Die Bilder von Menschen, die sich in Panik an startende Flugzeuge klammern, sind uns allen noch im Gedächtnis. Vor drei Jahren zog die NATO unter der Führung des US-Militärs chaotisch aus Afghanistan ab, während die militant-islamistischen Taliban triumphierend in Kabul einzogen und nach zwanzigjähriger Abwesenheit die Macht im Land wieder übernahmen. Der afghanische „Saigon-Moment“ gilt seitdem als historischer Schandfleck.
Krieg ohne Exit-Strategie
Nach den Anschlägen des 11. September 2001 war die westliche Staatengemeinschaft in Afghanistan einmarschiert, um Demokratie und Menschenrechte zu verbreiten. Man stürzte dafür die Taliban, paktierte mit brutalen Warlords und korrupten Politikern und führte zwei Jahrzehnte lang einen Krieg ohne Exit-Strategie. Am Ende blieb ein failed state zurück.
Der Alltag in dem Land ist seitdem in vielerlei Hinsicht düster. Frauen dürfen keine weiterführenden Schulen und keine Universitäten mehr besuchen. Es bestehen zahlreiche Arbeitsverbote für Frauen. Aus dem afghanischen Fernsehen wurden Afghaninnen nahezu vollständig verbannt. Die Gender-Apartheid auf den Straßen wird von den „Sittenwächtern“ rigoros durchgesetzt. Diese Woche wurde bekannt, dass es ein neues „Tugendgesetz“ gibt, das es Frauen unter anderem verbietet, in der Öffentlichkeit zu singen oder vorzulesen. Hinzu kommt ein medialer Blackout. Die Taliban unterdrücken, kontrollieren und zensieren. Kein Medium kann aus Afghanistan frei berichten. Westliche Korrespondenten müssen sich beim Informationsministerium der neuen, alten Machthaber akkreditieren und detailliert Auskunft geben, worüber sie berichten wollen. Einheimische Journalisten, die unabhängig berichten wollen, werden gejagt, gefoltert und landen nicht selten monatelang im Gefängnis. Hinzu kommt das deutsche Versagen: Zurückgelassene Ortskräfte, die während des Einsatzes für die Bundeswehr oder deutsche Behörden gearbeitet haben, und andere gefährdete Afghanen und Afghaninnen, das Scheitern des Bundesaufnahmeprogramms und die unvollständige Aufarbeitung des Krieges mittels der Enquete-Kommission.
All diese Dinge würden eigentlich mehr als genug Stoff bieten, um sich dem dritten Jahrestag des Afghanistan-Disasters kritisch zu widmen. Doch RTL dachte offenbar, ein anderes Thema sei dringlicher und wichtiger: Urlaub in Afghanistan. Wer macht denn sowas? Ausgerechnet Geflüchtete, die in Deutschland Schutz erhalten haben?! Schauplatz der Doku: Von Afghanen geführte Reisebüros in Bahnhofsvierteln, Reisende an Terminals und natürlich TikTok. Mittels verpixelten und verwackelten Undercover-Bildern und Interviews mit Unbekannten wurde der vermeintlich große Scoop, die illegale „Masche“ jener, die ja angeblich Schutz suchen, serviert. Die Reporterin Liv von Boetticher habe aufgedeckt, „wie groß die Industrie ist, die dahintersteckt und wer davon profitiert“, heißt es in einem Text bei RTL.
Alles, was nach diesem Bericht kam, der vergangene Woche im Magazin „Extra“ gesendet wurde, war praktisch vorprogrammiert: rechte Kanäle, die empört den Content teilen, die üblichen, empörten Schlagzeilen wie auf Seite 1 der „Bild“, Forderungen nach stärkeren Kontrollen und konsequenten Abschiebungen.
Nicht investigativ, sondern sensationslüstern
Das Narrativ des RTL-Beitrags ist eindeutig: Afghanische Geflüchtete reisen mit ihrem Konventionsreisepass („blauer Pass“) in ihre Heimat, um Urlaub zu machen, während sie in Deutschland behaupten, verfolgt zu werden und Schutzstatus „genießen“. Unterstützt werden sie dabei von Reisebüros, die ihnen etwa ein iranisches Visum verschaffen. Über den Iran, wo viele afghanische Geflüchtete leben, geht es dann weiter nach Afghanistan. Dort wird bei Ein- und Ausreise meist nur das iranische Visadokument (oder irgendein anderer Zettel) abgestempelt. Im blauen Pass landet also kein Stempel, mit der man der Person nachweisen könnte, dass sie in Afghanistan war.
Der Film lässt allerdings viele Infos weg. In Afghanistan gilt: Wer im Land geboren wurde, braucht keine zusätzlichen Einreisedokumente. Welche Art von Pass man hat, spielt keine wichtige Rolle. Die afghanische Diaspora gehört zu den größten weltweit. Ausländische Pässe jeglicher Art sind weit verbreitet und nicht ungewöhnlich. Grenzbeamte schauen meist nur auf den Geburtsort. Selbst in meinem Fall (Geburtsort Innsbruck, Österreich) wird kaum weiter gefragt, sobald ich mit dem Grenzbeamten Dari oder Paschto spreche und das Kabuler Viertel meiner Familie nenne – obwohl im Ausland geborene Afghanen offiziell eine Art Einreiseerlaubnis bzw. Herkunftsbestätigung, die man in Botschaften und Konsulaten erhält, benötigen.
Der Autor
Emran Feroz ist österreichischer Journalist und Autor mit afghanischen Wurzeln. Er arbeitet unter anderem für „Deutschlandfunk Kultur“, „Foreign Policy“, „taz“, Al Jazeera und die „New York Times“.
Der Grund, warum ich nach Afghanistan reise, hat übrigens nicht nur mit meiner journalistischen Arbeit zu tun. Ich habe Familie im Land und fühle mich meiner zweiten Heimat trotz all der bestehenden Gefahren weiterhin verbunden. Afghanistan ist kein isolierter Abschnitt auf der Weltkarte und keine No-Go-Zone aus irgendeinem Science-Fiction-Film. Selbiges gilt übrigens auch für andere Kriegs- und Konfliktgebiete wie die Ukraine, Syrien oder Somalia. Natürlich gelten für geflüchtete Menschen mit Aufenthaltsstatus in Deutschland oder anderswo Auflagen, an die sie sich halten müssen. Doch oftmals werden sie auch von den Realitäten ihrer Heimatländer eingeholt. Verbunden sind damit gewisse Verpflichtungen. Viele afghanische Geflüchtete haben weiterhin Familie im Land.
Ahmad, ein Freund von mir, der eigentlich anders heißt, tat vor wenigen Wochen genau das, was RTL meint, aufgedeckt zu haben. Er flog mit seinem blauen Pass in den Iran und reiste dann weiter nach Afghanistan. Der Grund hierfür war allerdings kein „Urlaub“, sondern sein schwerkranker Vater. Er starb kurz nach Ahmads Abreise. Ähnliche Fälle gibt es zuhauf. Selbst verurteilte Mörder, die im Gefängnis sitzen, haben ein Anrecht auf Familienbesuch. Doch allem Anschein nach meinen manche, dass nichts davon für Geflüchtete zu gelten hat. Sie müssen ihre Bewegungsfreiheit einschränken, sich stets kontrollieren lassen und dürfen auch über ihr Geld nicht eigenständig verfügen.
Ein Reise-Influencer als Afghanistan-Experte
Währenddessen wird klar, worum es im RTL-Bericht eigentlich geht. Die verantwortliche Journalistin Liv von Boetticher schreibt auf X:
Dass von Boetticher in Sachen Afghanistan schon vor zwei Jahren anderweitig ins Fettnäpfchen getreten ist, sei hier nur am Rande erwähnt. Bezeichnend ist, wen Boetticher für ihren Film als „Experten“ interviewt hat. Da ist zum Beispiel ein Reise-Influencer, der vor Kurzem in Afghanistan war. Derartige Influencer kommen den Taliban (oder auch Regimes in anderen Ländern) oftmals ganz gelegen: denn sie liefern ihren Followern schöne Bilder von traumhaften Landschaften und stellen nicht so kritische Fragen wie Journalisten. Immerhin ließ sich der Influencer im RTL-Beitrag nicht dazu bewegen, das Land per se als „sicher“ abzustempeln. Außerdem wird in der Doku der Migrationswissenschaftler Ruud Koopmans interviewt, der keinerlei Expertise zu Land und Region vorzuweisen hat und der in den vergangenen Jahren eher durch populistische Ansichten anstelle von Sachlichkeit aufgefallen ist.
Das größte Manko der vermeintlichen Recherche von RTL ist aber: das Team stellt während seines Undercover-Einsatzes am Hamburger Flughafen fest, dass niemand (!) der anwesenden Reisenden einen blauen Pass mit sich trägt. Und es kommt keine einzige Person im Film zu Wort, die nachweislich eine solche Reise unternommen hat und zum Beispiel zu ihren Beweggründen für die Reise befragt wird. Stattdessen verlässt man sich auf das Hören und Sagen jener, die man zufällig am Terminal erwischt oder auf einige hinterlegte blaue Pässe bei diversen Reisebüros. Im Großen und Ganzen spielen Zahlen ohnehin keine Rolle. Dass es sich bei Reisenden wie meinem Freund Ahmad um eine Minderheit handelt, die von den deutschen Behörden gar nicht gezählt wird, wird nicht erwähnt. Aber Liv von Boetticher schreibt selbstsicher von „Scharen“. Auch beim Nachrichtensender „Welt“ griffen sie das Thema auf und sprachen von „Tausenden“, ohne Belege dafür zu liefern.
Die einstigen Bombenleger sind heute an der Macht
Bei der „Welt“ kam auch der als „Afghanistan-Kenner“ bekannte Conrad Schetter zu Wort und behauptete unter anderem, dass Afghanistan seit der Rückkehr der Taliban „sicherer“ geworden sei, etwa weil die Anzahl der Anschläge stark abgenommen habe. Dies sei auch einer der Gründe, warum viele Menschen wieder ins Land reisen würden. Das stimmt, allerdings nur teilweise. Denn auch hier fehlt der Gesamtkontext. Die Anzahl der Anschläge hat nämlich abgenommen, weil die damaligen Bombenleger heute regieren. Die einstigen Ziele der Taliban, die NATO-Truppen und die ehemalige afghanische Armee, gibt es nicht mehr, da Erstere abgezogen sind und Letztere zerfiel.
Demnach sehen die Taliban auch keinen Grund mehr, Anschläge auszuführen. Stattdessen sind sie zurück in den Ämtern und mit dem Aufbau ihrer totalitären Diktatur beschäftigt. Das sollte man nicht mit Sicherheit gleichsetzen. Laut dieser Logik wären nämlich auch Nordkorea und andere repressive Länder sicher. Es gibt de facto keine einzige bekannte Menschenrechtsorganisation, die die Repressalien der Taliban seit ihrer Rückkehr nicht regelmäßig anprangert und kritisiert. Die Anzahl unabhängiger Beobachter im Land sinkt stetig. Nun wurde auch bekannt, dass die Taliban Richard Bennett, dem UN-Sonderberichterstatter für Afghanistan, ein Einreiseverbot erteilt haben.
Währenddessen prahlte das Regime mit dem Umstand, dass allein im vergangenen Jahr über 13.000 Menschen aufgrund von Sittenwidrigkeiten verhaftet wurden. Viele Taliban-Gefängnisse sind voll mit Menschen, die die Taliban kritisierten, etwa in den Sozialen Medien. Ein prominentes Beispiel hierfür ist etwa die Festnahme des Deutsch-Afghanen Jama Maqsudi aus Stuttgart. Er ist unter anderem bei den Grünen aktiv und setzt sich für afghanische Geflüchtete ein. Als er vor einigen Wochen in seine alte Heimat, die er vor über vierzig Jahren verließ, zurückkehrte, wurde er vom Geheimdienst der Taliban verhaftet und zwei Monate lang festgehalten. Der Grund: Seine Kritik am Taliban-Regime. In einem Interview mit dem „Stern“ berichtete Maqsudi vor kurzem über sein Martyrium. Er blieb an vielen Stellen allerdings vage, wohl bewusst, um seine Verwandten vor Ort nicht zu gefährden.
Diese Realitäten spielen für RTL aber kaum eine Rolle. Stattdessen hat man sich dazu entschlossen, am dritten Jahrestag der Schande von Kabul eine verzerrende Pseudo-Recherche zu senden, um an populistische Migrationsdebatten anzuknüpfen. Das ist an Perfidität kaum zu überbieten.
9 Kommentare
Die implizite Voraussetzung für den „Skandal“, den RTL, Bild und Welt da stricken ist ja, dass es irgendwie ein tolles Los wäre, in Deutschland Flüchtlingsstatus zu erlangen, dass man aktiv ohne Not als Ziel verfolgen würde.
So in etwa: Mir geht’s eigentlich gut, ich werde nicht verfolgt in meiner Heimat, aber aus Gier gehe ich jetzt nach Deutschland und melde mich dort als Flüchtling, um in Saus und Braus leben zu können.
Man muss schon jeweils ein ziemlich verzerrtes Bild von Deutschland (völlig überhöht), vom Rest der Welt (im Gegenteil) und dem Leben als Geflüchteter in Deutschland haben, um das als realistische Option zu betrachten. Aber passt natürlich in ein rechtes Weltbild, dass es in Deutschland so viel besser wäre als im Rest der Welt.
Klar, die Wirklichkeit ist komplexer als diese Doku nahezulegen scheint. Ich kann jedoch gut verstehen, dass Menschen ein Störgefühl haben, wenn Flüchtlinge in Deutschland „Verfolgung in der Heimat“ als Asylgrund angeben. Und dann später für Wochen in die Heimat reisen. So richtig löst der Artikel diesen Widerspruch meiner Meinung nach nicht auf: Ist der angegebene Asylgrund dramatisiert, um bei den Behörden anerkannt zu werden? Oder nicht und ist die Macht der Taliban einfach nicht so total, daß man es auch mal ein paar Wochen riskieren kann?
Daß man in Afghanistan nicht leben möchte, der Heimat und den dort Verbliebenen jedoch verbunden bleiben möchte – das ist menschlich und bedarf keiner Erklärung.
(Bei Ukrainern ist der Fall viel einfacher: Hier geht es ja nicht um politische Verfolgung, sondern um Krieg. Man kann durchaus mit wohlkalkuliertem Risiko in die Ukraine reisen und später einfach wieder ausreisen. Zumindest wenn man kein wehrpflichtiger Mann zwischen 18 und 65 ist…)
#2: Selbst es wenn solche Reisen gäbe, dann ist das kein Grund, die Asylberechtigung in Frage zu stellen. Es ist ein Unterschied, ob man zwei Wochen Verwandte besucht oder dort auf Dauer lebt. Die Autorin glaubt offensichtlich an eine funktionierende Rundum-Kontrolle der Taliban.
Solche schlecht recherchierten und mit großer Aufmachung verbreitete Stories tragen übrigens auch zum Aufstieg der Rechten von AfD und der Nebulösen des BSW bei. Halbwahrheiten sind in diesen Kreisen sehr beliebt, und dann auch noch von den „Lügenpresse“. Höcke&Co freuen sich.
ergänzend zu #3 und @#2:
§3 AsylG umfasst ja noch mehr als die direkte politische Verfolgung als Grund. Nach diesem Gesetz eine Aufenthaltserlaubnis hier zu erhalten ist mit einem Satz („Ich werde … verfolgt“) nicht getan und das BAMF gewährt den Schutz nur individuell gut begründet und eben nicht dramatisiert.
– Das mal vorneweg, um weiteren Mythen entgegenzutreten.
Für mehr oder minder kurze Reisen ins Heimatland gibt es, wie Emran Feroz schreibt, triftige Gründe und, bei allen Leuten aus Afghanistan, die ich kenne, eine lange Abwägung aller Risiken und Notwendigkeiten. Gründe: Sterben und Krankheit der Eltern, Sehnsucht der als Teenager geflohenen nach der Familie, praktische Organisation der Ausreise gefährdeter Angehöriger (v.a. Schwestern, Mütter, Nichten, Cousinen, Partnerin) statt auf westliche Staatshilfe zu warten.
Und dann die Abwägung: Deutsche Staatsbürgerschaft in Aussicht, warten auf sicheren Pass? Vielleicht Treffen im Iran? Heimatregion unsicher? Dann woanders?
Wann reisen und auf welchem Weg?
Und natürlich kann man für 2 bis 4 Wochen mit Mama und Papa eher mal die Klappe halten, „so tun als ob“ und „unauffällig untertauchen“ als für den Rest seines Lebens.
Die Argumentation des Autors ist nachvollziehbar, aber sie hat einen blinden Fleck: Wer in seinem deutschen Ausweispapier stehen hat, dass er oder sie nicht nach Afghanistan reisen darf, bricht deutsches Gesetz, wenn er oder sie es dennoch tut. Wenn das Gesetz unsinnig oder menschenunwürdig o. ä. Sein sollte, sollten Betroffene und deren Vertreter dagegen klagen. Gesetze schlichtweg zu unterlaufen kann ich jedenfalls nicht gutheißen.
Zu #2: Ich habe diese RTL-Sendung nicht gesehen, hoffe aber Sie haben das. Darum meine Frage: War in der Sendung jemand, der in Deutschland Asyl aus dem Grund „Verfolgung in der Heimat“ beantragt hat und ist diese Person auf die geschilderte Art nach Afghanistan gereist? Wenn nicht, würden Sie ja einfach nur der Schilderung glauben und sie für wahr halten.
@1: „Aber passt natürlich in ein rechtes Weltbild, dass es in Deutschland so viel besser wäre als im Rest der Welt.“
Außer natürlich für die patriotischen Biodeutschen, für die ist es unerträglich hier, Coronadiktatur, Umvolkung, Scheindemokratie, Altparteien, Volksfahrräder, etc.
Das rechte Narrativ ist ein Fähnchen im Wind: Es wird immer so argumentiert, wie es gerade passt. Paradies für Einwanderer aller anderen Länder, aber die Hölle für alle, die hier tatsächlich leben.
Und das alles in einem einzigen, völlig durchimmunisierten Narrativ.
Die kommen hier hin, um uns was wegzunehmen, was wir aber gar nicht haben, weil hier ist ja alles Kacke.
@2: „Höcke&Co freuen sich.“
Die freuen sich immer. Wenn sie nichts haben, um sich tatsächlich künstlich darüber aufzuregen, dann erfinden sie was. Denen geht es gut, wenn es DE schlecht geht, sollte man nicht vergessen.
Passt auch alles zu dem Oxymoron aus #1: DE geht es schlecht, weil es so geil ist in DE, dass alle hier hin wollen. Is‘ klar, Siggi.
Dass es legitime Gründe gibt, Verwandte zu besuchen, sei meinerseits unbestritten, aber soll das ein Argument sein?
„Selbst verurteilte Mörder, die im Gefängnis sitzen, haben ein Anrecht auf Familienbesuch.“
Ja, aber unter Aufsicht. Es ist keine Strafe, in Deutschland zu leben. Auch wenn die üblichen Verdächtigen gerne etwas anderes behaupten.
@#3 „Selbst es wenn solche Reisen gäbe, dann ist das kein Grund, die Asylberechtigung in Frage zu stellen. “
Wenn mir in Afghanistan ein empfindliches Übel (Taliban-Knast, Folter, Hinrichtung o.ä.) droht, dann Reise ich nicht in dieses Land. Auch nicht für Verwandtenbesuche, auch nicht, wenn mein Vater im Sterben liegt. Auch wenn die Kontrolle durch die Taliban nicht vollumfänglich funktioniert, _das_ Risiko gehe ich nicht ein. Es geht schlicht nicht zusammen, einerseits für Asyl Verfolgung in Afghanistan geltend zu machen und andererseits freiwillig dieses Risiko in Kauf zu nehmen.
@#4: „Für mehr oder minder kurze Reisen ins Heimatland gibt es, wie Emran Feroz schreibt, triftige Gründe“
„Triftige“ Gründe mag es geben, aber keine, die das Risiko aufwiegen, sich gerade der Verfolgung auszusetzen, die man als Grund im Asylantrag angegeben hat.
Dass dieses Reise-Verhalten nicht gesetzeskonform ist (zumindest, wenn man seinen Asylstatus behalten will) und es nicht sonderlich sinnvoll ist, das einfach zu ignorieren, hat #5 ja schon erwähnt.
Die implizite Voraussetzung für den „Skandal“, den RTL, Bild und Welt da stricken ist ja, dass es irgendwie ein tolles Los wäre, in Deutschland Flüchtlingsstatus zu erlangen, dass man aktiv ohne Not als Ziel verfolgen würde.
So in etwa: Mir geht’s eigentlich gut, ich werde nicht verfolgt in meiner Heimat, aber aus Gier gehe ich jetzt nach Deutschland und melde mich dort als Flüchtling, um in Saus und Braus leben zu können.
Man muss schon jeweils ein ziemlich verzerrtes Bild von Deutschland (völlig überhöht), vom Rest der Welt (im Gegenteil) und dem Leben als Geflüchteter in Deutschland haben, um das als realistische Option zu betrachten. Aber passt natürlich in ein rechtes Weltbild, dass es in Deutschland so viel besser wäre als im Rest der Welt.
Klar, die Wirklichkeit ist komplexer als diese Doku nahezulegen scheint. Ich kann jedoch gut verstehen, dass Menschen ein Störgefühl haben, wenn Flüchtlinge in Deutschland „Verfolgung in der Heimat“ als Asylgrund angeben. Und dann später für Wochen in die Heimat reisen. So richtig löst der Artikel diesen Widerspruch meiner Meinung nach nicht auf: Ist der angegebene Asylgrund dramatisiert, um bei den Behörden anerkannt zu werden? Oder nicht und ist die Macht der Taliban einfach nicht so total, daß man es auch mal ein paar Wochen riskieren kann?
Daß man in Afghanistan nicht leben möchte, der Heimat und den dort Verbliebenen jedoch verbunden bleiben möchte – das ist menschlich und bedarf keiner Erklärung.
(Bei Ukrainern ist der Fall viel einfacher: Hier geht es ja nicht um politische Verfolgung, sondern um Krieg. Man kann durchaus mit wohlkalkuliertem Risiko in die Ukraine reisen und später einfach wieder ausreisen. Zumindest wenn man kein wehrpflichtiger Mann zwischen 18 und 65 ist…)
#2: Selbst es wenn solche Reisen gäbe, dann ist das kein Grund, die Asylberechtigung in Frage zu stellen. Es ist ein Unterschied, ob man zwei Wochen Verwandte besucht oder dort auf Dauer lebt. Die Autorin glaubt offensichtlich an eine funktionierende Rundum-Kontrolle der Taliban.
Solche schlecht recherchierten und mit großer Aufmachung verbreitete Stories tragen übrigens auch zum Aufstieg der Rechten von AfD und der Nebulösen des BSW bei. Halbwahrheiten sind in diesen Kreisen sehr beliebt, und dann auch noch von den „Lügenpresse“. Höcke&Co freuen sich.
ergänzend zu #3 und @#2:
§3 AsylG umfasst ja noch mehr als die direkte politische Verfolgung als Grund. Nach diesem Gesetz eine Aufenthaltserlaubnis hier zu erhalten ist mit einem Satz („Ich werde … verfolgt“) nicht getan und das BAMF gewährt den Schutz nur individuell gut begründet und eben nicht dramatisiert.
– Das mal vorneweg, um weiteren Mythen entgegenzutreten.
Für mehr oder minder kurze Reisen ins Heimatland gibt es, wie Emran Feroz schreibt, triftige Gründe und, bei allen Leuten aus Afghanistan, die ich kenne, eine lange Abwägung aller Risiken und Notwendigkeiten. Gründe: Sterben und Krankheit der Eltern, Sehnsucht der als Teenager geflohenen nach der Familie, praktische Organisation der Ausreise gefährdeter Angehöriger (v.a. Schwestern, Mütter, Nichten, Cousinen, Partnerin) statt auf westliche Staatshilfe zu warten.
Und dann die Abwägung: Deutsche Staatsbürgerschaft in Aussicht, warten auf sicheren Pass? Vielleicht Treffen im Iran? Heimatregion unsicher? Dann woanders?
Wann reisen und auf welchem Weg?
Und natürlich kann man für 2 bis 4 Wochen mit Mama und Papa eher mal die Klappe halten, „so tun als ob“ und „unauffällig untertauchen“ als für den Rest seines Lebens.
Die Argumentation des Autors ist nachvollziehbar, aber sie hat einen blinden Fleck: Wer in seinem deutschen Ausweispapier stehen hat, dass er oder sie nicht nach Afghanistan reisen darf, bricht deutsches Gesetz, wenn er oder sie es dennoch tut. Wenn das Gesetz unsinnig oder menschenunwürdig o. ä. Sein sollte, sollten Betroffene und deren Vertreter dagegen klagen. Gesetze schlichtweg zu unterlaufen kann ich jedenfalls nicht gutheißen.
Zu #2: Ich habe diese RTL-Sendung nicht gesehen, hoffe aber Sie haben das. Darum meine Frage: War in der Sendung jemand, der in Deutschland Asyl aus dem Grund „Verfolgung in der Heimat“ beantragt hat und ist diese Person auf die geschilderte Art nach Afghanistan gereist? Wenn nicht, würden Sie ja einfach nur der Schilderung glauben und sie für wahr halten.
@1: „Aber passt natürlich in ein rechtes Weltbild, dass es in Deutschland so viel besser wäre als im Rest der Welt.“
Außer natürlich für die patriotischen Biodeutschen, für die ist es unerträglich hier, Coronadiktatur, Umvolkung, Scheindemokratie, Altparteien, Volksfahrräder, etc.
Das rechte Narrativ ist ein Fähnchen im Wind: Es wird immer so argumentiert, wie es gerade passt. Paradies für Einwanderer aller anderen Länder, aber die Hölle für alle, die hier tatsächlich leben.
Und das alles in einem einzigen, völlig durchimmunisierten Narrativ.
Die kommen hier hin, um uns was wegzunehmen, was wir aber gar nicht haben, weil hier ist ja alles Kacke.
@2: „Höcke&Co freuen sich.“
Die freuen sich immer. Wenn sie nichts haben, um sich tatsächlich künstlich darüber aufzuregen, dann erfinden sie was. Denen geht es gut, wenn es DE schlecht geht, sollte man nicht vergessen.
Passt auch alles zu dem Oxymoron aus #1: DE geht es schlecht, weil es so geil ist in DE, dass alle hier hin wollen. Is‘ klar, Siggi.
Dass es legitime Gründe gibt, Verwandte zu besuchen, sei meinerseits unbestritten, aber soll das ein Argument sein?
„Selbst verurteilte Mörder, die im Gefängnis sitzen, haben ein Anrecht auf Familienbesuch.“
Ja, aber unter Aufsicht. Es ist keine Strafe, in Deutschland zu leben. Auch wenn die üblichen Verdächtigen gerne etwas anderes behaupten.
@#3 „Selbst es wenn solche Reisen gäbe, dann ist das kein Grund, die Asylberechtigung in Frage zu stellen. “
Wenn mir in Afghanistan ein empfindliches Übel (Taliban-Knast, Folter, Hinrichtung o.ä.) droht, dann Reise ich nicht in dieses Land. Auch nicht für Verwandtenbesuche, auch nicht, wenn mein Vater im Sterben liegt. Auch wenn die Kontrolle durch die Taliban nicht vollumfänglich funktioniert, _das_ Risiko gehe ich nicht ein. Es geht schlicht nicht zusammen, einerseits für Asyl Verfolgung in Afghanistan geltend zu machen und andererseits freiwillig dieses Risiko in Kauf zu nehmen.
@#4: „Für mehr oder minder kurze Reisen ins Heimatland gibt es, wie Emran Feroz schreibt, triftige Gründe“
„Triftige“ Gründe mag es geben, aber keine, die das Risiko aufwiegen, sich gerade der Verfolgung auszusetzen, die man als Grund im Asylantrag angegeben hat.
Dass dieses Reise-Verhalten nicht gesetzeskonform ist (zumindest, wenn man seinen Asylstatus behalten will) und es nicht sonderlich sinnvoll ist, das einfach zu ignorieren, hat #5 ja schon erwähnt.