Agenturmeldung aus der Wissenschaft

Hörgeräte-Studie lässt aufhorchen – dass sie falsch ist, leider nicht

Artikel "Hörgeräte können ältere Menschen vor Demenz bewahren" mit rotem Stempel "Zurückgezogen"
Die Info, dass die Studie längst zurückgezogen wurde, fehlt in vielen Artikeln Ausriss: Stern.de

Der 14. April 2023 war ein guter Tag für alle, die ihr Geld mit Hörgeräten verdienen. An diesem Tag meldete die dpa, dass Hörgeräte das Risiko für Demenz beträchtlich senken können. Grundlage des Berichts war eine internationale Studie mit den Daten von fast 440.000 Britinnen und Briten. Das Demenzrisiko von Schwerhörigen sei im Vergleich zu normal Hörenden um 42 Prozent erhöht, so das Ergebnis. Allerdings nur, wenn sie kein Hörgerät trügen.

Das Ergebnis ließ viele aufhorchen: Die Agenturmeldung, die auch einen Experten zitierte und weitere Einordnung lieferte, kam bei den dpa-Kunden gut an und wurde auf diversen Nachrichtenportalen veröffentlicht. Der „Spiegel“-Artikel zur Studie landet noch heute weit oben in der Trefferliste, wenn man nach „Hörgerät“ und „Demenz“ sucht – vermutlich generiert er immer noch einiges an Klicks, vor allem von Leserinnen und Lesern im fortgeschrittenen Alter.

Forschungsteam machte Fehler bei Datenauswertung

Auch andere Studien deuten auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Tragen von Hörgeräten und Demenz hin, die Schlussfolgerung ist also nicht unbedingt falsch. Die konkrete Auswertung, über die berichtet wurde, hat sich allerdings inzwischen als fehlerhaft entpuppt. Sie wurde zwar in einem anerkannten Fachmagazin veröffentlicht, „The Lancet Public Health“. Ende November zog das Forschungsteam die Ergebnisse jedoch zurück. Die Wissenschaftler hatten bei der Auswertung der Daten einen Fehler gemacht, der erst auffiel, als Kollegen die Berechnungen nachvollziehen wollten.

Danach passierte, was in so einem Fall in der Wissenschaft üblich ist: Die Fachzeitschrift, die die Studie veröffentlicht hatte, markierte den Online-Aufsatz mit dicken roten Lettern als „RETRACTED“. Die dpa meldete am 13. Dezember 2023, dass die Studie zurückgezogen worden sei. Und was taten die Redaktionen, denen die Meldung – basierend auf einer einzigen Studie – klickstarken Content geliefert hatte?

Die meisten bekamen von der Richtigstellung wohl gar nichts mit. Der bereits erwähnte „Spiegel“-Artikel über die Studie ist zwar inzwischen mit einem Hinweis gekennzeichnet, dass die Studie zurückgezogen wurde – aber auch erst, seit Übermedien die Redaktion diese Woche auf den veralteten Text hingewiesen hat. Im täglichen Nachrichtengeschäft sei ihnen die dpa-Meldung über die fehlerhafte Studie leider entgangen, erklärt ein Sprecher auf Anfrage: „Hätten wir davon Kenntnis gehabt, hätten wir das entsprechend unseren Standards sofort und transparent korrigiert.“

Ausrisse von Online-Überschriften zu der Studie
Sehr viele Nachrichtenportale haben die dpa-Meldung zur Studie aufgegriffen

Auch vielen anderen Nachrichtenportalen scheint die Richtigstellung entgangen zu sein (Stand 12.06.2024): Bei der „Frankfurter Rundschau“, die zu Ippen Media gehört, wurde ein Text zur Studie erst nach einer Anfrage von Übermedien gelöscht, äußern wollte sich die Redaktion dazu nicht. Unkorrigierte Artikel über die Studie finden sich weiterhin beim „Stern“, beim RND, bei „MDR Wissen“, bei der „Süddeutschen Zeitung“ und als archivierte Nachrichtenmeldung bei Deutschlandfunk Nova. Bei der Deutschen Welle hatte eine Wissenschaftsredakteurin die Ergebnisse noch selbst eingeordnet (sie hatte die in einem britischen Fachblatt erschienene Studie allerdings auch Forschenden aus Großbritannien zugeschrieben, obwohl der Großteil des Teams in China forscht), auch dieser Text ist weiterhin online. Bei „Forschung&Wissen“ erschien noch im Oktober 2023 ein langer Bericht über das Thema, der die Studie als zentrale Quelle nennt (sie aber auch umfassend einordnet).

Hörgeräte-Werbung bei „Focus online“

Besonders ausgiebig berichtete „Focus online“, wo gleich drei Artikel zu der Hörgeräte-Demenz-Connection erschienen. Ein weiterer Text, der die Studie zitiert, kam im November im klassischen Artikel-Look daher, war aber als Anzeige gekennzeichnet, für, klar, „Hörgeräte: Kleine Wunder der modernen Technik“.

Nicht alle, aber viele Artikel verlinken die Original-Studie. Das schafft lobenswerte Transparenz, führt nun aber zu dem verwirrenden Effekt, dass Menschen, die auf der Suche nach Hintergrundinfos auf den Link klicken, beim fettroten Label „RETRACTED“ landen – und erst dann verstehen, dass sie einer Falschinformation aufgesessen sind. Die meisten Menschen werden allerdings gar nicht erst auf die Webseite eines englischsprachigen Fachmagazins wechseln und somit gar nichts davon erfahren.

Das könnte man als irrelevant abtun, schließlich handelt es sich um einen typischen Servicetext über irgendeine Studie aus China – und ein Hörgerät hat vermutlich noch niemandem geschadet. Dahinter steckt aber eine größere Gefahr: Wenn ich einer Nachrichtenseite schon bei solch einem Thema aus der zweiten Reihe nicht trauen kann, warum sollte ich es bei wichtigeren Themen tun?

Geradezu mustergültig verhielt sich die FAZ: Sie veröffentlichte nicht nur die Nachricht, dass die Studie fehlerhaft gewesen sei, sondern fügte auch in ihrem ursprünglichen Artikel direkt über dem Text einen Absatz ein:

„Achtung: Am 13. Dezember 2024 gab das Fachmagazin ‚The Lancet Public Health‘ bekannt, dass die im folgenden beschriebene Studie aufgrund von Fehlern bei der Auswertung zurückgezogen wurde.“

Auch im Wissenschaftsmagazin „Spektrum“ und beim Nachrichtenangebot web.de findet sich die korrigierende Meldung.

Tausende Fachartikel werden zurückgezogen

In Zukunft könnten solche Richtigstellungen zunehmen, denn dass eine seriös veröffentlichte Studie kurz darauf zurückgezogen wird, passiert immer öfter. Wie das Wissenschaftsmagazin „Nature“ jüngst berichtete, wurden allein im Jahr 2023 weltweit über 10.000 wissenschaftliche Artikel nachträglich zurückgezogen, die Zahlen sind in den vergangenen Jahren gestiegen. Die Seite „Retraction Watch“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, betroffene Studien zu sammeln und aufzulisten, und zählt auch, wie häufig zurückgezogene Artikel trotzdem weiter wissenschaftlich zitiert werden. Ein Problem, das auch in der Wissenschaftscommunity diskutiert wird.

Die tagesaktuelle Logik des Nachrichtenjournalismus kommt dabei an ihre Grenzen. Naturgemäß informieren sich die meisten Menschen über aktuelle Forschung eher auf journalistischen Seiten als in englischen Fachmagazinen. Und die Tatsache, dass die besagte Studie bei sehr vielen verschiedenen seriösen Medien zu finden ist, erweckt bei einem schnellen Faktencheck den Eindruck: „Wird schon stimmen.“

Zum selben Ergebnis kommt der KI-Chatbot „Copilot“. Fragt man ihn, ob Hörgeräte Demenz vorbeugen können, verweist er prominent auf die zurückgezogene Studie und listet als erste Quelle einen Link zur „Apotheken Umschau“ auf, wo die dpa-Meldung ebenfalls erschienen ist. Vermutlich tauchen in den Suchergebnissen und Trainingsdaten die ursprünglichen Ergebnisse einfach sehr viel öfter auf als die Korrektur. Hinzu kommen all die Hörgeräte-Werbeseiten, auf denen die Studie auch weiterhin steht und die an einer Richtigstellung womöglich nur geringes Interesse haben. Noch 2020 mahnte die Wettbewerbszentrale zwei Hörakustikunternehmen ab, die irreführend damit geworben hatten, dass Hörgeräte Demenz vorbeugen könnten.

Natürlich veralten Texte

Klar ist: Den eigentlichen Fehler haben die Forschenden gemacht, nicht die Journalistinnen und Journalisten. Und klar ist auch, dass kein Mensch erwarten kann, dass Redaktionen alle jemals bei ihnen erschienen Texte auf einem aktuellen Stand halten. „Eine ständige Aktualisierung der Meldungen aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse findet nicht statt“, schreibt der „Spiegel“-Sprecher. Wenn Studien aber grundlegend korrigiert oder zurückgezogen würden, mache die Redaktion das transparent, sobald sie davon Kenntnis erhalte. Die Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion und Dokumentation seien in der Regel gut über den aktuellen Wissensstand informiert, Hinweise kämen außerdem von den Fachpublikationen selbst, von Nachrichtenagenturen sowie Leserinnen und Lesern.

Rätselhaft ist allerdings ein Beitrag des MDR, der erst Anfang Juni 2024 erschienen ist. Auch hier geht es um die Hörgeräte-Demenz-Studie, deren Methodik detailliert beschrieben wird. Auf den Link unter dem Text scheint der Autor selbst aber gar nicht geklickt zu haben – sonst hätte ihm das Label „RETRACTED“ auffallen müssen. Vielleicht hat er als Quelle stattdessen die vielen Texte anderer Nachrichtenportale genutzt.


Ergänzung am 14. Juni:

Unter dem Link zum „Spiegel“-Artikel über die Studie findet sich nicht mehr der eigentliche Artikel, sondern eine Erklärung der Redaktion, warum der Text gelöscht worden ist.

 

4 Kommentare

  1. Wie viele Studien gibt es, die belegen, dass Quacksalberei wie Homöopathie, Anthroposophie, Akupunktur, Horoskope, Handauflegen, Steinheilung u.v.m. unwissenschaftlicher Quatsch ist?
    Und wie viel Geld setzt die Industrie um?

    Diese Studie wird noch oft zitiert werden.
    „Oh, die wurde zurückgezogen? Upsi! Korrigieren wir in der nächsten Ausgabe!“
    Immer abhängig davon, wer die 1/1-Seite neben dem redaktionellen Artikel gebucht hat. „Wir machen Ihnen da ein ganz vorteilhaftes Placement fertig.“

  2. #1 Ich halte den Vergleich für irreführend, da es hier um ernsthafte Forschung ging und der immerhin plausible Zusammenhang womöglich existiert, siehe Hinweis auf andere Studien.

    Ebenfalls sind die meisten zitierten Medien meines Wissens nicht bekannt dafür, Werbung gezielt zu setzen.

    Summa summarum: Auf „Aktuelle“-Niveau befindet sich das Fehlverhalten hier noch nicht.

  3. Spiegel-Sprecher auf Anfrage: „Hätten wir davon Kenntnis gehabt, hätten wir das entsprechend unseren Standards sofort und transparent korrigiert.“

    _Transparent_ ist die Korrektur m. E. leider immer noch nicht. Denn das würde doch wohl einschließen, dass das Datum der entsprechenden _Anmerkung der Redaktion_ ersichtlich wäre (was nicht der Fall ist).

    Wäre ja auch wichtig, um _später_ erkennen zu können, ob _sofort_ korrigiert wurde …

  4. Oh wie wäre das schön, wenn der MDR Mal positiv dabei auffallen würde. Aber wie so oft, in Leipzig ist man gut dabei – nur leider von der falschen Seite her. Zweifelhafte wissenschaftliche Referenzen findet man in MDR Verbrauchermagazinen ja auch schon so. Hatte den MDR auch kontaktiert, aber wer will schon in 2 Wochen eine Korrektur erwarten können? ;)

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