Sachverstand (11)

„Viele Filme zeichnen ein völlig falsches Bild von Autismus“

In "Rain Man" spielt Dustin Hoffmann (r.) an der Seite von Tom Cruise einen Autisten.
Tom Cruise (l.) und Dustin Hoffmann in „Rain Man“ (1988) Foto: IMAGO / United Archives

Sie kennen sich aus, weil es ihr Fachgebiet ist. Immer wieder stolpern sie über Ungenauigkeiten und Fehler in journalistischen Berichten oder fiktionalen Formaten, die sie ärgern – und hier erzählen sie davon. In der elften Folge unserer Reihe „Sachverstand“ spricht Matthias Dose, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, darüber, welches Bild von Autismus Medien – vor allem Spielfilme und Serien – verbreiten. Unsere Autorin Kathrin Hollmer hat seine Aussagen protokolliert. Wenn Sie auch immer wieder Falsches über Ihren Beruf oder Ihr Fachgebiet in den Medien lesen, schreiben Sie uns eine E-Mail.


„Wenn man Leute auf der Straße fragt, wie sich Autismus äußert, antworten die meisten: Autisten sind alle Mathegenies oder anderweitig hochbegabt. In Wahrheit ist die Hälfte der Menschen aus dem Autismus-Spektrum normal begabt, die andere Hälfte minderbegabt. Ungefähr fünf Prozent, aus beiden Gruppen, verfügen über Spezial-, sogenannte Inselbegabungen. Diese Menschen nennt man ‚Savants‘. Sie haben zum Beispiel ein besonderes mathematisches Talent oder ein außergewöhnlich gutes fotografisches Gedächtnis. Die wenigsten Autisten sind hochbegabt.

Diese falschen Vorstellungen haben viel mit der Darstellung in Filmen und Serien zu tun, man kann das auf einen Kinofilm zurückführen: ‚Rain Man‘ aus dem Jahr 1988. Dustin Hoffman spielt darin einen Autisten mit Spezialbegabungen: Er löst zum Beispiel blitzschnell komplizierte Rechenaufgaben und lernt über Nacht das halbe Telefonbuch auswendig. Bis heute wird das Klischee fortgeschrieben. Im Münsteraner Tatort ‚Schwanensee‘ sagte der Rechtsmediziner Boerne ungelenk: ‚Autisten sind Inselbegabungen.‘ (sic) Solche Sätze ärgern mich, weil sie das falsche Bild weiter verankern. Inselbegabungen betreffen nicht die Mehrzahl, geschweige denn alle Autisten.

Nachdem sich die bisherige Unterscheidung zwischen frühkindlichem, atypischem und Asperger-Autismus als wissenschaftlich nicht haltbar erwiesen hat, sprechen wir heute von Autismus-Spektrum-Störungen. Nach der bisherigen Einteilung zeigen Menschen mit frühkindlichem Autismus von Geburt an eine sprachliche und geistige Entwicklungsverzögerung. Demgegenüber findet sich bei Asperger-Autisten keine Verzögerung der sprachlichen und kognitiven Entwicklung. In Filmen sieht man in der Regel Figuren mit sogenanntem ‚hochfunktionalem‘ oder Asperger-Autismus. Von ‚hochfunktionalem Autismus‘ (der keine diagnostische Kategorie darstellt) spricht man, wenn sich bei einer Störung, die ursprünglich als frühkindlicher oder atypischer Autismus diagnostiziert wurde, im weiteren Verlauf eine unauffällige sprachliche und kognitive Entwicklung ergibt.

Bitte keine Selbstdiagnosen im Internet

In 40 Jahren Berufstätigkeit habe ich nicht erlebt, dass ein Patient zu mir als Psychiater sagt: Ich will gerne Depressionen oder eine Zwangsstörung haben, bitte geben Sie mir die Diagnose. Aber bei Autismus gibt es das, unter anderem weil Filme ein völlig falsches Bild gezeichnet haben. Autismus ist eine der am wenigsten stigmatisierten psychiatrischen Diagnosen. Das ist erst einmal gut, weil keine Diagnose stigmatisiert sein sollte. Doch die Leute machen dann irgendwelche Selbsttests im Internet, weil sie glauben, Autismus sei der Grund für ihre Probleme. In einer eingehenden, leitliniengerechten Diagnostik lässt sich das in weniger als 30 Prozent der Fälle bestätigen.

Das Hauptmerkmal von Autismus-Spektrum-Störungen ist, dass die soziale Interaktion und Kommunikation beeinträchtigt ist. Betroffenen fällt es schwer, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten beziehungsweise Kontakte aufrechtzuerhalten. Das wird in Filmen thematisiert, sehr gut finde ich den Film ‚Der kalte Himmel‘ (abrufbar in der ARD–Mediathek, Anm.). Darin geht es um einen Jungen, der in den 1960-er Jahren auf dem bayerischen Land aufwächst. Seine Familie kann kaum mit ihm kommunizieren, nur seine Mutter, die eine Irrfahrt hinter sich bringen muss, bis er die Diagnose Autismus bekommt.

Es gibt noch ein paar diagnostische Merkmale von Autismus-Spektrum-Störungen, die man häufig in Filmen sieht, vor allem sogenannte Spezial- oder Sonderinteressen, etwa in den Bereichen Naturwissenschaften oder Technik, und stereotype Verhaltensweisen, zum Beispiel ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Ordnung oder festen Ritualen.


In der Serie ‚Ella Schön‘ geht es um eine Juristin, die Asperger-Autistin ist. Man sieht immer wieder, dass sie alle Gegenstände auf ihrem Schreibtisch geometrisch anordnet. Natürlich gibt es auch Nicht-Autisten, die intensiv Hobbys nachgehen und den ganzen Tag ihre Briefmarkensammlung pflegen oder Ordnung brauchen. Nach den Diagnoseleitlinien und auch nach meiner persönlichen Erfahrung ist die entscheidende Frage, was passiert, wenn jemand seinem Spezialinteresse oder einem bestimmten Ritual nicht folgen kann. Jemand aus dem Autismus-Spektrum gerät dann völlig durcheinander.

Sheldon Cooper hat keinen „Autismus light“

Im Fernsehen zeigen Figuren aus dem Autismus-Spektrum meistens mehrere dieser Verhaltensweisen. Das entspricht unserer Diagnostik, weil einzelne Merkmale auch bei anderen Störungen vorkommen und erst mehrere zu einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum führen. Was mir auch wichtig ist: Autistische Persönlichkeitszüge, wie wir sie zum Beispiel von Sheldon Cooper aus der Serie ‚The Big Bang Theory‘ kennen, sind kein ‚Autismus light‘. Solche Züge gehören, wie ängstliche, zwanghafte oder perfektionistische Züge zum ‚normal Menschlichen‘, sie definieren keine Störung.

In Filmen hält sich das hartnäckige Vorurteil, dass Autisten nicht lügen können und immer die Wahrheit sagen. Wenn es ihrem Vorteil dient, können Autisten sehr wohl Unwahres sagen.

Problematisch finde ich, wenn Verhaltensweisen von Autisten als Gag eingesetzt werden. Betroffene tun sich oft schwer, die Gesichtsausdrücke ihrer Mitmenschen zu interpretieren, Gefühle wie Angst, Ekel oder Freude zu erkennen. Auch haben viele Autisten ein idiosynkratisches Sprachverständnis. Das bedeutet, sie verstehen alles wortwörtlich, nicht, was im übertragenen Sinn gemeint ist. Wenn ich einen betroffenen Autisten frage ‚Wo drückt der Schuh?‘, würde er auf seine Füße schauen. Wenn das im Film die Pointe ist, über die man lacht, kann das Menschen aus dem Autismus-Spektrum kränken und verunsichern.

In Filmen kommen öfter männliche Figuren aus dem Autismus-Spektrum vor. In den siebziger Jahren ging man in der Tat davon aus, dass auf sieben Autisten eine Autistin kommt. Hans Asperger, der das Asperger-Syndrom beschrieben hat, ging sogar davon aus, dass es eine rein männliche Störung sei. Neue Zahlen deuten darauf hin, dass das Verhältnis von Autisten zu Autistinnen bei drei zu eins liegt.

Eine Kollegin hat vor einer Weile 120 Filme und Serien gezählt, in denen Autisten mit Spezialbegabungen vorkommen. Das ist viel. Positiv an der Aufmerksamkeit ist, dass Vorurteile abgebaut und vielleicht sogar Hilfsangebote ausgebaut werden. Das Problem ist, dass dadurch so viele Menschen sich für Autisten halten und einige zwangsläufig falsch diagnostiziert werden. Die werden dann nicht richtig behandelt und nehmen unnötig die ohnehin wenigen Therapieangebote weg. Auch verzerrt es die Forschung, wenn ein Teil der Betroffenen falsch diagnostiziert ist.

Ist Neurodiversität der bessere Begriff?

In der Presse wird das Thema auch häufiger aufgegriffen, zuletzt speziell Diagnosen im Erwachsenenalter. Ich finde oft vernünftige Beiträge zum Thema. Ich bin Leser der ‚Süddeutschen Zeitung‘, dort lese ich öfter die Rubrik ‚Gesundheitsforum‘. Da wird meiner Meinung nach in der Regel korrekt über Autismus berichtet, auch zum Beispiel über das Thema, dass viele Menschen meinen, sie seien Autisten oder allgemein psychisch krank, ohne eine Fachdiagnose eingeholt zu haben.

Es ist eine heftige Debatte über ‚Wording‘ und ‚Naming‘ auch bei Autismus-Spektrum-Störungen entbrannt. Einige fordern, Autismus-Spektrum-Störungen als Ausdruck von ‚Neurodiversität‘ nicht mehr als ‚Störung‘ zu bezeichnen (z.B. hier). Damit werden aus meiner Sicht aber Symptome einer ‚Autismus-Spektrum-Störung‘ verharmlost.

Es gibt einen Roman, ‚The Curious Incident of the Dog in the Night-Time‘, auf Deutsch ‚Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone‘, von Mark Haddon. Darin geht es um einen autistischen Mann, der einen toten Hund in seinem Garten findet und das bei der Polizei melden will, die gar nicht verstehen kann, was er ihnen sagen will. Ich fand das Buch so toll, dass ich den Autor angeschrieben und gefragt habe, ob er selbst Autist sei oder ein autistisches Kind habe, weil er das Verhalten des jungen Mannes so gut beschreibt. Es hat sich herausgestellt: Er hat einfach gut recherchiert.“

 

4 Kommentare

  1. Danke für den Beitrag. Ich finde diese Selbst-Diagnostiziererei, die von den ganzen Wichtigtuern in Social Media (insb. Instagram) noch befeuert wird, auch gruselig. Zumal damit auch das Vertrauen in echte Experten / Ärzte ein Stück weit untergraben wird und man dann schnell mal bei Quacksalbern & Esoterikern landet.
    Der Film, der mir als erstes eingefallen wäre, ist „Das Mercury Puzzle“. Da würde mich mal eine professionelle Einordnung interessieren, wie überzeichnet der Junge ist.

  2. 50 von 100 Savants sind Autisten, aber weil es nur ungefähr 100 Savants gibt, sind nur 50 von zig Millionen Autisten Savants.

  3. Ich fand es schade, dass nicht mehr auf weibliche Autisten eingegangen wurde. Es wirkte, als wollte man den Punkt in einem Absatz einfach abhandeln, weil er eben dazu gehört. Dabei scheint sich ja inzwischen zu zeigen, dass die Symptome bei Frauen teilweise deutlich anders ausgeprägt sind als bei Männern. Wie Frauenfiguren mit Autismus dargestellt werden und ob das ebenso fern von der Realität ist, wäre spannend gewesen.

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