseh-Diät beschränkt sich auf Dokumentationen im weitesten Sinne – womöglich beeinflusst von legendären Sendereihen von vor Jahrzehnten, in denen die ARD ihre Korrespondenten wie Gerd Ruge, Klaus Bednarz und Fritz Pleitgen zwischen Weihnachten und Neujahr durch fremde Länder schickte. Bis vor ein paar Jahren habe ich mir sogar immer noch extra eine Fernsehzeitschrift gekauft, um mich vorab zu informieren und Sendungen, die mir interessant erschienen, rot anzustreichen, wie meine Großmutter es immer getan hatte. Heute kann ich im EPG nachschauen, was in den nächsten Stunden wo laufen wird, aber der wahre Geist der Weihnachtsferien ist es eigentlich, zu zappen und irgendwo hängenzubleiben.

„Verrückt nach Meer“, „Deutschlands Schätze“, „Rom am Rhein“, „Als der Norden im Schnee versank“ Screenshots: ARD, ZDF, NDR

Schlagerstar Patrick Lindner geht bei „Verrückt nach Meer“ auf Kreuzfahrt? Ich bin dabei! Die römische Besiedlungsgeschichte Deutschlands? Ich bin 20 Kilometer entfernt von Xanten aufgewachsen, da gucke ich diese „Terra X“-Folgen gerne ein drittes Mal! Irgendwo werden Backsteine gebacken? Ich liebe das Aussehen von Backsteinen, habe aber eine eher grobe Vorstellung, wo sie herkommen – und bin mittendrin in einer eigenen „Terra X“-Unterreihe mit dem Geologen Colin Devey.

Die ganze Zeit navigiere ich zwischen 3sat, Phoenix, ARD-Alpha und ZDF-Info, mit gelegentlichen Ausflügen zu n-tv, „Welt der Wunder“ und den dritten Programmen (stellt sich raus: Es gibt erstaunlich viele unterschiedliche Dokumentationen über den Jahrhundertwinter von 1978/79 und ich habe sie alle gesehen!). Meine interne Hierarchie sieht dabei in etwa so aus: Reise- vor Naturdoku, Geschichte vor Weltraum (dabei: Neuzeit vor Antike vor Mittelalter), Eisenbahnen vor Schiffen vor Reisedokus ohne Verkehrsmittel und alles lieber als irgendwelche Ranking-Shows.

Ich würde jetzt gerne behaupten, dass ich danach schlauer wäre, aber die Wahrheit ist, dass eigentlich nur Bruchstücke von Informationen hängenbleiben, so dass ich allenfalls eine dunkle Ahnung habe und alles noch mal googeln muss, wenn ein Gespräch mal zufällig auf ein Thema kommt, das ich in meinem Doku-Marathon gestreift habe. Aber es sind ja am Ende eben auch Weihnachtsferien, ich bin zum Vergnügen hier, und das Ganze ist ein Ritual wie Kirche an Heiligabend – und wer weiß da noch hinterher, worum es in der Predigt ging?

Der Reiz des sanften Zwangs

All diese Inhalte könnte ich mir natürlich auch in den Mediatheken der jeweiligen Sender anschauen, aber es wäre nicht dasselbe: Erstens wäre ich – wie bei allen Streaming-Angeboten – völlig überfordert, würde mich eine halbe Stunde durch die Menüs klicken und dann doch nichts gucken. Zweitens verhält sich lineares Fernsehen zu Mediatheken wie Radio zu Musik-Streamingdiensten bzw. Podcasts: Man sieht sich plötzlich mit Themen und Inhalten (im Falle von Radio auch: Musik) konfrontiert, die man nicht unbedingt von sich aus konsumiert hätte.

In diesem sanften Zwang, der freundschaftlichen Herausforderung, liegt meines Erachtens der Reiz von Medien. Jedes Mal, wenn ich eine tatsächliche Zeitung durchblättere (und da ist es egal, ob gedruckt auf Papier oder als PDF auf dem Tablet), stelle ich fest, dass ich ganz andere Artikel lese, als wenn ich die Website oder App des gleichen Mediums benutzen würde: Überschriften, Fotos, das Layout der Seiten ziehen mich zu Artikeln und in sie hinein und plötzlich interessiere ich mich für ein paar Minuten für die freiwillige Feuerwehr in einem kleinen Ort in Brandenburg oder Bauern in Nicaragua. Das gleiche gilt für Radioprogramme (oder zumindest jene, die über die reine Format-Hölle der größten Hits und Mitmach-Aktionen hinausgehen).

Wer früher eine Tageszeitung abonniert hatte (und das waren sicherlich die allermeisten Haushalte) oder konsequent einen Radiosender hörte, konnte mehr aus der Welt jenseits des eigenen Blickfelds mitbekommen als Menschen, die heute theoretisch Zugriff auf alle Informationen der Menschheitsgeschichte hätten, ihr Weltbild aber praktisch von Gabor Steingart oder Jan Böhmermann serviert bekommen.

Ich könnte die allermeisten Songs, die jemals aufgenommen wurden, heute innerhalb von Sekunden hören, aber dann hört man eben nur das, was man schon kennt und nicht längst wieder vergessen hat. Dabei gibt es wenig, was so leicht und verlässlich Glücksgefühle hervorruft wie ein Lied, das man vor langer Zeit mochte, an das man ewig nicht gedacht hat, und das dann plötzlich mal wieder im Radio läuft. (Die Betonung liegt auf „mal wieder“ – einmal nach Jahrzehnten wieder „Aloha heja he“ von Achim Reichel zu hören, erweckt Kindheitserinnerungen zum Leben; wenn es danach jeden zweiten Tag auf Rotation läuft, nervt es schon beim zweiten Mal.) Die Algorithmen von Spotify sind erstaunlich gut darin, einem Musik vorzuschlagen, die so ähnlich klingt wie die, die man eh schon hört, aber Songs, die anders sind und einem trotzdem gefallen, wird man auch heute noch eher im Radio oder im Café hören.

Der Fluch der Bubblebildung

Man muss nicht in allem eine weltpolitische Dimension sehen, aber es wäre auch ein bisschen ignorant, in diesen Zeiten der zunehmenden Bubblebildung keinen Zusammenhang zu sehen zwischen sich verengenden Ansichten und fehlender Exposition. Seine neue Leibspeise entdeckt man ja auch nicht dadurch, dass man jede Woche das gleiche isst. Um zu wissen, dass mich der Glacier Express in der Schweiz interessiert, muss ich erstmal eine Fernsehsendung darüber gesehen haben (oder fünf).

Seit ich vor drei Jahren durch das lineare Fernsehen in die Darts-WM geraten bin, die ebenfalls jedes Jahr während der Weihnachtsferien stattfindet, und mich diese absurde, knuffige Sportart in ihren Bann gezogen hat, komme ich unterm Tannenbaum leider kaum noch dazu, anderes lineares Fernsehen zu gucken.

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