Medien über Autismus

Autismus ist weder Ausrede noch Beleidigung

Schlagzeilen: "Das grenzt an politischen Autismus"
Screenshots: 20 Minuten, FAZ, Kölner Stadtanzeiger

Vor kurzem haben wir bei Übermedien eine neue Folge unserer Reihe „Sachverstand“ veröffentlicht, in der Psychiater Matthias Dose erklärte, was ihn bei der Darstellung von Autist:innen in den Medien stört. Aber wie nehmen eigentlich Betroffene Berichte und Filme über Autismus wahr? Sebastian Moitzheim hat seine Beobachtungen für uns aufgeschrieben.


Als autistischer Journalist beobachte ich die Berichterstattung zum Thema Autismus seit Jahren. Tatsächlich hat sich Einiges zum Besseren verändert, aber noch immer wird die Berichterstattung aus meiner Sicht den Betroffenen nicht gerecht. Empathie und wichtiger Kontext fehlen. Medien verbreiten es häufig einfach, wenn Politiker:innen „autistisch” als Beleidigung für politische Gegner verwenden. Zwar kommen Betroffene heute immer öfter auch selbst zu Wort, doch noch immer lassen Medien Expert:innen Urteile über Betroffene fällen, ohne die autistische Perspektive dazu einzuholen.

Mangelnde Empathie für Autist:innen

In der Übermedien-Rubrik „Sachverstand“ zum Thema Autismus wurde kürzlich der Fokus von Film und Fernsehen auf sogenannte „Savants“ kritisiert. Das sind Autist:innen mit einer „Inselbegabung“, etwa einem fotografischen Gedächtnis oder besonderem mathematischen Talent. In Wirklichkeit, sagt der Psychiater Prof. Matthias Dose in dem Text, seien diese viel seltener. Der überproportionalen Repräsentation hochbegabter Autist:innen gibt er eine Teilschuld daran, dass sich immer mehr Menschen mit dem Wunsch nach einer Autismus-Diagnose an Psychiater wenden.

Warnungen vor Selbstdiagnosen sind ein beliebtes Thema in der Berichterstattung über Autismus, sie begegnen mir immer wieder, zum Beispiel in diesem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ oder in diesem Beitrag bei Deutschlandfunk Kultur, in dem der Therapeut Thorsten Padberg schreibt:

(…) Deswegen sind psychische Label wie ADHS, Depression oder Autismus inzwischen so attraktiv: eben weil sie Probleme auf biologische Ursachen zurückführen, die nichts mit uns persönlich zu tun haben.

Natürlich sind die Bedenken der Expert:innen ernst zu nehmen: Sie warnen etwa vor Fehlinformationen in den sozialen Medien oder davor, dass die Symptome von Autismus für Laien nicht trennscharf von denen anderer Störungen oder Krankheiten abzugrenzen sind. Doch die Art, wie Expert:innen diejenigen charakterisieren, die sich in den sozialen Medien oder über Selbsttests zu informieren suchen, finde ich empathielos: Sie werfen den Betroffenen vor, Diagnosen als Ausrede zu nutzen oder etwas Besonderes sein zu wollen. Wenn Betroffene selbst zu Wort kommen, entsteht oft ein ganz anderes Bild.

In einem Beitrag für das funk-Format „reporter“ etwa spricht Jasmin, die dank Videos auf TikTok den Verdacht entwickelt hat, autistisch zu sein und ADHS zu haben, über ihre Erfahrungen. Jasmin ging zu einem Experten, der tatsächlich die Diagnose Autismus und ADHS ausgestellt hat. Sie sagt, die sozialen Medien hätten ihr „Leben gerettet“: Ohne TikTok, glaubt sie, wäre sie vielleicht nie auf die für sie lebensverändernde Diagnose gekommen. Ähnliches erzählt Samuel Otto in einem Beitrag auf tagesschau.de. Zwar sehe auch er einen gewissen „Trend“, dem er skeptisch gegenüberstehe. Doch die Selbstdiagnose sei „ein wichtiger erster Schritt zur offiziellen Diagnose“ für ihn gewesen.

Für diese Patient:innen sind die sozialen Medien also nur der Anstoß für einen längeren Prozess, der am Ende zur offiziellen Diagnose führt. Ihren Verdacht haben sie nicht aus einem Bedürfnis heraus entwickelt, etwas Besonderes zu sein, sondern aus ihrer Suche nach Antworten heraus. Von ihrer Diagnose versprechen sie sich weniger eine praktische Ausrede oder Prestige als ein Ende des Leidensdrucks.

Unfaires Bild von Betroffenen

Ein wichtiger Aspekt kommt beim Thema Selbstdiagnose meistens, wenn überhaupt, nur am Rande vor: Es ist schwer genug, einen regulären Therapieplatz zu finden. Eine leitliniengerechte Diagnose für Autismus ist noch schwerer zugänglich. Auf der Webseite des Bundesverbands „autismus Deutschland“ bekommt man schon gar keine Empfehlungen für Adressen zur Autismus-Diagnostik mehr. Wer es einmal auf die Warteliste schafft, muss sich bis zu zwei Jahre weiter gedulden. Von einem besonders beschwerlichen Weg zur Diagnose sprechen oft Frauen und nicht-binäre Menschen.

Wie Matthias Dose im Übermedien-Beitrag anmerkt, ist es eine relativ junge wissenschaftliche Erkenntnis, dass Autismus keine rein männliche Störung ist. In einem Artikel im „Spiegel“ berichtet die Autistin Sandy Lange von einer jahrzehntelangen Leidensgeschichte mit mehreren Fehldiagnosen. Die Medizinerin und Autistin Christine Preißmann erklärt dazu, dass Mädchen oft besonders „exzessiv“ Masking betreiben würden, das bedeutet, sie versuchen, sich an andere anzupassen und nicht aufzufallen. Das könne die Diagnose verhindern.

Gerade im Kontext von Autismus als „Wunschdiagnose“ ist es wichtig, solche Geschichten im Hinterkopf zu behalten. Der geäußerte „Wunsch“ kann gerade bei Frauen und nicht-binären Menschen auch durch die Erfahrung motiviert sein, dass die Diagnose „Autismus“ bei ihnen ansonsten gar nicht erst in Erwägung gezogen oder schnell beiseite geschoben wird, da sie nicht dem erwarteten Bild des männlichen Autisten entsprechen.

Es ist verständlich, dass manche Betroffene sich mit ihrem Verdacht alleingelassen fühlen. Vom Austausch mit anderen Betroffenen in den sozialen Medien erhoffen sie sich einen Weg aus der Einsamkeit. Wer dabei den entscheidenden Kontext nicht mitliefert, dass Diagnosen schwer zugänglich und der Weg dahin lang und oft beschwerlich ist, erzählt nur die halbe Geschichte. Und wer die Motivation für Selbstdiagnosen ausschließlich mit Geltungsbedürfnis erklärt, zeichnet ein unfaires Bild von Autismus-Betroffenen.

Selbstdiagnosen werden auch innerhalb der autistischen Community kontrovers diskutiert. Dabei machen Betroffene auf die angesprochene Problematik und ihre Motivation für Selbstdiagnosen immer wieder selbst aufmerksam. Auf Blogs und in sozialen Medien schildern sie, wie akut das Problem der mangelnden Versorgung ist. Anstatt über Betroffene zu urteilen, sollte das im Fokus der Berichterstattung über Selbstdiagnosen stehen.

Mehr kreative Mitsprache

In Film und Fernsehen sind mir zuletzt positive Beispiele begegnet: Die Figur Abed in der Sitcom „Community“ etwa ist wie alle Figuren der Serie überzeichnet und entsprechend keine ganz realistische Darstellung eines Autisten. Dennoch wird er mit Respekt behandelt und ihm wird dieselbe Komplexität zugestanden wie den anderen Hauptfiguren. Viele autistische Menschen erkannten sich in der Figur wieder (siehe zum Beispiel hier oder hier).

In der Serie „Everything’s Gonna Be Okay“ verarbeitet der australische Comedian Josh Thomas unter anderem seine eigene Autismus-Diagnose und lässt auch andere autistische Figuren auftreten, die teils auch von autistischen Darsteller:innen gespielt werden. Selten haben autistische Menschen so viel kreative Kontrolle über die eigene Repräsentation. Einige Kolleg:innen von Thomas thematisieren ihren Autismus gelungen in ihren Stand-up-Programmen, prominent etwa die Australierin Hannah Gadsby und die Schottin Fern Brady.

Demgegenüber stehen aber nach wie vor auch viele verzerrte Darstellungen autistischer Menschen. Im von Popstar Sia inszenierten Film „Music“ spielt die nicht-autistische Schauspielerin Maddie Ziegler die autistische Hauptfigur als groteske Karikatur. Die Darstellung einer potenziell gefährlichen Technik, autistische Menschen, die einen „Meltdown“ haben, zu beruhigen, wurde so heftig kritisiert, dass der Film mittlerweile mit einer Warnung versehen ist. Die ZDF-Serie „Ella Schön“ stellt in einer in den sozialen Medien und auch von mir kritisierten Folge das harmlose „Stimming“, das Wiederholen bestimmter Bewegungen oder Geräusche zur Gefühlsregulation, als Anzeichen einer psychischen Krise der Hauptfigur dar.

Auch die Serie „The Good Doctor“ über einen autistischen Arzt verbreitet problematische Ideen über Autismus, etwa wenn sie den Autismus der Hauptfigur für seine Transphobie verantwortlich macht. In der Regel sind bei Filmen und Serien keine Autist:innen kreativ involviert, sondern, wenn überhaupt, Ärztinnen, Ärzte oder Therapeut:innen. Wie hilfreich der Input autistischer Menschen sein kann, zeigt die Serie „Atypical“ über einen autistischen Teenager: Die Macher reagierten auf Kritik und involvierten für die zweite Staffel einen autistischen Autor als Berater – und erhielten deutlich positivere Resonanz.

Viel Aufmerksamkeit erhielt die Dating-Show „Love on the Spectrum“, in der autistische Menschen einander kennenlernen und Beziehungen eingehen. Tatsächlich steht die Show in angenehmem Kontrast zu vielen anderen, effekthascherisch und manipulativ inszenierten Dating-Shows. Aus der autistischen Community gab es aber auch Kritik, unter anderem weil die Eltern der Protagonist:innen häufiger zu Wort kamen als diese selbst. Die autistische Journalistin Sara Luterman hat die Problematik in einer lesenswerten Rezension formuliert.

Catching strays: „Autistisch“ als Beleidigung

Ein Bereich, in dem es tatsächlich auffällig viele nicht fundierte Autismus-Diagnosen gibt, ist die Politik. Politiker:innen lieben es, ihren politischen Gegnern Autismus zu attestieren. Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, nannte im Interview mit dem „Spiegel“ etwa Vladimir Putin einen „autistischen Entscheidungsträger“. In einem Porträt von Karl Lauterbach in der „taz“ erzählt eine anonyme „Frau aus den SPD-Reihen“, Lauterbach „gelte als arrogant, von sich selbst so dermaßen überzeugt, dass man von autistischen Zügen sprechen könne“. Gelegentlich sind es auch die Medien selbst, die derlei Formulierungen verwenden: In einem Kommentar in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ etwa warf der Politikwissenschaftler Klaus Segbers 2018 den Beteiligten der damals laufenden Koalitionsverhandlungen vor: „Das grenzt an politischen Autismus.“

In den sozialen Medien gibt es die Formulierung catching strays – zu deutsch etwa „Querschläger abkriegen“. Wenn man jemanden auf eine Art und Weise beleidigt, die unbeabsichtigt auch eine dritte, eigentlich unbeteiligte Person beleidigt, dann kriegt diese Person einen Querschläger ab. Wer als Autist:in politische Berichterstattung konsumiert, kriegt immer wieder solche Querschläger ab. Das Wort „autistisch“ wird als Beleidigung verwendet, die eher auf dem verzerrten Bild von Autist:innen in Film und Fernsehen als auf der Wirklichkeit beruht. Damit wird genau dieses verzerrte Bild weiter verfestigt und die Stigmatisierung von Autismus normalisiert.

Allzu oft übernehmen Medien solche Autismus-„Diagnosen“, ohne Einordnung zu liefern oder gar ihre Gesprächspartner:innen mit den eigenen Vorurteilen zu konfrontieren. Doch eine positive Entwicklung ist erkennbar: Zuletzt attestierte die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann gegenüber der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ Olaf Scholz ebenfalls „autistische Züge“. Diesmal war die Kritik aus der autistischen Community und von Verbündeten laut genug, dass Strack-Zimmermann sich für ihre Entgleisung entschuldigen musste. In mehreren Medien erschienen Beiträge, die die diskriminierenden Implikationen dieser Beleidigung thematisierten, etwa in diesem Kommentar in der „Zeit“ oder diesem Interview im „Stern“ mit der autistischen Abgeordneten der Grünen Sabine Grützmacher.

Es ist gut, dass sich mittlerweile einige Medien die Mühe machen, Betroffene zu Wort kommen zu lassen. Nach wie vor wird in den Medien mehr über uns Autist:innen geredet als mit uns. Stimmen von Expert:innen wie Therapeut:innen und Psychiater:innen sind wichtig, doch ebenso wichtig ist es, direkt von Betroffenen zu hören. Die Medien müssen sich bewusst machen, dass auch autistische Menschen zu ihrem Publikum gehören.

2 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen sehr lesenswerten Beitrag! Er hat all das beleuchtet, was mir beim letzten Text von „Sachverstand“ gefehlt hat, und fasst das Unbehagen gut in Worte, das ich oft nach der Lektüre von den hier beschriebenen Texten empfinde.

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