„Privat wie noch nie“

Der doppelte Schirach

Der bekannte Schriftsteller Ferdinand von Schirach hat ein neues Buch namens „Regen: Eine Liebeserklärung“ geschrieben, und aus diesem Anlass hat der „Stern“ ein langes Interview mit ihm geführt. Es habe ihm und seinem Kollegen Hannes Roß „stellenweise den Atem geraubt“, schreibt „Stern“-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz in seinem Editorial. Unter dem Interview selbst heißt es, es sei nicht das erste Gespräch der beiden mit Schirach gewesen, „aber ganz sicher das intensivste, das noch lange nachwirkt“.

Mit dem Satz „Deutschlands erfolgreichster Autor so privat wie nie“ wirbt der „Stern“ auf dem Cover für den Kauf des Heftes:

Stern-Cover mit Ferdinand von Schirach: „Ich stelle mir immer vor, dass es morgen früh vorbei ist“

Es ist mit dem trüben Grau eine ungewöhnliche Aufmachung für den „Stern“, vielleicht eher eine, die man vom Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ erwarten würde, ach guck:

SZ-Magazin-Cover mit Ferdinand von Schirach: „Die Beschäftigung mit sich selbst führt in den Abgrund“

Das „SZ-Magazin“ hatte vor fast genau einem Jahr ein langes Interview mit Schirach geführt und ihn damals von Julia Sellmann fotografieren lassen. Dem „Stern“ hat die Aufmachung damals offenbar so gut gefallen, dass er sie ganz ähnlich und ebenfalls mit einem der Fotos von Julia Sellmann nachgebaut hat, warum nicht.

Das Zitat von Schirach auf dem „Stern“-Cover lässt Raum für Interpretationen. Spricht er, wenn er sagt, „ich stelle mir immer vor, dass es morgen früh vorbei ist“, über den Tod? Das wäre angesichts des Themas Depressionen naheliegend. Tatsächlich geht sein Zitat, wie man nach dem Kauf der Illustrierten feststellen kann, aber weiter: „dass niemand mehr einen Satz von mir lesen mag und ich unter Brücken schlafen werde“, okay.

Kohlsuppendiäten und Sexorgien

Der „Stern“ mag immer noch Sätze von ihm lesen, und als Überschrift hat er einen besonders schönen aus dem Interview ausgewählt:

„Was aber bleibt, ist diese tiefe Traurigkeit, die wie eine Folie über allem liegt“

„Was aber bleibt, ist diese tiefe Traurigkeit, die wie eine Folie über allem liegt“

Lesern des „SZ-Magazins“ könnte die Formulierung bekannt vorkommen. Darin hatte Schirach gesagt:

„Was aber immer bleibt, ist eine Grundtraurigkeit, die alles durchtränkt. Sie ist wie eine Folie, die über allem liegt.“

Aber Schirach sagt viele schöne Sätze im „Stern“. Zum Beispiel:

„Das Schreiben ist mein Zuhause. Es ist oft anstrengend, ja, aber es gibt nichts, was ich lieber tue.“

Im „SZ-Magazin“ vor einem Jahr hatte er gesagt:

„Oft ist das Schreiben anstrengend (…). Trotzdem, das Schreiben ist mein Zuhause.“

Dem „Stern“ verrät er („privat wie noch nie“):

„Mir fehlt die Begabung zum Glück.“

Im „SZ-Magazin“ hatte er formuliert:

„Es gibt wohl eine Begabung zum Glück – ich habe sie nicht.“

Dem „Stern“ erzählt von Schirach über seinen Vater, der sich das Leben genommen hat, als der Sohn 15 Jahre alt war:

„Ein Künstler ohne Werk in einem falschen Beruf. Solche Menschen scheitern oft.“

Dem „SZ-Magazin“ hatte er erzählt:

„Seine Freunde sagten, er sei seinem Wesen nach Künstler gewesen, aber ein Künstler ohne Werk. So etwas endet oft tragisch.“

Im „Stern“ holt er auf die Frage, ob er glücklich sei, zu einem Exkurs aus:

„In der Antike gab es vier Tugenden, von denen man glaubte, sie könnten dazu führen: Vernunft, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. So steht es zuletzt bei Cicero. Die Mäßigung ist entscheidend. Es ist ganz einfach: Alle Extreme sind falsch. Paragliding in den Dolomiten ist falsch, Kohlsuppendiäten sind falsch, Sexorgien sind ebenso falsch wie das Leben als Eremit in der Wüste. Nur in der Mitte ist es auf Dauer angenehm. Aber das gilt natürlich nicht fürs Denken. Und nicht für die Kunst. Da muss alles möglich sein.“

Im „SZ-Magazin“ hatte er auf die Frage, ob es für ihn bei seinen Lieblingsphilosophen eine Art Kernbotschaft gebe, der er eine größere Verbreitung wünsche, geantwortet:

„In der Antike gab es vier Tugenden, von denen man glaubte, sie könnten ein Leben glücken lassen: Vernunft, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. So steht es bei Cicero. Die Mäßigung ist entscheidend. Es ist ganz einfach: Alle Extreme sind falsch. Paragliding in den Dolomiten ist falsch, Kohlsuppendiäten sind falsch, Sexorgien oder das Leben als Eremit in der Sahara. Das Leben kann nur in der Mitte glücken. Das gilt natürlich nicht fürs Denken. Und nicht für die Kunst. Da muss alles möglich sein.“

Natürlich wiederholt von Schirach im „Stern“ nicht alle Formulierungen aus dem „SZ-Magazin“. Manche wiederholen auch seine Interviewer.

„Ohne eine Erschütterung Ihrer Existenz schreiben Sie entweder gar nicht oder nur über die Blümchen auf der Wiese“, hatte von Schirach dem „SZ-Magazin“ gesagt, weshalb die „Stern“-Interviewer referieren: „Sie haben mal gesagt, es braucht eine existenzielle Erschütterung, damit man über mehr schreibt als über Blumenwiesen.“

„In meinen Verträgen steht, dass ich vor der Lesung mit niemandem reden muss und hinterher an keiner Feier teilnehmen werde“, hatte von Schirach dem „SZ-Magazin“ gesagt, weshalb die „Stern“-Interviewer referieren: „In Ihren Verträgen steht, dass Sie vor Ihren Auftritten mit niemandem reden und hinterher an keiner Feier und keinem Abendessen teilnehmen müssen.“

„Alle Extreme sind falsch. Sexorgien ebenso wie das Leben als Eremit“,„Mein Vater war ein Künstler ohne Werk in einem falschen Beruf“, „Das Schreiben ist mein Zuhause. Es gibt nichts, was ich lieber tue“"
Ausrisse: „Stern“

Beide Interviews sind lang und ausführlich, und natürlich gibt es zahlreiche Passagen im „Stern“, die neu sind (zum Beispiel über die AfD, Robert Habeck und Till Lindemann). Aber verblüffenderweise ist jedes der Zitate, die der „Stern“ in seinem Schirach-so-privat-wie-noch-nie-Artikel besonders hervorhebt, eines, das sich mehr oder weniger wörtlich schon im „SZ-Magazin“ fand.

Wer das Gespräch von damals nachlesen will, muss dafür übrigens nicht in irgendein Zeitungsarchiv. Er kann auch einfach Schirachs neues Buch kaufen. Dessen „Regen“-Text füllt, trotz großer Buchstaben und viel Weißraum, nur rund gut die Hälfte der 112 Seiten. Auf den restlichen 50 Seiten ist noch einmal das Interview aus dem „SZ-Magazin“ abgedruckt.

Mit Dank an @kontrafaktur!

2 Kommentare

  1. Lang ist’s her, daß der STERN irgendetwas Investigatives zu bieten hatte. Bevor die letzte Investigativreportage „Hitler-Tagebücher“ grandios unterging.

  2. Das ist doch ulkig. Offenbar kannten die Kollegen vom STERN ja das Interview des SZ-Magazins. Sonst hätten sie in ihren Fragen ja nicht Bezug darauf genommen. Wieso haben sie dann die gleichen Fragen gestellt bzw. fast wortgleiche Antworten akzeptiert?

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