5 Jahre „Tatortreiniger“

Das Geheimnis des einsamen Putzwolfs

Männer in weiß
Männer in weiß: Aus der neuen Folge „Sind Sie sicher?“ Foto: NDR

„Wenn Sie abends in den Spiegel gucken, wen sehen Sie da?“, fragt der aufdringliche Unternehmensberater den schnauzbärtigen Herrn, der ihm gerade im weißen Overall einen riesigen Blutfleck aus dem Büroteppich schrubbt. Und der antwortet, genervt von der analytischen Penetranz: „Da seh‘ ich einen, mit dem ich abends gerne noch mal ’n Bierchen trinken geh!“ Im Gegensatz zu dem Typen im Spiegel hätten regelmäßige Zuschauer des „Tatortreinigers“ zwar die Wahl, sich anzuschließen (oder nicht). Vermutlich würden die meisten aber ganz gerne mal mit Heiko Schotte am Tresen landen.

Vielen ist „Schotty“ in den vergangenen Jahren ein guter Kumpel geworden: Lässt zwar das ganze Jahr nicht viel von sich hören, der Arsch, taucht dann aber regelmäßig in der Vorweihnachtszeit wieder auf und benimmt sich, als sei er nie weggewesen.

Fünf Jahre ist die erste Begegnung jetzt her: Am 23. Dezember 2011 brachte der Norddeutsche Rundfunk (NDR) seinen „Tatortreiniger“ zur Welt, mitten im Nachtprogramm – von 3.34 Uhr bis 4.02 Uhr; die übrigen Folgen wurden über die Feiertage weggesendet und dann nochmal ohne viel Tamtam Anfang Januar wiederholt. Aber vielleicht hat’s die anschließende Diskussion über die stiefmütterliche Sendeplatzauswahl auch gebraucht, um aus einem Serien-Experiment einen Nischen-Hit werden zu lassen. Heute gilt „Der Tatortreiniger“ als Beleg dafür, wie toll öffentlich-rechtliches Fernsehen sein kann, wenn es den Machern bloß freie Hand lässt.

Die Kritiken zu jeder neuen Staffel fallen bei Zuschauern und Kritikern stets überschwänglich aus, was eigentlich gegen alle Fernsehgesetze ist. Nach 25 ausgestrahlten Folgen bleibt die Frage: Wie zum Teufel konnte das passieren?

Die kurze Antwort lautet: Weil beim „Tatortreiniger“ fast alles anders läuft als bei den meisten deutschen Serien.

Die lange Antwort hat Hauptdarsteller Bjarne Mädel neulich in einem Kreuzberger Café parat, und sie beginnt mit dem Satz: „Im Grunde genommen bin ich in jeder Folge der Nebendarsteller.“

Das Prinzip der Episoden ist jedes Mal dasselbe: Ein Mensch ist unerwartet aus dem Leben geschieden, und Fachputzkraft Schotte von der Firma Lausen wird mit seinem Chemiekoffer gerufen, um das Gesprotzel zu beseitigen. Dabei ergibt es sich von selbst, dass Schotty ins Gespräch kommt mit Angehörigen, Liebhabern, Arbeitskollegen, Mördern – Leuten, die sich ohne diesen Tod im Leben nicht begegnet wären, aber sich plötzlich über die Trauer, den Job, ihre Werte und Träume unterhalten.

„Ich habe die Hauptrolle in einer Serie, die fast nie die Szenen führt“, sagt Schauspieler Mädel über die Besonderheit, dass es eigentlich immer erstmal um das Leben der anderen geht. „Das heißt aber auch: Ich habe über viele Folgen die Chance, etwas über meine Figur zu erzählen. Die anderen Figuren hingegen haben nur diese eine Chance. Uns war am Anfang gar nicht so klar, wie sich das entwickelt. Aber eigentlich finde ich das genial.“

Hauptdarsteller Bjarne Mädel (l.) und Regisseur Arne Feldhusen
Bjarne Mädel (l.) und Regisseur Arne Feldhusen Foto: NDR

Dabei war das eigentlich ganz anders geplant: Ursprünglich hatten Regisseur Arne Feldhusen und Mädel den Wunsch, eher horizontal zu erzählen, also mit fortlaufender Handlung. Autorin Mizzi Meyer – das Pseudonym der Theater-Dramaturgin Ingrid Lausund – und der Sender votierten dagegen. Und behielten Recht. Dass jeder Auftrag Schottys einen neuen Ort, einen anderen Ablauf und eine unvorhersehbare Begegnung mit sich bringt, gehört zu den größten Stärken der Serie. Weil es die Beteiligten dazu anspornt, immer wieder zu überlegen, welche besondere Inszenierung zu genau dieser Geschichte passt. Und den Zuschauern etwas zuzumuten, dass sie aus der erzählerischen Routine reißt.

„Jede Folge steht zunächst einmal für sich“, sagt Mädel. Deshalb versuchen die Kameramänner Kristian Leschner und – in den neuen drei Folgen – Eric Ferranti auch jedes Mal, den Erzählungen mit einem anderen Kamerakonzept etwas Eigenes zu geben“, sagt Mädel.

Manche bleiben schon wegen ihrer visuellen Umsetzung in Erinnerung: In „Angehörige“ ist Schotty auf engstem Raum mit einem Zauberer in dessen magischer Box gefangen und quetscht die Zuschauer gerade noch so mit rein; in „Der Fluch“ gerät er in einen scheinbar endlosen Loop, der immer den gleichen Moment wiederholt; in „Carpe Diem“ irrt er durch die Escher-haften Endlosflure einer Behörde; und in der neuen Folge „Sind Sie sicher?“ kommt er wie in einer optischen Täuschung gleich zweimal dieselbe Treppe hoch.

Die Musik wird passend zur Atmosphäre der jeweiligen Geschichte von Carsten „Erobique“ Meyer komponiert: „Der doppelt nicht einfach die Emotion der Szene auf musikalischer Ebene, wie es im deutschen Fernsehen ganz oft passiert“, findet Mädel, „sondern fügt dem noch mal eine weitere Ebene hinzu.“ So wie das Getrippel in „Özgur“ (Episode 27), wenn Schotty auf einem Bauernhof mit einer Hochschwangeren (Sandra Hüller) über Vorurteile streitet und dabei von ihren Geburtsübungen einen tonalen Schwindel verpasst bekommt, der sich nach und nach über den ganzen Hof legt.

Auf die Folge mit Hüller, die für ihre Rolle in Maren Ades Film „Toni Erdmann“ gerade den Europäischen Filmpreis bekommen hat, ist Mädel besonders stolz: „Wenn man so tolle Kollegen wie Sandra hat, fühlt sich das ja oft nicht an wie Spielen. Die Szenen passieren einfach.“

Starbesetzung: Sandra Hüller in der neuen Folge "Özgür"
Starbesetzung: Sandra Hüller in der neuen Folge „Özgür“ Foto: NDR

Vor allem passiert’s inzwischen aber, dass Mädel mit all den Schauspielkollegen vor der Kamera steht, die er vor der eigenen Karriere auf der Theaterbühne bewundert hat. „Manche Kollegen haben wir mit selbstgebackenem Kuchen überredet. Wir lassen dann auch nicht locker“, sagt Mädel. Matthias Brandt hatte eine Gastrolle als zum Abschluss glücklich furzender Hygienefanatiker, Jean-Pierre Cornu war als klositzender Axtmörder dabei, und um Bettina Stucky zu kriegen, hat das Team die geplante Folge „Geschmackssache“ vorübergehend auf Eis gelegt: „Wenn Arne und ich eine Schauspielerin oder einen Schauspieler im Kopf haben, der eine Rolle spielen muss, warten wir notfalls auch ein Jahr!“

Eigentlich müsste er ziemlich aufgeregt sein, vor all den namhaften Darstellern überhaupt bestehen zu können, meint Mädel. „Aber das Tolle ist: Ich hab diese Angst nicht. Ich hab ja Schotty.“

Dem Publikum geht es genauso: Schotty ist einer, auf den man sich verlassen kann. Der mit unbedarfter Gelassenheit in Gespräche hineinstolpert, ohne Scheu los plaudert und nicht im Verdacht steht, dabei unnötig intellektuell wirken zu wollen. Er hat ein gutes Gespür dafür, was richtig und falsch ist, ungeheure Straßenklugheit, klare Moralvorstellungen – und vor allem: trockenen Humor.

Wenn ihn ein Bauer auf dem Weg zum Einsatzort trotz des Wagens mit der riesigen Putzkolonnenaufschrift fragt, ob er auch von der Polizei sei, flüstert Schotty: „Vom Geheimdienst! Aber nicht weitersagen. Soll ja geheim bleiben.“ Kaum angekommen, tritt er bei der Begrüßung der Schwangeren ins Fettnäpfchen: „Erstes Mal? Und dann gleich Zwillinge!“ Keine zehn Minuten haben sich die beiden schon in einer emotionalen Diskussion verhakt – und Schotty muss sich zu seinem Entsetzen als schrecklicher Spießer entlarven lassen. „Um das zuzugeben, ist er dann doch zuviel Rock’n’Roll“, findet Mädel. „Schotty denkt schon von sich, eine ziemlich coole Sau zu sein. Das Machohafte ist schon auch Teil seines Wesens.“

"Bin vom Geheimdienst. Aber nicht weitersagen."
„Bin vom Geheimdienst. Aber nicht weitersagen.“ Foto: NDR

Die Fähigkeit, offen auf Unbekannte zuzugehen, hat sich Mädel vom echten Tatortreiniger abgeschaut, mit dem er sich zur Rollen-Vorbereitung getroffen hat und weiter in Kontakt steht. „Als ich Christian Heistermann kennengelernt habe, der diesen Beruf ja tatsächlich ausübt, wirkte der auf mich genau so: mit beiden Beinen auf dem Boden, offen, sehr vorurteilsfrei, wenn er auf Menschen trifft – vor allem mit einem großen Herz, obwohl ihn dieser Job zunehmend belastet.“ Heistermann hat gesagt: Für ihn ist das ein sozialer Beruf. Er nehme den Angehörigen im Moment der Trauer eine zusätzliche Last ab. „Die Art, wie er über diese Situationen gesprochen hat, hat sich mir eingeprägt. Ich wusste: Genau so ein Typ muss Schotty sein“, erinnert sich Mädel.

Schottys Direktheit wiederum, die ihm keine andere Wahl lässt, als anderen gerade heraus zu sagen, was er denkt, ist von Larry David aus „Curb Your Enthusiasm“ abgeguckt. „Ich hab die Serie inhaliert. Deshalb hat es mich gereizt, auch mal so eine Figur zu spielen.“

Dass man als Zuschauer im Laufe der inzwischen sechs „Tatortreiniger“-Staffeln zwar eine sehr genaue Vorstellung davon bekommt, wie Schotty tickt, aber fast nichts Persönliches von ihm erfährt, ist Absicht. Wir wissen, dass der Vater mit zwölf abgehauen ist, und die Trennung von Ex-Freundin Merle immer noch an ihm nagt. Viel mehr aber nicht. „Wir haben schon darüber gesprochen, was denn wäre, wenn Schotty in einer Folge mit Grippe zuhause bleiben muss. Aber das lehnt Mizzi bislang kategorisch ab, weil sie dieses Geheimnis behalten will“, erklärt Mädel. Schotty funktioniere besser als einsamer Wolf. „Und der braucht seine Geheimnisse.“

Dass die Geschichten zugleich immer detailreicher erzählt werden können, liegt an den Produktionsbedingungen, die der Sender dem Team inzwischen zugesteht. Das Budget reicht – wie in der Bauernhof-Folge – auch mal, um für eine einzige Szene einen Hubschrauber aufs Feld zu stellen. Mädel sagt: „Der war glaube ich nicht so viel teurer als die Kuh. Und leichter zu bedienen.“

Vor allem aber sind aus anfänglich zwei Drehtagen pro Folge inzwischen fünf geworden, die eine konzentriertere Arbeit möglich machen: einen ganzen Tag Leseprobe mit den Gastschauspielern, damit die in ihre Rolle finden. Einen kompletten Probetag am Set mit penibler Fotodokumentation jeder Einstellung. Dann erst wird gedreht.

Das haben sich Feldhusen und Mädel erkämpft, und man weiß nicht so genau: trotz oder wegen ihres ganz persönlichen Schotty-Moments, einem Interview, in dem sie vor zwei Jahren sehr deutlich Kritik an der Tendenz in der TV-Branche äußerten, aus Kostengründen Drehtage zu streichen. Nachher gab es zwar Lob von Kollegen, aber der Sender war sauer. Und Mädel vorsichtiger geworden.

„Bei Dreharbeiten ist das generell so: Wenn morgens etwas schief läuft, eine Lampe ausfällt oder der Nachbar laut den Rasen mäht, hängt man eigentlich schon hinterher und arbeitet die ganze Zeit mit dem Gefühl: Wir sind zu langsam, wir sind zu langsam! Bei zwei Drehtagen war das Pensum auch ohne Störungen schon – ich sag mal ’sportlich‘.“ Inzwischen bleibt Zeit, um mehr Einstellungen zu drehen, schöneres Licht zu setzen und Szenen noch mal ganz anders zu spielen als es im Buch steht. Sechs Minuten am Tag müssen es trotzdem werden – beim „Tatort“ sind es dreieinhalb: „Man kann also nicht sagen, dass große Gemütlichkeit bei uns ausgebrochen ist.“

Schon deshalb nicht, weil sich auch die Ansprüche der Fans verändert haben. „Ich hab das Gefühl, die Erwartungen an die Serie sind inzwischen riesig!“, sagt Mädel. „Es wird schwerer, sich Neues auszudenken, von dem die Zuschauer hinterher sagen: Die haben nicht nachgelassen. Genau das ist aber die Herausforderung.“

Dr. Schotty zur Geburt! Dr. Schotty, bitte!
Dr. Schotty zur Geburt! Dr. Schotty, bitte! Fotos: NDR/Throsten Jander

Am Mittwoch, wenn die dritte und letzte neue Folge für dieses Jahr gelaufen ist, und Schotty in einer Traumsequenz als weißgekittelter Geburtshelfer mit wallendem Haupthaar aus einem leicht bedienbaren Helikopter gesprungen ist, um der werdenden Mutter „Nennen Sie mich Raffael!“ zuzuhauchen, kann man’s ruhig noch einmal hinschreiben: Die haben nicht nachgelassen.

4 Kommentare

  1. Man stelle sich nur vor, wie unterhaltsam die hiesige Fernsehlandschaft wäre, wenn sich andere Produktionen auch nur ein klein wenig an die Qualität des Tatortreinigers anlehnen würden. Es wäre ein Traum!
    Auf Schotty freue ich mich genauso sehr, wie auf Game of Thrones oder neue Doctor Who Folgen. Drei verschiedene Serien, drei verschiedene Produktionsländer und alle teilen sich den unterhaltsamen Stellenwert.
    Freue mich, wenn es weitergeht und halte es freudig in Erinnerung, wenn dem mal nicht mehr so ist.

  2. Hmm, so gut der Artikel auch ist, es sollte „Kann Spuren von Spoilern enthalten.“ drüber stehen, meine ich.
    Und meint die Folge „Der Spuk“ (die ich nicht kenne) eigentlich die Folge „Der Fluch“?

  3. @Volker Burow: Korrekt! Danke für den Hinweis, ist korrigiert.
    Und wegen Spoiler: Ich hab überlegt, verrate aber nichts Handlungsrelevantes und habe mich deshalb gegen eine Kennzeichnung entschieden.

  4. …weil in über der NDR-Spalte in der Fernsehzeitung an den Sendetagen mit Tatortreiniger-Folgen auch nicht „Kann Spuren von ansehbarem Programm enthalten“ steht?

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