Erregung und Ärgernis (1)

Warum Journalisten in der Aufmerksamkeitsfalle sitzen

Polarisierungsunternehmern geht es um Aufmerksamkeit – egal, ob es sich dabei um Kritik oder Bestätigung handelt Grafik: Canva/Übermedien

Vor ein paar Wochen habe ich auf X den Post eines Journalisten wütend kommentiert. Das ganze publizistische Profil dieses Journalisten beruht darauf, rechtskonservative Provokationen abzusetzen und sich dann über die Empörung linksliberaler Mediennutzer:innen aufzuregen – aber auch daran zu ergötzen. Im Englischen gibt es dafür den Ausdruck Owning the libs (sinngemäß: ‚Linksliberale aufbringen/wütend machen‘). Es ist eine einträgliche Strategie, auf der in den letzten Jahren zahlreiche journalistische Karrieren aufgebaut wurden. Während die ersten Likes und empörten Kommentare auf meinen Post eintrafen, regte sich bei mir ein bekanntes nagendes Gefühl. Hatte ich mich als Multiplikator, ja eigentlich als Komplize eines aufmerksamkeitsökonomischen Kalküls einspannen lassen?

Es handelt sich um ein Kalkül, das sich darauf verlassen kann, dass Menschen wie ich auf die Provokation reagieren. Also habe ich den Tweet wieder gelöscht, was sich allerdings auch unbefriedigend anfühlte. Denn lässt man so nicht eine gefährliche Diskursverschiebung unwidersprochen zu? Diese Zweifel verfolgen mich ganz unmittelbar bis in den Einstieg dieses Textes. Sollte man den Namen des Journalisten nennen? Dann würde man ihm nur die Sichtbarkeit verschaffen, nach der er so offensichtlich giert. Oder soll man ihn verschweigen? So nimmt man der Kritik einen Teil ihrer Schärfe und es wirkt irgendwie mutlos.

Medienschaffende sitzen in einer Falle

Wer bekommt Aufmerksamkeit? Wem sollte man Aufmerksamkeit geben? Das sind Fragen, die den Alltag der medienethischen Reflexion ständig begleiten. Ende Juni gab es wieder eine erbitterte Diskussion darüber, ob und wie man über die politischen Akteure der neuen Rechten berichten sollte. Kritisiert wurde ein Porträt über den Publizisten Benedikt Kaiser in der „Zeit“. Der Text, lautete der Vorwurf, habe Kaiser eine Sichtbarkeit und Glaubwürdigkeit verliehen, die dazu beitragen würde, sein politisches Profil zu schärfen. Die „Zeit“-Autorin wehrte sich dagegen, berief sich auf die Notwendigkeit der Analyse und wurde unter Verweis auf die Bedeutung kritischer Berichterstattung verteidigt.

Im Frühling 2019 sorgte ein Porträt des AFD-Politikers Markus Frohnmaier in der „Süddeutschen Zeitung“ für große Empörung. Der Vorwurf lautete, der Autor, Raphael Thelen, habe sich seinem Protagonisten gegenüber zu distanzlos verhalten – ein Eindruck, der durch einen verunglückten Tweet, in dem er berichtete, wie er mit dem AfD-Mann auch Rum getrunken und gelacht habe, unterstützt wurde. Hatte das Porträt einem bekannten politischen Provokateur eine Bühne gegeben, auf der er aufmerksamkeitsökonomische Gewinne erzielen konnte? Thelen rechtfertigte sich im Interview mit Übermedien damit, dass es Aufgabe des Journalismus sei, politisch gefährliche Bewegungen genau zu analysieren: „Wie sollen wir uns in einer Demokratie diese Leute vom Leib halten, wenn wir sie sie nicht verstehen?“

Die Kritik am medialen Umgang mit Rechtsextremen, ob es nun um Homestories bei rechten Vordenkern, Waldspaziergänge mit Extremisten oder eben um tiefgehende Porträts einzelner Akteure geht, verweist auf ein grundsätzliches Problem der Berichterstattung. Als Journalist:in sitzt man fast grundsätzlich in einer aufmerksamkeitsökonomischen Falle. Wenn man nicht berichtet, wirkt es, als würde man wegschauen, ein wichtiges Thema verschweigen; und das wäre eine schwere Verletzung der professionellen Sorgfaltspflicht. Gleichzeitig stattet man aber allein durch das öffentlichkeitswirksame Hinschauen Personen und Institutionen mit Aufmerksamkeit aus, und verleiht ihnen damit möglicherweise mehr Macht und Einfluss. Da kann die Geschichte, die man schreibt, noch so kritisch oder reflektiert sein – aus der Falle gibt es am Ende kein Entkommen.

Davon profitieren vor allem professionelle „Polarisierungsunternehmer“. Der Begriff stammt aus dem Buch „Triggerpunkte“ der Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, in dem sie das Feld politischer Emotionalität in der Gegenwart vermessen. Diese Unternehmer nisten sich in Diskurse ein, die eine besondere emotionale Volatilität haben, also besonders triggernd wirken. Das sind, wie die Autoren zeigen, gar nicht so sehr die relevantesten Themen, die eine Gesellschaft umtreiben, sondern Fragen, die sich durch einen hohen „Erregungsüberschuss“ auszeichnen, also eine gewisse Vehemenz in der Reaktion herausfordern. Wenn diese Themen in den Gruppendiskussionen, die von den Autoren untersucht wurden, aufkamen, habe sich das Klima merklich erhitzt: „Diskutantinnen verschränken ihre Arme, oft beginnen mehrere gleichzeitig und mit großer Emphase zu sprechen oder stacheln sich gegenseitig an.“

Aufmerksamkeit ist eine Währung

Diese Form der diskursiven Erhitzung ist das produktive Umfeld, in dem Polarisierungsunternehmer gedeihen. Diese Akteure können im Gewand aller möglichen politischen Ausrichtungen auftreten. Sie sind mit so gut wie allen Themen assoziiert, die emotional aufgeladen sind. Zentral ist in diesem Zusammenhang vor allem das Wort „Unternehmer“. Wenn wir von Aufmerksamkeitsökonomie sprechen, dann ist damit eine Schattenwirtschaft gemeint, in der um eine vage Währung gekämpft wird, die sich auf unüberschaubaren Wegen in Macht und Geld umsetzen lässt. Aufmerksamkeit erzeugt ein Interesse, das für Einzelpersonen z.B. Einladungen in Talkshows oder Buchverträge bedeutet. Oder man baut sich eine treue Followerschaft in den Sozialen Medien auf, an die man Produkte verkaufen kann. Für Institutionen wie politische Parteien bedeutet Aufmerksamkeit, dass sich ihre Botschaften verbreiten und damit ihre Wählerschaft vergrößert.

Als Journalist:in befindet man sich in der unangenehmen Situation, dass man diese wertvolle Ressource gerade dort verteilt, wo man eigentlich kritisieren möchte. Denn Protagonisten des öffentlichen Lebens, die von einem Ethos der Feindschaft und des ideologischen Außenseitertums leben, profitieren auch (vielleicht sogar vor allem) von negativen Analysen. Die Strategie ihrer Selbstheroisierung beruht darauf, dass sie vom „Mainstream“ angefeindet werden. Kritik von etablierten Medien ist dabei eine Ressource, auf der man die glaubwürdige Identität als mutiger Widerstandskämpfer aufbauen kann. Für den Polarisierungsunternehmer sind Kritiker nur Komparsen im Drama der eigenen Sichtbarkeit. Wie erfolgreiche Unternehmer haben diese professionellen Wütendmacher ein messerscharfes Gespür für die Konjunkturen ihrer aufmerksamkeitsökonomischen Portfolios.

Das Problem ist, dass ein einfaches Ignorieren, ein abgeklärtes Abwinken („Da geht es ja nur um Provokation“) auch nicht funktioniert. Denn für den Polarisierungsunternehmer mag das ständige Ankitzeln politischer Wutpunkte vor allem ein Spiel sein, das seiner Karriere helfen soll. Für die Rezipient:innen aber ist es oft todesernst. Als der Sender „Fox News“ 2020 wegen Verleumdung verklagt wurde, kam ans Licht, dass den Mitarbeiter:innen vollkommen klar war, wie wenig Substanz die Vorwürfe der Wahlfälschung hatten, die Donald Trump und seine Verbündeten in die Welt gesetzt hatten. Die Angst davor, das eigene Publikum – und damit die eigene wirtschaftliche Grundlage – zu verlieren, führte allerdings dazu, dass diese Lügen von dem Sender in der eigenen Berichterstattung aufrechterhalten wurden. Was für die einen ein lukratives narratives Produkt darstellt, ist für die anderen der Kern ihrer Weltwahrnehmung.

Jeder kritische Bericht stärkt den Mythos

Dem Zynismus der Polarisierungsunternehmer steht die Ernsthaftigkeit ihres Publikums entgegen. Während man vielleicht noch strategisch die Augen vor den Aktionen professioneller Hersteller politischer Fantasien verschließen könnte, wäre es fahrlässig, die Wirkung, die sie auf ihre Konsument:innen haben, zu ignorieren. Denn die eigentliche Gefahr liegt nicht in einem einzelnen Selbstdarsteller, sondern in der Art, wie es ihm gelingt, die Kultur zu beeinflussen. „Fox News“ mag die Lüge über die Wahlfälschung aus wirtschaftlichen Gründen verbreitet haben. Das hat allerdings dazu geführt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung in den USA jetzt daran glaubt. Diesen Prozess nicht zu analysieren, wäre fahrlässig.

Ähnliches gilt für den Einfluss, den Gestalten wie der misogyne Impresario Andrew Tate oder vor ihm der repräsentative Polarisierungsunternehmer Milo Yiannopoulos auf die Gesellschaft hatten und haben. Hier allerdings schnappt die aufmerksamkeitsökonomische Falle schon wieder zu. Denn beim Versuch, über die schädliche Wirkung dieser professionellen Diskurserhitzer zu berichten, läuft man Gefahr, diese Wirkung direkt wieder zu verstärken. Polarisierungsunternehmer leben nicht nur von der Aufmerksamkeit, die sie durch ihre Transgressionen bekommen, sondern auch durch die Kritik der Wirkung, die ihnen zugeschrieben wird. Jeder Bericht, jede Klage über ihren dämonischen Einfluss, ist Arbeit am Mythos ihrer Macht.

In der aufmerksamkeitsökonomischen Falle sitzt man nicht nur als Journalist:in, sondern auch als Rezipient:in. Denn die Sozialen Medien haben es möglich gemacht, dass jeder einzelne Konsument zu einem ausgesprochen wirkungsvollen Multiplikator einer Information oder Person werden kann, die eigentlich keine Aufmerksamkeit bekommen sollte. Das unangenehme Gefühl einer ungewollten Komplizenschaft, die jedes Mal zum Tragen kommt, wenn man auf Facebook, Twitter oder in einer WhatsApp-Gruppe wütend einen Text teilt, der nun „wirklich unmöglich“ ist, der nun „wirklich gar nicht mehr geht“, gehört zum emotionalen Grundrauschen des modernen Medienkonsums. Gleichzeitig will man aber auch die Augen vor dieser Ungeheuerlichkeit nicht verschließen, laut seine Meinung sagen, zeigen, dass man so etwas nicht einfach stehen gelassen hat.

Debattenbeiträge werden an ihrer Wirkung gemessen

Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, sich selbst zu beobachten und einzugestehen, dass man als Akteur einer Ökonomie agiert, die ihre Produktivität aus einer unangenehmen sozialpsychologischen Tatsache bezieht: Wut kann süchtig machen. Als aktive Mediennutzer:in kennt man das fast libidinöse Gefühl der Entrüstung, das einen durchdringt, wenn man von einem wirklich unerträglichen Text, von einem dämlichen Post, von einem unmöglichen Auftritt in einer Talk-Show überfallen wird. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass man in den meisten Fällen gar nicht überfallen wurde, sondern diese Erfahrung aktiv aufgesucht hat. Man möchte empört werden. Das Anschreien des Fernsehers gehört zu den eingeübten Rezeptionsmodi genauso dazu wie der wutentbrannte Quote-Retweet. Jede Form des Erzählens ist auf eine kognitive Belohnung ausgerichtet, schreibt Fritz Breithaupt in seinem Buch „Das narrative Gehirn, und die Empörung, die man über die unglaubliche Meinung anderer Menschen empfindet, gehört zu den wichtigsten Belohnungen des medialen Erzählens.

Daran schließt sich eine zweite unangenehme Tatsache an: Die traditionellen Medien selbst sind notwendige Polarisierungsunternehmer. Die trostlose Flut an Artikeln etwa, die gegen geschlechtergerechte Sprache polemisieren, erklärt sich aus dem nervösen Interesse, das sie offenbar nach wie vor zuverlässig generieren. Der Erfolg eines Debattenartikels wird an der reinen Resonanz gemessen, die er zu erzeugen vermag. Wenn er gelobt wird, dann ist das eine Bestätigung dafür, wie gut die Argumente sind; wenn er wütend kritisiert wird, dann bestätigt das, dass er „einen Nerv getroffen“ oder „eine wichtige Debatte angestoßen“ hat. Aus dieser Perspektive kann man sofort nachvollziehen, warum es attraktiv sein könnte, so viele Texte dieser Art wie möglich zu veröffentlichen. Man kann eigentlich nicht verlieren. Unbeachtet bleiben dabei die zerstörerischen Folgen für den Diskurs: das Einschleifen der politischen Ressentiments, die in der Debatte um das ‚Gendern‘ eben immer noch mitgeschleppt werden, aber auch die ständige Überreizung politischer Emotionalität.

Diese naheliegende und vielleicht unumgehbare Verstrickung in die unappetitlichsten Aspekte der Aufmerksamkeitsökonomie machen die selbstgerecht anmutende Heroisierung von Journalist:innen schwer verdaulich. Die Rechtfertigungen lauten: Man gehe eben dorthin, wo es wehtut; man begebe sich mutig ins Herz der Finsternis; man scheue sich nicht vor dem Umgang auch mit den dunklen Gestalten des politischen Diskurses. Wenn solche Selbsterzählungen kritisiert werden, dann steht dahinter der Verdacht, dass hier ein einfaches, vielleicht apolitisches narratives Begehren moralisch geadelt werden soll. Denn geht es am Ende nicht vor allem darum, eine besonders gute Geschichte zu erzählen, die ihr dramatisches Potential aus dem politischen Grusel ihrer Akteure bezieht?

Diskurskitsch und Klischees

Eine weitere Rechtfertigung gründet in einem kulturkritischen Klischee, das sich im Reden über die digitale Öffentlichkeit festgesetzt hat: Es ist die Vorstellung, dass Menschen nur noch in „Filterblasen“ existieren, in denen sie in ihren Meinungen bestätigt werden. In diesen „Echokammern“ radikalisiert man sich deshalb, weil man den ganzen Tag nur von Gleichgesinnten bestätigt bekommt, was man eh schon gedacht hatte. Daran schließt sich die Mahnung an, dass man sich doch wieder mehr mit den Meinungen Andersdenkender auseinandersetzen, einen Blick über den Tellerrand wagen sollte. Haben wir nicht verlernt, uns zu streiten, offen und respektvoll mit Ansichten umzugehen, die nicht unsere eigenen sind? Diesem Diskurskitsch verdanken wir zahlreiche journalistische Debattenformate wie etwa das Ressort Streit in der „Zeit“. Hier wird in der Laborsituation einer inszenierten Kontroverse vorgeführt, wie man „zivilisiert“ streitet – Diskursethik aus dem Geist des Debattierclubs.

In den Medienwissenschaften gilt das Konzept der digitalen „Filterblasen“ und „Echokammern“ allerdings schon länger als umstritten. Chris Bail etwa hat in seinem Buch „Breaking the Social Media Prism“ gezeigt, dass gerade das Heraustreten aus dem eigenen ideologischen Umfeld die Radikalisierung fördert. Es ist das ständige Konfrontiertwerden mit Meinungen, die uns absurd oder schändlich erscheinen, das die eigene Meinung immer weiter verhärtet. Bail erzählt von einem Experiment, in dem den Probanden ein Feed auf Social Media eingerichtet wurde, der sie täglich mit Ansichten konfrontierte, die ihrer politischen Einstellung widersprachen. Am Ende waren diese Menschen durch den ständigen Blick über den Tellerrand, durch die zermürbende Horizonterweiterung noch viel wütender und überzeugter als zuvor.

Dieses Experiment wird bei den meisten Mediennutzer:innen unmittelbaren Wiedererkennungswert erzeugen. Die neue Nähe, in die uns die kommunikative Infrastruktur des Internets zueinander bringt, hat nicht zu mehr Kuscheln geführt, sondern dazu, dass Menschen sich unablässig gegenseitig auf die Füße treten. Man öffnet die Google Startseite und wird sofort mit einem Artikel über etwas extrem Ärgerliches konfrontiert, man öffnet Twitter oder Facebook und sieht sofort einen frivolen, bösartigen „Take“, den man nicht unkommentiert lassen kann. Die Digitalisierung hat den Horizont der Weltwahrnehmung nicht verengt, sondern erweitert. Das führt allerdings dazu, dass sich unsere individuellen Horizonte verengen, weil der Eindruck einer unablässigen Kampfsituation uns in eine ständige lauernde Defensive drängt.

Vor diesem Hintergrund erscheint die aufmerksamkeitsökonomische Falle unausweichlich. Denn bereits kritisches Hinschauen verstärkt die Phänomene, die man durch die Kritik eigentlich schwächen wollte. Jeder Bericht, jedes Porträt, jede Reportage, aber auch all die wütenden Posts, die Screenshots und Kommentare blähen die aufmerksamkeitsökonomischen Portfolios der Polarisierungsunternehmer auf. Für dieses Problem gibt es keine einfache (vielleicht keine) Lösung. Einfach wegschauen, einfach links liegen lassen – das geht eben auch nicht. Ein Anfang wäre, sich der unangenehmen Tatsache, dass man unweigerlich feststeckt, bewusst zu werden, sich selbst als Quelle eines Rohstoffs wahrzunehmen, auf den gerade die Menschen und Institutionen zugreifen wollen, die man zu kritisieren versucht.

15 Kommentare

  1. „Fox News“ mag die Lüge über die Wahlfälschung aus wirtschaftlichen Gründen verbreitet haben. Das hat allerdings dazu geführt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung in den USA jetzt daran glaubt. Diesen Prozess nicht zu analysieren, wäre fahrlässig.“

    Amen.

    Könnten die Journalisten das bitte öffentlich analysieren und die ganzen rhetorischen Mätzchen, mit denen die Rechtspopulisten an ihre Jünger predigen, öffentlich machen? Aufklärung betreiben? Nicht nur die Talking Points der rechten Medienmaschine (mit einem „?“ statt einem „!“ in der Headline) nachplappern? (Historischen) Kontext zu den Lügen von rechts liefern?

    Hier eine mögliche Clickbait-Überschrift, mit der man evtl. auch die rechte Bubble erreicht: „Mit diesen Methoden wirst du von Politikern verarscht!“

    Dafür müsste man erst mal seine Kund- / Leserschaft ernst nehmen und für mündige Bürger halten. Daraus würde resultieren, dass man als Verlag mehr Journalisten einstellen müsste (Ketzerei!), weil die Journalisten jetzt eben nicht nur die „!“ –> „?“ Konvertierung machen müssen, sondern tatsächlich journalistisch arbeiten, mit Recherche und Quellen und Einordnung und so.

    Man darf sich aber auch nicht vertun: Die AFD-Zielgruppe wird man damit dennoch nicht erreichen. Die brauchen die Lösung auf die rhetorische Frage in der Überschrift spätestens im ersten Absatz und die darf sich auch nicht nach Genasium anhören. Weil die sind ja Selberdenker und wenn’s zu kompliziert wird, dann versucht einem doch nur irgendson linksgrüner Klugscheißer was einzureden!

  2. Da möchte ich mich meinem Vorredner anschließen – wie man als Privatmensch auf die „andere“ Filterblase reagiert, ist die eine Sache, aber als Zeitung könnte man z.B. einfach schreiben, dass Kamelas Lachen heller klingt, weil sie eine sog. „Frau“ ist. Und dass der kleine Donald da einer ganz großen und wichtigen Sache auf der Spur ist. Und dann meinetwegen – für die ganz Dummen – hinzufügen, dass Kritik an angeborenen, geschlechtsspezifischen Eigenschaften per definitionem sexistisch ist.
    Dann nimmt man die rechten Talkingpoints auf, um sie auseinander zu nehmen.
    Alle zu erreichen, einschließlich des Kern-AfD-Publikums, ist natürlich trotzdem illusorisch, wer so denkt, baut sich den eigenen catch-22 und kommt da nie mehr raus.

  3. Alles richtig. Es würde allerdings helfen, wenn sich die „Libs“ ihrer eigenen Provokationen bewusst werden würden und sie zurückfahren. Artikel unter dem Motto „Alte Männer dürfen keine Hoodies tragen“ oder „Haben heterosexuelle Beziehungen noch eine Zukunft?“ rauszuhauen, ist ebenfalls reines Polarisierungs-Unternehmertum: Es geht darum, Leute in Empörung zu versetzen, um ihnen danach vorzuwerfen, sie stünden mindestens mit einem Fuß im reaktionären Sumpf.

    Aber das legitimiert man vor sich natürlich damit, dass man für die gute Sache kämpfe. (Ich fürchte, das glauben die Rechten auch.)

  4. Ich kann verstehen, dass das ein Problem für Journalist:innen ist, weil man alles Neue aufnehmen und kommentieren muss. Aber ist es nicht auch tröstlich, dass Wutunternehmer keinen langen Atem haben? Ich als beruflich Nichtbetroffener kann das geduldig aussitzen. Die Aufreger von heute kennt morgen keine Sau mehr. Breitbart ist halbtot, Tate wurschtelt unbemerkt in einem Loch in Rumänien rum, Yiannopoulos »heilt sich selbst« mittels Konversionstherapie fern jeglicher Aufmerksamkeit vom Schwulsein. Breit was? Andrew wer? Yianno hä? Nach vier Jahren Harris werden wir vermutlich »Donald who?« fragen. Die Kakerlaken überleben uns eh alle.

  5. Die Erkenntnis des Artikels ist frustrierend. Im Grunde ändert niemand wirklich seine Ansichten und die Aufmerksamkeitsökonomie ist im Endstadium angelangt. Ich rufe direkt mal Ulrike Herrmann an und frage sie, wann der Kapitalismus endlich endet.
    Was hier nicht groß erwähnt wird, ist das Schwächerwerden von Autoritäten und das Erstarken des Individuums. Auch das scheint mir eine Sackgasse zu sein. Es braucht ein Gleichgewicht zwischen beidem. Das Individuum löst zum Beispiel nicht die Klimakrise. Oder das zunehmende Übergewichtsproblem. Das sind beides systemische Probleme.

  6. Oh, jetzt will ich viele Sachen sagen.
    Zuerst, dass „Erregung und Ärgernis“ als Kategorie das Thema vorgibt, nicht den Anlass. Dass es also in dieser wohl neuen Kategorie von Artikeln darum geht, was „Erregung und Ärgernis“ inzwischen als Genre im Journalismus anrichtet, nicht, was Autoren und Autorinnen ärgert und erregt.
    Dann fand ich den Text gut aber irgendwie richtig gerichtet und dann bei den wichtigen Details nicht richtig gut unterfüttert.
    Details wie die Trennung zwischen „Filterblasen“ und „Echokammern“, die hier vermengt werden. Dabei ist die Unterscheidung zwischen „Ich bekomme keine Infos von außerhalb meiner Blase“ und „die Infos, die ich bekomme, werden durch meine Blase noch verstärkt“ wichtig und gerade für Empörungsunternehmer bedeutend. Denn, dieses der „anderen“ (auch ein Problem, aber später …) Seite Empörungsgründe liefern, funktioniert mit Filterblasen nicht, mit Echokammern besonders gut. Meist bekommt man die Empörungsstücke nämlich von Mutuals zugespielt, die sich darüber ärgern, was Ulf wieder für einen Mist rausgehauen hat.
    Andere Details wie Mariam Laus Stück über Benedikt Kaiser. Das ja nicht nur wegen der Tatsache, dass man Kaiser portraitiert, kritisiert wurde. Sondern auch, wie es passierte und wie dünn die Erkenntnistiefe war. Die allermeisten Fakten und Analyseteilchen hat Lau nämlich einfach aus anderen Texten zusammengetragen. Das Neue an ihrem Text war die kuschelige Nähe des Textes und die Weglassungen und Verdrehungen. Etwa, dass der Typ bis zur Handindentaschenhaltung auf dem Bild 1/1 aussieht wie Nazis an der Uni eben aussehen, sie aber im Text genau dieses Äußere als „sieht gar nicht aus wie ein Nazi“ wegschreibt. Oder, dass sie seine Vita nachzeichnet um zum Schluss zu kommen, dass er es vom Neo-Nazi zum Vordenker der Neuen Rechten geschafft habe, als könne man das als Nazi nicht. Oder, dass Kaisers Bio der von Höcke sehr ähnlich ist – bishin zu den gleichen Nazidemos, auf denen sie waren – Höcke man den Extremismus aber sicher nicht absprechen würde.
    Oder Details wie die Tatsache, dass Empörungs- und Polarisierungsunternehmer in der Regel auch eine politische Agenda haben. Das Fox News Beispiel zeigt ja den Dreiklang hier. Man profitiert von der Aufmerksamkeit, man muss seinem angestammten Publikum das geben, was es sehen will. Aber dass die Vertreter und Verfechter der Big Lie natürlich ein gleiches Ziel haben – keine Democrats in Ämtern – gehört auch dazu. Auch, beim NZZ-Text über Harris (Annika Brockschmidt hatte dem ja richtigerweise den Text der gleichen Autorin über Meloni gegenübergestellt).
    Und Details wie Frohmeier, der wirklich nicht unter „Polarisierungsunternehmer“ laufen sollte, weil er ein einflussreicher Politiker ist. Der nutzt diese Polarisierung sicher. Aber im Gegensatz zu Presseleuten eben um echte politische Macht zu gewinnen. Während die Presse den ewigen Streit ja sucht und braucht und mit ihren Polarisierungsstücken befeuert, will Frohmeier den beenden. Indem die Leute, mit denen er streitet, aus dem politischen Raum verschwinden.
    Das unterscheidet ihn von etwa einer Julia Ruhs, die, ihre Focus-Kolumne sogar mit „Regt euch doch auf“ überschreibt. Die möchte sicher auch Politik machen, beeinflussen und hat politische Ansichten. Aber sie ist keine Politikerin. Im Gegensatz zu Frohmeier.
    So viel Kritik, dennoch ein Text, den ich mag, weiterempfehlen werde. Gerade weil das Triggern als Strategie inzwischen nicht mehr Strategie ist, sondern Inhalt selbst. Und das endet nicht gut.

    Ah, und die „Streit“-Seiten auf der Zeit gehören ignoriert, Trollgehabe im Feuilleton-Ton. Ganz schlimm.

  7. @#3:
    Du hast so recht: Diesen ganzen Schlamassel haben wir nur, weil irgendwelche Gutmenschen alten Männern Kapuzentextilien verbieten wollen. Die rächen sich jetzt dafür bitter und deshalb ist Trump an der Macht und die AfD bei stabilen 15% …

  8. Danke für die kluge und reflektierte Analyse, auch für diverse Gedanken dazu in den Kommentaren.
    Ich fühle mich darin bestätigt, dass ich seit Musks Übernahme den Social Media Konsum noch weiter heruntergefahren habe. Hilft aber auch nichts, wenn mir vermeintlich skandalöse Tweets auch in den Nachrichten präsentiert werden.
    Insgesamt ist diese Diagnose natürlich höchst frustrierend, da es anscheinend keinen Ausweg gibt. Ein echtes Dillemma.

    Und natürlich steht dahinter eine Ökonomie im Wortsinne, weil diese Diskurszerstörung, Skandalisierung und Emotionalisierung auch ein Geschäftsmodell ist – Aufmerksamkeit bedeutet im Zweifelsfall Geld/Einfluss, wie der Autor ja auch feststellt

    Und was nun? Sollte man entsprechende Skandalisierungsplattformen wie TikTok oder Facebook stärker regulieren (versucht man ja schon)? Oder gleich ganz verbieten? Sollte man Social Media wie Glücksspiel behandeln und entsprechende Warnhinweise verbeiten?

    Wobei: Eigentlich sind doch Medien wie die Öffentlich-Rechtlichen strukturell genau dafür aufgestellt, sich dieser Notwendigkeit einer Aufmerksamkeitsökonomie in Teilen zu widersetzen (Beitragsfinanzierung, keine Notwendigkeit für Klickzahlen usw.) – klappt aber trotzdem nicht so richtig, wie mir scheint.

  9. „Im Englischen gibt es dafür den Ausdruck Owning the libs (sinngemäß: ‚Linksliberale aufbringen/wütend machen‘).“

    Ich möchte eine andere Übersetzung vorschlagen, die m.E. dem Ausdruck „owning“ in diesem Zusammenhang besser gerecht wird: Die Linksliberalen übers Stöckchen springen lassen.

  10. @Volker

    Ich fand die Übersetzung auch nicht ideal, aber weil „owning“ hier eher die Bedeutung von „sie wütend machen indem man sie erniedrigt“ hat. Ich kenne den Begriff aus der „gamerszene“ wo „ownen“ ein Wort eben für besiegen/schlagen/reinlegen/es der person zeigen ist.

    Vielleicht ist es das, das „Ich habs den Linken mal wieder gezeigt“.

  11. @Volker

    Ich fand die Übersetzung auch nicht ideal, aber weil „owning“ hier eher die Bedeutung von „sie wütend machen indem man sie erniedrigt“ hat. Ich kenne den Begriff aus der „gamerszene“ wo „ownen“ ein Wort eben für besiegen/schlagen/reinlegen/es der person zeigen ist.

    Vielleicht ist es das, das „Ich habs den Linken mal wieder gezeigt“.

    (Mmmm, kann es sein, dass der Kommentar als „doppelt“ geflagt wurde weil ich beim absenden die Adresse vergessen hatte und die Seite damit nicht weiß, dass ich beim ersten mal gar nicht gesendet habe?)

  12. @Alex:
    Ich hätte KK ja gerne etwas wegen einer ganz eigenen Auffassung von false-balancing geschrieben, aber so war es wenigstens diesmal nicht ich.
    Und beim Unbehagen an einem Fragment von Spiegels Untertitel „Haben heterosexuelle Partnerschaften noch eine Zukunft“ Fleischhauer an der Seite zu wissen, ist auch schon Strafe genug.

    Vollständiger Titel:
    „Junge Frauen in der Datingkrise
    »Den treffe ich jetzt noch, und danach gebe ich auf«
    Mangelnde Reife, Sexismus, Rassismus: Sechs Frauen in ihren Zwanzigern erzählen, was sie an Männern stört und warum sie nicht mehr auf Dates gehen. Haben heterosexuelle Beziehungen noch eine Zukunft?“

    SPON 23.06.24
    Das hätte man natürlich besser gecancelt. Ist ja ne reine Provokation und gegen die natürliche Ordnung so was!

  13. Über Fallensteller hatte es schon Bill Ramsay im vorigen Jahrhundert:
    https://youtu.be/hR2FnLodERM
    „Holala
    Ich bin da
    In der herrlichen Stadt an der Seine
    Oh, ich finde Paris ja so schön
    Doch heut nach hab ich was tolles gesehen
    Pigalle, Pigalle das ist die grosse Mausefalle
    Mitten in Paris
    Pigalle, Pigalle
    Der Speck in dieser Mausefalle schmeckt so zuckersüß
    Da sieht man Dänen, Deutsche, Schweizer und auch Schweden
    Die dann ein Leben lang von dieser Reise reden“

    There is no business without fall in bzw. out … ;-)

  14. Mich wundert immer etwas, dass die Kulturtechnik der Provokation vor dem Hintergrund des Internets aufgegriffen und analysiert wird. Ich schätze ⅘ dessen, was hier steht, lässt sich auch – als Beispiel – auf die „Schocker-Werbung“ von Benetton in den frühen Neunzigern anwenden. Oder auch auf die jungen Rammstein.
    Und es sicherlich auch ein Standardwerk über die Kulturtechnik der Provokation, das bereits die alten Römer und Griechen mit in den Blick nimmt.

    Ich finde gut, dass Übermedien sichtbar neue Autor/innen und Perspektiven „an Land zieht“. Der Redaktion wünsche ich den Mut, einen Text auch mal beherzt zu kürzen.

    Und wenn ich hier schon so großkotzig daherblubbere: Wie wäre es mit einer Serie zu Mediendebatten aus vergangener Zeit?

  15. „Das hätte man natürlich besser gecancelt. Ist ja ne reine Provokation und gegen die natürliche Ordnung so was!“
    Ja, da muss ich Ihnen unironisch Recht geben – wählerische Frauen SIND die natürliche Ordnung, also kann das nur schlecht finden, wer gegen die natürliche Ordnung ist.

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