Anti-Journalismus

Aus Solidarität mit Israel verzichtet „Bild“ darauf, über palästinensische Opfer in Gaza zu berichten

„Israel ist ein Teil von mir.“

Friede Springer

 

Darf man Mitleid mit Gaza haben? Am 1. November, drei Wochen nach dem Massaker der Hamas, auf das Israel zuerst mit Luftangriffen auf den Gaza-Streifen reagierte und dann mit einer Bodenoffensive, stellt die „Bild“-Zeitung in größerer Aufmachung diese überraschende Frage.

Das Blatt zeigt eine palästinensische Frau, die „voller Trauer vor einem zerstörten Gebäude in Gaza schreit“ und einen palästinensischen Jungen, der im Fußball-Trikot inmitten von Trümmern sitzt: „Herzzerreißend“.

Das Sterben der anderen: Warum auch Gaza Mitgefühl verdient hat
Alle Screenshots: „Bild“

„Bild“-Redakteur Timo Lokoschat schreibt:

Es sind Fotos und Videos, die von Tod, Not und Trauer zeugen: Mütter schreien ihre Pein heraus, Väter halten tote Kinder in den Armen und geben ihnen einen letzten Kuss auf die von Staub bedeckten Wangen, Rettungskräfte suchen verzweifelt nach Menschen, die unter Schutt und Asche begraben sind.

Man müsste einen Eisblock statt eines Herzens in seiner Brust tragen, wenn einen die Bilder aus Gaza nicht berühren würden.

Kann man trotz des schrecklichen Massakers der Hamas an 1400 Frauen, Männern, Kindern, Babys und Greisen auch Mitleid mit Gaza haben? Ja!

Man könnte das für eine Selbstverständlichkeit halten. Man könnte es merkwürdig finden, dass man sich beim Anblick des grenzenlosen Leids vieler Menschen erst vergewissern muss, ob man sich das Mitgefühl auch erlauben darf. Man könnte sich sogar vorstellen, wie die „Bild“-Zeitung eine solche Frage fände, wenn sie von ihren politischen Gegnern käme, wie sie dann eine Mitgefühlspolizei an die Wand malen und schreien würde: DA WIRD MAN JA WOHL NOCH MITFÜHLEN DÜRFEN.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum es so überraschend ist, dass „Bild“ fragt, ob man mit den vielen leidenden Menschen im Gaza-Streifen mitfühlen darf: Diese Menschen sind bis dahin in der „Bild“-Berichterstattung nicht vorgekommen. (Sie kamen, um das vorwegzunehmen, auch danach praktisch nicht wieder vor.)

Es sind in der „Bild“-Zeitung bis zu jenem Artikel fast ausschließlich Menschen in Israel gestorben. Dass es überhaupt Tausende Todesopfer im Gaza-Streifen gibt, dass es riesiges Leid und Elend unter palästinensischen Zivilisten gab, war kein größeres Thema in „Bild“. Sie tauchen überhaupt zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Frage auf, ob man mit ihnen oder ihren Angehörigen mitfühlen darf.

Entsprechend konsequent ist es, dass „Bild“ den Artikel mit „Das Sterben der Anderen“ überschrieben hat. Das ist einerseits natürlich bloß ein Wortspiel mit bekannten Filmtitel „Das Leben der Anderen“; es beschreibt andererseits aber treffend den distanzierten und distanzierenden Blick des Blattes auf diese Opfer. Im Gegensatz zu den Menschen, die in Israel getötet wurden. In der Philosophie und Sozialwissenschaften gibt es für die Methode, andere Gruppen als die eigenen als fremd darzustellen, den Begriff des „Otherings“. Er könnte kaum besser illustriert werden als durch diese „Bild“-Berichterstattung.

Obwohl Lokoschats Artikel vom Leid der Zivilbevölkerung in Gaza handelt, verwendet er sehr viel Mühe darauf klarzustellen, dass Mitleid mit diesen Menschen in keiner Weise bedeutet, Israel zu kritisieren. Er schreibt, dass zivile palästinensische Opfer von der Hamas ausdrücklich „gewollt“ seien, um neuen Hass zu produzieren und die Weltöffentlichkeit auf die eigene Seite zu ziehen. Ausführlich schildert er, wie die Hamas die eigene Bevölkerung als „menschliche Schutzschilde“ missbraucht, und er fügt hinzu:

Ein Fakt, der die israelischen Streitkräfte nicht von der Verantwortung entbindet, jede Militär-Aktion sorgsam abzuwägen. Obwohl die Armee sich selbst hohe ethische Standards auferlegt hat und von der Weltöffentlichkeit kritischer beobachtet wird als jede andere Streitmacht, passieren im Krieg dennoch manchmal Fehler, die zu unbeabsichtigten zivilen Opfern führen. Ausschließlich in unbewohnten Gebieten zu operieren, würde allerdings bedeuten, dass die Hamas – die sich gezielt in Wohngebieten verschanzt – überhaupt nicht bekämpft werden kann.

Manchmal passieren Fehler, die zu unbeabsichtigten zivilen Opfern führen – das ist die drastischste Kritik an Israels Kriegsführung, die sich „Bild“ erlaubt. Aber das Spektakuläre an der „Bild“-Berichterstattung über diesen Gaza-Krieg ist nicht, dass das Blatt Nachrichten aus einer unbedingten Solidarität mit Israel einordnet und bewertet. Dass Spektakuläre ist, dass „Bild“ Nachrichten, die für diese Parteinahme womöglich heikel oder unbequem sind, weitgehend ausblendet. Zum Beispiel die von der großen Zahl ziviler Opfer unter den Palästinensern im Gaza-Streifen.

„Das Gegenteil von Journalismus“

Man könnte sagen, das ist antijournalistisch. Es gibt sogar jemanden, der genau das sagt: Mathias Döpfner, Gewissen der Republik und Vorstandschef des Axel-Springer-Konzerns, der die „Bild“-Zeitung herausgibt.

Podcast-Cover: Ronzheimer mit Döpfner

Der hauseigene Vorzeige-Reporter Paul Ronzheimer hat Döpfner in seinem Podcast am 19. Oktober gefragt, was denn in der Praxis die Leitlinie bedeutet, die für alle Mitarbeiter des Hauses gilt: „Wir unterstützen das jüdische Volk und das Existenzrecht des Staates Israel.“ Döpfner antwortete:

„Das ist (…) eine Form von Transparenz und keineswegs Aufforderung zur Einseitigkeit oder zum Aktivismus. Also gerade wer das jüdische Volk unterstützt und schützt oder den israelischen Staat in seinem Existenzrecht nicht in Frage stellt, der muss ja vielleicht ganz besonders kritisch sein. (…)

Mir ist generell ganz besonders wichtig, dass wir immer die Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus sauber ziehen. Wenn Journalisten für eine gute Sache und Absicht – gleich welche das ist – glauben, sozusagen einseitig berichten zu müssen und vielleicht Fakten, die der eigenen These widersprechen, nicht berücksichtigen zu müssen, dann ist das für mich Antijournalismus. Das ist das Gegenteil von Journalismus, und es ist übrigens das, was bei den Leuten Verdruss erzeugt, weil: Sie spüren es, sie merken es, dass sie einseitig informiert und manipuliert werden und wenden sich ab und verlieren das Vertrauen in Journalist:innen und Medienmarken.

Das ist also das, was wir niemals tun dürfen und was wir auch – von Unfällen und Ausnahmen und Fehlern, die immer passieren – nicht tun. Es ist einfach nicht richtig.“

Das, was man bei Axel Springer laut Mathias Döpfner nicht tun darf und nicht tut, ist genau das, was „Bild“ seit Wochen tut. Man berichtet nicht nur einseitig. Man lässt alle Fakten weg, die das Handeln Israels in Frage stellen oder die Unterstützung Israels auf eine Probe stellen könnten. Man lässt die Zivilisten im Gaza-Streifen weg.

Ungefähr zwei Drittel der Getöteten in Gaza sollen Zivilisten sein. Die israelische Armee hält dieses Verhältnis für „ausgesprochen positiv“. Insgesamt könnten nach Schätzungen bisher knapp 20.000 Menschen in Gaza getötet worden sein.

Ein Mann trauert um Opfer eines Luftangriffs auf das Al-Aqsa-Krankenhaus Foto: Imago / APAimages

Ich habe für diesen Artikel alle Berichte gelesen, die im E-Paper der „Bild“-Bundesausgabe seit dem Hamas-Massaker erschienen sind. Auf diese Print-Version beziehe ich mich im Folgenden, wenn es darum geht, was „Bild“ berichtet hat – und was nicht. In der Online-Version von „Bild“ finden sich gelegentlich längere Versionen von Artikeln mit weiteren Informationen und, vor allem versteckt im Live-Ticker, kurze nachrichtliche Meldungen. Die gedruckte „Bild“ ist aber die kuratierte Form all der Veröffentlichungen und zeigt, was die Redaktion für wichtig und erwähnenswert hält.

Der folgende Überblick dokumentiert anhand von Schlaglichtern, wie „Bild“ das Thema ziviler Opfer im Gaza-Streifen behandelt bzw. ausblendet.

„Die israelische Armee wird alles tun, um palästinensische Zivilisten zu schützen“

Die Blattlinie von „Bild“ hat der stellvertretende Politikchef Filipp Piatov in einem Kommentar am 10. Oktober gleich als Durchhalteparole formuliert:

Deutschland hat in dieser Zeit vor allem EINE Aufgabe.

Deutschland muss Israel unterstützen und den Rücken freihalten, bis die israelische Armee ihre Kriegsziele erreicht hat. Ganz gleich, wie lange es dauert, wie hart der Krieg wird.

Hart für wen, könnte man an dieser Stelle fragen, aber das führt womöglich schon in die falsche Richtung.

In Piatovs Kommentar steckt schon die Mahnung vor dem falschen „Mitgefühl“:

Aus den letzten Kriegen wissen wir: Die Solidarität mit Israel hält vielerorts nur so lange, bis Israel sich wehrt. Das Mitgefühl hält, solange Juden wehrlos abgeschlachtet werden. Sobald sie sich wehren, gilt das Mitgefühl plötzlich den Terroristen.

Den Terroristen? Nicht den palästinensischen Zivilisten? Und was ist überhaupt mit denen?

Die israelische Armee wird alles tun, um palästinensische Zivilisten zu schützen.

Wird. Nicht „soll“, nicht „muss“. Es ist für „Bild“ keine Erwartung, keine Hoffnung, kein Vertrauen; es ist eine Tatsache.


Am 11. Oktober sind mögliche zivile Opfer noch einmal kurz Thema – in einem Artikel, der eine erwartete Bodenoffensive Israels diskutiert:

Fest steht: Die Operation wird Hunderte Terroristen, Soldaten und auch Zivilisten das Leben kosten.


Am 14. Oktober bringt „Bild“ eine kleine Meldung:

REUTERS-JOURNALIST AN GRENZE GETÖTET

Im Libanon ist ein Reuters-Journalist an der Grenze zu Israel durch Beschuss getötet worden. „Mit großer Betroffenheit haben wir erfahren, dass unser Kameramann Issam Abdallah getötet worden ist“, teilte eine Reuters-Sprecherin gestern Abend mit.

Die Nachrichtenagentur Reuters hat später die Umstände des Vorfalls untersucht und kam Anfang Dezember zu dem Ergebnis, dass ein israelischer Panzer auf Issam Abdallah geschossen habe. Er habe in einer Gruppe von Journalisten gestanden, von denen die meisten Helme mit der Beschriftung „PRESS“ trugen. Reuters hat die Tötung des Journalisten verurteilt und Israel aufgefordert, zu erklären, wie es dazu kommen konnte, und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Auch die Nachrichtenagentur AFP, von der eine Mitarbeiterin bei dem Beschuss verletzt wurde, forderte eine Erklärung. „Eine Gruppe von Journalisten ins Visier zu nehmen, die klar als Presse zu identifizieren war, ist unerklärlich und inakzeptabel“, sagte ein Vertreter.

Nichts davon fand seinen Weg in die „Bild“-Zeitung, auch nicht in die Online-Ausgabe.


Ebenfalls am 14. Oktober bringt „Bild“ ein „‚Wörterbuch‘ der Hamas-Versteher in Deutschland“, in dem Timo Lokoschat unter anderem Anstoß an der Formulierung „Ohne Rücksicht auf Verluste“ nimmt. Das sei „eine der größten Lügen der Terror-Versteher. Im Gegensatz zur Hamas versucht Israels Armee, zivile Verluste zu vermeiden“.

Egal, ob man das glaubt oder nicht: Wäre es nicht Journalismus, gelegentlich zu informieren, wie gut der Armee dieser Versuch gelingt?


Am 19. Oktober kommen immerhin behauptete getötete Palästinenser in „Bild“ vor – um die Zahl zu dementieren. Es geht um den von der Hamas behaupteten (und von vielen internationalen Medien unkritisch übernommenen) israelischen Luftangriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus mit ebenfalls von der Hamas behaupteten (und von vielen internationalen Medien unkritisch übernommenen) 500 Toten. Für die gibt es, wie „Bild“-Reporter Paul Ronzheimer kommentiert, „keine Hinweise“.


Am 21. Oktober zitiert „Bild“ einen Sicherheitsexperten, dass vor allem US-Präsident Joe Biden Druck auf Israel ausübe, zivile Opfer im Gazastreifen zu vermeiden. Ob es schon irgendwelche zivilen Opfer im Gazastreifen gibt, geht aus dem „Bild“-Artikel nicht hervor.


Am 28. Oktober berichtet „Bild“, dass Israels Armee den Einsatz im Gazastreifen ausweite. Ein Foto soll eine Explosion im Gazastreifen zeigen. Über mögliche Opfer erfährt man nichts.


Erdogan droht dem Westen mit Glaubenskrieg

Am 30. Oktober schafft es Kritik am Vorgehen Israels in die „Bild“-Zeitung – allerdings nur in der Form, wie sie der türkische Präsident Erdogan vorgetragen hat: Er habe dem Westen bei einer Großdemo vorgeworfen, „der Hauptschuldige an den Massakern im Gazastreifen“ zu sein, heißt es. „Bild“ zitiert Erdogans Vorwurf, Israel begehe „Kriegsverbrechen“ und bombardiere Frauen, Kinder und Zivilisten – um diesen Vorwurf unmittelbar abzutun:

„Klassische Täter-Opfer-Umkehr! Denn Israels Armee betont, dass sich der Militäreinsatz gegen die Hamas-Führung und deren Infrastruktur richtet. Zivilisten werden vor Luft-Angriffen GEWARNT.“


Am 2. November berichtet „Bild“ über eine „neue Präzisionswaffe“ Israels „zur Ausschaltung von Hamas-Stellungen“: „So kann Israels Armee zivile Opfer in der Nähe ihrer Ziele weiter reduzieren – wenn auch nicht ganz vermeiden.“

Was das konkret bedeutet, erfährt man nicht.

Rätsel um RAKETEN-KRATER

„BILD hakt nach“ heißt es über einem größeren Artikel, der vom „Rätsel“ um einen Raketenkrater handelt. Bei einem Angriff sei ein Hamas-Kommandeur „eliminiert“ worden. „Bild“ „hakt nach“:

Doch die Einschläge deuten darauf hin, dass noch viel mehr Menschen umkamen.

Der Hamas-Propaganda nützt das. Sie bauschte die Opferzahl schnell auf „Hunderte“ auf, der katarische TV-Sender Al-Jazeera sendete live in die gesamte arabische Welt. Anders das nahe gelegene Kamal-Adwan-Krankenhaus: Es sprach von 35 getöteten Menschen, darunter auch Kinder und Frauen.

Auch wenn „Bild“ hier die zivilen Opfer im Narrativ eines „Viel weniger als behauptet“ präsentiert, werden sie immerhin erwähnt. Das ist eine seltene Ausnahme.


BILD exklusiv in Gaza!

Am 8. November bringt „Bild“ in großer Aufmachung eine Reportage von Paul Ronzeimer, der – embedded mit der israelischen Armee – in den Gaza-Streifen reisen konnte. Aus eigener Anschauung kann er allerdings wenig berichten:

Der Kommandeur sagt, dass die Zivilisten alle vorher geflohen seien, überprüfen können wir das nicht. „Wir haben hier keine Zivilisten gesehen, auch keine Leichen gefunden“, sagt er.

Klar ist angesichts der Zerstörung: Wenn hier noch Zivilisten waren während des Angriffs, hätten sie nicht überleben können. (…)

Auf die hohen Opferzahlen der Zivilisten angesprochen sagt Kommandeur Idor Kess: „Wir versuchen alles, um zivile Opfer zu vermeiden. (…)“

Moment: Auf die hohen Opferzahlen der Zivilisten angesprochen? Welche hohen Opferzahlen?


In einem weiteren Artikel geht es an diesem Tag um die Schauspielerin Angelina Jolie, die in einem Instagram-Post über die israelischen Angriffe auf Gaza geschrieben hatte: „Das ist die vorsätzliche Bombardierung einer eingeschlossenen Bevölkerung, die nirgendwohin fliehen kann.“ Ganze Familien würden ermordet, Frauen und Kinder kollektiv bestraft. Sie würden der Nahrungsmittel, Medizin und humanitärer Hilfe beraubt.

„Bild“ lässt den israelischen Staatspräsidenten das „verärgert“ zurückweisen, und gibt sich verständnislos: „Was denkt sich Hollywood-Star Angelina Jolie (48) bloß bei solchen Aussagen?“

Die Schlagzeile lautet nicht: Angelina Jolie kritisiert Israel.

Die Schlagzeile lautet: Israels Präsident kritisiert Angelina Jolie.


Vom 16. November an berichtet „Bild“ mehrfach groß über das Al-Shifa-Krankenhaus, das von israelischen Truppen eingenommen wurde, die überzeugt seien, dass sich darunter „die wichtigsten Bunker der Terrororganisation Hamas“ befinden. „Bild“ wird es später ein „Terror-Nest“ nennen.

Dass zahlreiche Regierungen, Hilfsorganisationen und die UNO die Angriffe auf das Krankenhaus verurteilten und die Weltgesundheitsorganisation WHO sie als „völlig inakzeptabel“ bezeichneten, erfährt man aus „Bild“ nicht.

Mögliche Opfer im Krankenhaus kommen nur indirekt vor, wenn Filipp Piatov in seinem Bericht schreibt:

Der Einsatz ist hat aber auch humanitäre Zwecke: Israel brachte „Inkubatoren, Babynahrung und medizinische Hilfsgüter“ in die Klinik, wo sich palästinensischen Angaben zufolge Tausende Menschen befinden.

Ein Foto zeigt palästinensische Frühchen im Krankenhaus mit dem Bildtext: „Für sie brachte Israel Inkubatoren mit.“

(Tatsächlich mangelte es nach verschiedenen Medienberichten nicht an Inkubatoren, sondern an Strom, weil Israel die Versorgung mit Elektrizitität und Diesel unterbrochen hat.)

Am 21. November meldet „Bild“, dass 28 Frühchen aus dem Krankenhaus nach Ägypten evakuiert werden konnten; drei weitere blieben im Süden des Gaza-Streifens. Der Artikel beginnt mit den Worten: „Hoffnung für die wirklich Unschuldigen in Gaza“ – als wäre jedes ältere zivile Opfer nicht wirklich unschuldig.


Am 18. November schafft es eine Zahl palästinensischer Opfer in „Bild“, aber wieder nur über den Umweg des diskreditierten türkischen Präsidenten Erdogan:

Zwar wiederholte Erdogan seine übelsten Israel-Hetztiraden („Terrorstaat“, „Faschismus“) diesmal nicht und befürwortete eine „Zwei-Staaten-Lösung“. Er warf Israel aber vor, Gaza „dem Erdboden gleichgemacht“, angeblich 13 000 Palästinenser ermordet zu haben.


Am 22. November wiederholt Filipp Piatov seine Durchhalteparole:

Die Freilassung verdanken die Geiseln nicht nur internationalen Verhandlungen, sondern Israels militärischer Stärke. Die Hamas lässt die Menschen nur frei, weil sie unter massivem Druck steht.

Deshalb muss Israel weiterkämpfen und von uns unterstützt werden.


Was hätte Deutschland getan, wenn man 1000 Menschen getötet hätte?

Am 29. November veröffentlicht „Bild“ ein Interview mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu – allerdings, genau genommen, nicht als Interview. „Bild“ veröffentlicht, was Netanjahu gesagt hat, eingeleitet mit kurzen Stichworten zum Thema, um das es geht. Es ist das Gegenteil der Form, die man bei „Bild“ gelegentlich als „Verhör“ bezeichnet, wenn ein Politiker besonders kritisch befragt wird. Hier gibt es in der „Bild“-Präsentation gar keine Fragen, nur Mikrofonhalterei. (Die gleiche Form hat „Bild“ bereits am 24. Oktober bei einem Interview mit dem israelischen Minister Israel Katz gewählt.)

Zum Stichwort „Palästinensische Zivilisten“ wird Netanjahu mit den Worten zitiert:

„Wir fordern Zivilisten auf, sich in sichere Zonen zu begeben. Hamas hat sie mit vorgehaltener Waffe daran gehindert. Wir haben sichere Korridore geschaffen, damit Zivilisten die Kampfzone verlassen können. Hamas hat auf diese sicheren Zonen geschossen.“

Ein weiteres Stichwort lautet: „die Kritik von Frankreich-Präsident Macron, dass Israel zu viele Zivilisten töte“. Darauf sagt Netanjahu, was „Bild“ seit Wochen sagt: dass „Israel versucht, alles in seiner Macht stehende zu tun, um die Zahl der Opfer zu minimieren“.

„Wehe dem, der ihnen in die Quere kommt“

In den vergangenen drei Wochen bestand die Berichterstattung in der gedruckten „Bild“-Zeitung vor allem aus Berichten über die zweifellos entsetzlichen Schicksale israelischer Geiseln und ihrer Familien und aus Werbung für die israelische Armee. „Bild“ feierte die „Operation Atlantis“, mit der Israel die Hamas-Tunnel mit Meerwasser fluten will, und „Tamara und ihre Panzer-Soldatinnen vom Bataillon ‚Caracal‘“, die „Jagd auf Hamas-Terroristen machen“:

Sie sind Israels weibliche KSK

Sie strahlen wie Models in Uniform auf ihrem Panzer (Merkava), die Nägel blutrot lackiert für den Kampf – und wehe dem, der ihnen in die Quere kommt …!

Ein Foto zeigt „Premier Bibi Netanjahu (74) im November bei seinen Wüsten-Löwinnen“.

Palästinensische Zivilisten im Gaza-Streifen kommen bis heute nicht mehr vor in „Bild“, in keiner Form. Nicht in Form einer geschätzten Zahl von Todesopfern, nicht in Form von Schicksalsberichten über Menschen, die ihre ganze Familie verloren haben, nicht in Form von Palästinensern, die unter zweifelhaften Umständen von israelischen Soldaten getötet wurden, nicht einmal in Form von Appellen internationaler Organisationen und Politiker an Israel, Zivilisten besser zu schützen.

Auch die vielen getöteten Journalisten in Gaza finden in „Bild“ keinerlei Erwähnung . Nicht einmal der Tod einer sechsköpfigen deutschen Familie, die im Wohnzimmer ihres Hauses in Gaza von israelischen Bomben getötet wurde, schaffte es in die „Bild“-Zeitung, obwohl genau der „Auch deutsche unter den Opfern“-Dreh eigentlich ein klassischer Boulevardzeitungs-Zugang ist.

„Bild“ macht das schon immer so

Diese Art des Anti-Journalismus ist keine Erfindung von „Bild“-Chefredakteurin Marion Horn, die ihn im Moment verantwortet. Im Gegenteil: Er hat eine lange Tradition, und es ist faszinierend, wie konsequent die „Bild“-Zeitung über die Jahre in dieser Weise einen systematischen blinden Fleck in der Berichterstattung erhält.

2014 zum Beispiel, beim letzten Gaza-Krieg. Ende Juli starben beim Beschuss einer Schule der Vereinten Nationen, in die sich Tausende Menschen geflüchtet hatten, viele Kinder und humanitäre Helfer. Die USA verurteilten den israelischen Beschuss, kritisierten aber mit Blick auf die Hamas auch diejenigen, die die Verantwortung dafür tragen, dass Waffen in UN-Einrichtungen versteckt worden seien. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sagte: „Es gibt nichts Beschämenderes, als schlafende Kinder anzugreifen.“ Die Vereinten Nationen hätten Israel den Standort der Mädchenschule mehrfach mitgeteilt. „Ich verurteile diesen Angriff auf das Schärfste. Er ist durch nichts zu rechtfertigen.“

In der „Bild“-Zeitung stand am nächsten Tag kein Wort davon. „Solidarität mit Israel“, schrieb ich damals, „bedeutet für ‚Bild‘, den Lesern eine Seite der Geschichte systematisch vorzuenthalten.“

Um den Jahreswechsel 2008/2009 führte Israel eine Militäroffensive im Gaza-Streifen durch, um die Hamas-Infrastruktur zu vernichten. Dabei kamen neben Terroristen auch zahlreiche Zivilisten ums Leben. „Bild“ aber machte aus getöteten „Palästinensern“ getötete „Terroristen“ – und zählte oder erwähnte zivile Opfer nicht.

Chefredakteur war damals Kai Diekmann. Er verantwortete auch den Anti-Journalismus von „Bild“ im Libanon-Krieg 2006. Nach einem Tag, an dem mindestens 15 Menschen in Israel durch Raketen der Hisbollah und 14 Menschen im Libanon durch israelische Militäraktionen ums Leben kam, erwähnte „Bild“ nur die Toten in Israel. Am folgenden Tag vermeldete „Bild“ erneut dieselben israelischen Opfer – und verschwieg erneut die libanesischen. Noch einen Tag später fand „Bild“ wiederum Opfer im Libanon nicht berichtenswert.

In der Berichterstattung damals fälschte ein „Bild“-Redakteur namens Julian Reichelt übrigens auch Zitate aus anderen Zeitungen, um die Berichterstattung im pro-israelischen Sinne zu manipulieren. Nach einem Luftangriff, bei dem vier unbewaffnete Blauhelmsoldaten von Israel getötet wurden, machte sich das Blatt die Position Israels in seiner Berichterstattung zu eigen – und verschwieg die Kritik an dem Land, die der damalige UNO-Generalsekretärs äußerte.

„Bild“-Verantwortliche und -Redakteure haben während all dieser Zeit gewechselt. Aber es gibt eine personelle Konstante: Vorstandsvorsitzender von Axel Springer ist seit 2002 Mathias Döpfner, dem es nach eigenen Worten extrem wichtig ist, dass Journalisten nicht zu Aktivisten werden, auch nicht im Dienst einer guten Sache.

8 Kommentare

  1. „Mitgefühl“ ist generell nicht das erste Merkmal, was mir zu BILD-Berichterstattung einfällt.
    Die Zahlen infrage zu stellen wäre ja noch ok (mit entsprechenden Argumenten), aber mehr Arbeit, als einfach die halbe Berichterstattung wegzulassen.

  2. Gefühlt, war dies klar. Aber dank dieser präzisen Aufarbeitung ist es jetzt nicht mehr nur ein Gefühl. Danke für diese Aufarbeitung.

  3. Ich habe alle Artikel von Stefan Niggemeier zur BILD-Zeitung der letzten Jahrzehnte gelesen – die BILD kommt darin nicht ein einziges mal positiv weg. Über BILD zu schreiben bedeutet bei Übermedien, den Lesern eine Seite der Geschichte systematisch vorzuenthalten. Kein Wort über den in Antisemitismus der Süddeutschen, des SPIEGELS, der Zeit, der sich natürlich wohlfeil im Mantel der Ausgeglichenheit kleidet. Zum Glück endet das geschenkte Abonnement bei Übermedien bald, ist ja nicht zum Aushalten.

  4. @Rackelhahn:
    Der Artikel könnte, wenn man die Glaubwürdigkeit mal als Kriterium heranzöge, glatt in der BILD stehen.

    Übrigens, 2023 ist die BILD mit 28, von bislang 79 Presserügen, mal wieder in einer ganz anderen Liga unterwegs, als alle Konkurrenten. Auch dafür Respekt.

  5. Liebe Kollegen und Kolleginnen, da ich zu den wenigen gehöre, die hier unter ihrem Klarnamen kommentieren, hat es ein wenig gedauert, bis ich mir diesen Widerspruch erlaube. Stefan Niggemeyer hat hier eine unglaubliche Fleißarbeit abgeliefert, um das Offensichtliche zum Tatsächlichen zu machen. Er nennt das „systematischer blinder Fleck“ der BILD-Zeitung.

    Ich vermisse vieles an dieser Darstellung. Zuvorderst einen Hinweis darauf, ob BILD vor Veröffentlichung mit diesen Vorwürfen konfrontiert wurde und wie die Chefredaktion darauf reagiert hat. Denn auch diese Archivrecherche beweist im Grunde nur, was allgemein bekannt ist: BILD tritt als Boulevardzeitung nicht mit denselben journalistischen Ansprüchen an eine ganzheitliche Darstellung nachrichtlicher Ereignisse an, wie etwa SZ, FAZ oder Die Zeit.

    Deshalb kann man von BILD nicht einfordern, was BILD nie versprochen hat: Die Welt in all ihren Schattierungen zu zeigen. BILD ist gegen die Wärmepumpe, Bild hetzt gegen „faule“ Bürgergeldempfänger und BILD kritisiert die Ampelregierung selbst dann, wenn sie ihre Fehler korrigiert. BILD betreibt Tendenzjournalismus und hat nicht die Absicht, alle Seiten eines Konflikts zu Wort kommen zu lassen. Das ist keine News. Die Opfer in Gaza nur am Rande zu erwähnen, ist kein blinder Fleck, sondern eine bewusste, sehende Entscheidung. Und deshalb wird eine andere Frage interessant.

    Warum fällt dies Übermedien ausgerechnet am Beispiel Gaza auf? Warum ist Euch der Normalfall bei BILD ausgerechnet bei diesem Thema eine irre arbeitsintensive Recherche wert? Hier drängt sich der Eindruck auf, Niggemeyer riefe nach einer Ausgewogenheit, die wir auch als false balance kennen.

    Ich bin weit entfernt davon, BILD zu verteidigen. Aber glaubt irgendjemand ernsthaft, wenn BILD die Gazaopfer verschweigt, erfährt die Welt nichts davon? Weil sie ohne BILD blind ist?

    Womit wir dann bei der Deutschen Medienlandschaft insgesamt angekommen sind. Hier würde mich tatsächlich interessieren, wie „balanced“ der Anteil von Berichten über Gaza ist im Vergleich zu Berichten über das Massaker der Hamas und die Folgen für die Angehörigen. Und wie oft Berichte von Opfern in Gaza wirklich so in den Gesamtkontext eingeordnet werden, dass der Leser niemals den Anlass des Einmarsches Israels in den Gazastreifen vergessen kann. In den Nachrichten ist das häufig nicht der Fall.

    Auch wenn es nicht journalistisch intendiert ist, ist ein Opfer immer eine Anklage. Deshalb können wir gerne diskutieren darüber, ob es nicht auch einer besonderen journalistischen Verantwortung entsprechen kann, die von der Hamas gewollten zivilen Opfer nicht im selben Masse als Anklage gegen Israel zu verwenden, wie die abgeschlachteten, vergewaltigten, gefolterten oder entführten unschuldigen Menschen aus 34 Nationen als Anklage gegen das von der Hamas vertretene Palästina.

    Das ist nicht das von Hajo Friedrichs verdammte „gemein machen“ mit einer guten Sache. Das kann auch das Ergebnis einer journalistischen Entscheidung sein, verantwortlich umzugehen mit dem falschen Eindruck, der unweigerlich durch die täglichen Nachrichten aus Gaza entstehen kann.

    Ralf Fücks hat in der F.A.Z. unter der Überschrift „Es darf keine Täter-Opfer-Umkehr geben“ auf die Eigenverantwortung der Palästinenser hingewiesen. Meines Wissens ist er der Einzige, der sich das bislang in dieser Deutlichkeit getraut hat. Die Palästinenser aus der Verantwortung zu nehmen – das ist der blinde Fleck der deutschen Medien. Hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen, liebes Übermedien.

    Frohes Neues Jahr!

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