Womöglich woke

„Welt“ erfindet Aufregung um „Rolling Stone“-Bestenliste

Wenn man dereinst auf die großen, furchtbar eskalierten Debatten des Sommers 2023 zurückblickt, wird eine vermutlich alles überschatten: die schlimme Kontroverse um die neue Liste der 500 besten Musikalben, gekürt vom „Rolling Stone“.

Hm?

„Rolling Stone“-Cover: DIE 500 BESTEN ALBEN ALLER ZEITEN

Ja, der „Rolling Stone“, das Musikmagazin, oder genauer: seine deutsche Ausgabe. Deren Leute haben eine Umfrage unter 135 Menschen aus der Branche gemacht. Und die Ergebnisse sind schockierend anders als 2004, als sie das schon mal gemacht haben. Ende Juli wurde die Liste veröffentlicht, und seitdem tobt anscheinend eine „erhitzte öffentliche Debatte“.

Zugegeben: An mir war die vorbeigegangen, ebenso wie die Liste an sich, bis ich aus der „Welt“ davon erfuhr. „Auch wenn vor 19 Jahren schon getwittert worden wäre, hätte sich niemand so über eine solche Liste aufgeregt wie heute über die 500 besten Alben aller Zeiten“, schreibt deren Kulturredakteur Michael Pilz, der selbst auch in der Jury saß.

„Vor 19 Jahren waren die 500 besten Alben aller Zeiten was für ältere Plattensammler, die den ‚Rolling Stone‘ lasen und dessen Rangliste zufrieden mit dem eigenen Geschmack und ihrem Tonträgerregal verglichen“, schreibt Pilz. „Die Top-Ten gehörte noch Bob Dylan, den Beatles und den Rolling Stones, den Sex Pistols, Nirvana und Bruce Springsteen. Bis auf Nico bei The Velvet Underground (und Maureen Tucker, die am Schlagzeug saß) blieben die weißen Männer damals unter sich.“

Aufregung um die 500 besten Alben
„Aufregung“ Ausriss: „Welt“

Ausgerechnet die Rolling Stones sind aus dem, was Pilz „die kanonischen Top-Ten“ nennt, gestürzt: „Sticky Fingers“ findet sich nur noch auf Platz 51 der deutschen „Rolling Stone“-Liste. Auf den ersten zehn Plätzen finden sich plötzlich Leute wie Marvin Gaye, Fleetwood Mac, Patti Smith und „Amy Winheouse“, wie die „Welt“ sie nennt.

Das kann man gut finden oder schlecht, interessant oder egal. Die meisten Menschen fanden es offenbar: gar nicht. Es ist schwer, im Netz überhaupt Hinweise zu finden, dass irgendwer die Liste zur Kenntnis genommen, geschweige denn sich darüber empört hat.

Aber die „Welt“ behauptet das, und bietet ihrer Leserschaft gleich mal ein paar Aufregermöglichkeiten zum Mitschunkeln an:

„Ist die neue Top-500 eine Ausgeburt der Wokeness, weil sie deutlich weiblicher und jünger ausfällt als 2004? Wird die ‚Black Music episch aufgewertet‘, wie es heißt in einem Tweet? Und ist der ‚Rolling Stone‘, das Magazin der rockmusiksozialisierten Boomer, noch der ‚Rolling Stone‘, wenn er von ‚Künstler:innen‘ schreibt und Sätze wie: ‚Debatten um Selbstermächtigung, Diversität und kulturelle Aneignung fließen in die Bewertung und Kontextualisierung von Popmusik ein, wie auch veränderte Hörgewohnheiten und künstlerische Entwicklungen.‘“

Endgegner Zeitgeist

Autor und Juror Michael Pilz kommt angesichts der allgemeinen Zeitläuftigkeit in etwas, das man wohlwollend als Grübeln bezeichnen könnte: „Schon möglich oder sogar sehr wahrscheinlich“, schreibt er, „dass man auch als Juror einer Albenbestenliste im August 2023 andere Alben auswählt als 2004 – und zwar nicht nur, weil ‚Back to Black‘ von Amy Winehouse damals noch gar nicht erschienen war.“ Ja, dieser verdammte Fluch, dass in solchen Listen, die die besten Irgendwas „ALLER ZEITEN“ zu küren behaupten, trotzdem regelmäßig sämtliche Kandidaten aus der Zukunft fehlen.

Aber, nein, sagt Pilz, es ist nicht nur das. Es liegt auch, Achtung: „am Geist der Zeit“. Denn: „Gegen den Zeitgeist war Musik schon immer machtlos.“

Logisch und sprachlich gewagt schließt er seinen Artikel mit den Worten:

„Man muss sich dabei aber auch nicht von jener angeblich allmächtigen ‚Woke- und Dopeness‘, die dem ‚Rolling Stone‘ in seinem Mutterland Amerika schon länger vorgeworfen wird, bedroht und in seinem Musikgeschmack erniedrigt fühlen. Die Musik ist heute schon deswegen eine andere als vor 19 Jahren. Einfach, weil es mehr Musik gibt, überall und jederzeit, wo und wann immer man sie hören möchte.“

Auf die Frage von Übermedien, ob er mal helfen könnte, die von ihm behauptete Aufregung zu finden, mit ein paar Links oder Tweets, kommt leider keine Antwort. Auch zu dem Tweet, den Pilz zitiert, dass „Black Music episch aufgewertet“ werde, schickt er keinen Link.

Die 500 besten Alben - und die tiefsten Abstürze. Vor 19 Jahren ermittelte der „Rolling Stone“ die 500 besten Alben aller Zeiten. Nun hat das Musikmagazin die Abstimmung aktualisiert. Mit überraschenden Ergebnissen – und einer erhitzten öffentlichen Debatte.
„Erhitzte öffentliche Debatte“ Screenshot: Welt.de

(Episch aufgewertet wird durch die Liste allerdings zweifellos das Wort „episch“, das sich in der Besten-Listen-Beschreibung gleich achtmal findet: Patti Smiths Kompositionen sind episch, Bob Dylans Erzählungen sind episch, David Bowies „Life on Mars?“ ist episch herausragend, Led Zeppelins „Stairway To Heaven“ ist episch, Billy Corgan spielt Episches, Joanna Newsom lässt sich in fünf epischen Stücken von einem Orchester begleiten, Peter Gabriels Erzählungen sind episch, und „Paprika Plains“ von Joni Mitchell ist episch. Wenn der „Rolling Stone“ eine Liste der epischsten Musikbeschreibungsadjektive aller Zeiten erstellen würde, er käme mit einem Platz aus.)

Nun muss man vielleicht noch wissen, dass der deutsche „Rolling Stone“ ein Schwesterblatt der „Welt“ ist – oder seit kurzem: ein Halbschwesterblatt. Von 2002 an wurde die Zeitschrift vom Axel Springer Verlag herausgegeben. Zwischenzeitlich war der heutige „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt ihr Herausgeber. Zum 1. Juli 2023 hat die Geschäftsführerin Petra Kalb 80 Prozent der Anteile erworben.

Elende Genderei

Unter dem Artikel verlinkt die „Welt“ auch auf eine Seite, bei der man ein gedrucktes Exemplar des „Rolling Stone“ kaufen kann. Vielleicht ist der Artikel ein Freundschaftsdienst für den „Partner von WeLT“, wie es im Seitenkopf von rollingstone.de heißt. Aber vor allem funktioniert er, um die eigenen Leser mit den üblichen Triggerpunkten zu aktivieren: durch das Anzetteln eines weiteren winzigen Gefechts im großen Kulturkampf.

Im beliebtesten Kommentar unter dem Text bedankt sich ein Leser für den Hinweis, dass beim deutschen „Rolling Stone“ „mittlerweile dem Gendersprech und der Identitätspolitik gehuldigt wird“, so dass man die Lektüre auch in Zukunft vermeiden könne. Ein anderer betont: „(…) schon allein wegen der Genderei würd ich das Blatt niemals nie wieder kaufen und der Wokeismus hat da meiner Meinung nach auch überhaupt nichts zu suchen“.

Ein Kommentator schreibt: „RS war mal Klasse, heute rotgrün durchsetzt. Unlesbar.“ Worauf jemand viel- und nichtssagend antwortet: „Das Beste wird dort totgeschwiegen.“

„Die ganze Liste trieft vor politischer Korrektheit“, klagt einer. „Zeitgeist ist für mich eine entsetzliche Sache. Ihm verdanken wir die vielen unsäglichen Auswüchse des letzten Jahrzehnts“, stellt ein anderer fest.

Und so gibt sie dann jetzt doch noch, die „erhitzte öffentliche Debatte“, die die „Welt“ sich ausgedacht hatte für ihren Artikel, nur halt als warmes Flatulenz-Lüftchen in der eigenen Leserkommentarspalte.

6 Kommentare

  1. Wir fassen zusammen: Der Rolling Stone hat eine Bestenliste ohne Rolling Stones erstellt. Ein Welt-Autor hat dieser Liste eine Kontroverse angedichtet, damit sie überhaupt irgendwer wahrnimmt. Darunter haben übliche Verdächtige erwartbare Kommentare hinterlassen. Und Übermedien findet dieses Geraschel um Nichts, ähm, episch genug, um ihm einen Text zu widmen.

    Motto: Kein Kulturlamento ist zu winzig, um es zu beklagen. Nun ja, nicht nur bei der Welt herrscht Sommerloch…

    „Wenn der ‚Rolling Stone‘ eine Liste der epischsten Musikbeschreibungsadjektive aller Zeiten erstellen würde, er käme mit einem Platz aus.“

    Drei Plätze. „Legendär“ und „bahnbrechend“ müssen auch noch rein.

  2. Ich mag es wenn Ihr es schafft, mich zum empörten Schmunzeln zu bringen. Gleichzeitig frage ich mich manchmal, was bei einigen Zeitungsleuten bei ihrer Geburt eigentlich schief gelaufen ist und wieso sie ausgerechnet bei „Welt“ und so landen.

  3. „Vielleicht ist der Artikel ein Freundschaftsdienst“

    War auch sofort mein Gedanke. Im Sinne von: „Berichtet mal bitte in eurem hauseigenen Stil drüber, aber bitte nicht zu doll. Soll schließlich PR sein.“ Und in der Kommentarspalte tummeln sich dann die Geister, die sie riefen.

    Unfassbar, dass es wirklich so einfach ist, die eigene Leserschaft übers Stöckchen springen zu lassen. Übermorgen kann es dann Bild hochjazzen zu „Ganz Deutschland debattiert über diese Liste“, und in anderthalb Wochen springt dann SternTV hinten rauf mit „Wie woke darf ein Musikmagazin sein?“, mit Thorsten Legat, Serdar Somoncu und Claude-Oliver Rudolph als Debattierenden.

  4. Die Springerpresse erfüllt eben eine sehr wichtige Funktion. Nirgendwo kann sich ein gesunder Menschenverstand schneller in eine akute Depression hineinsteigern als in deren Kommentarspalten.

  5. „Zeitgeist ist für mich eine entsetzliche Sache. Ihm verdanken wir die vielen unsäglichen Auswüchse des letzten Jahrzehnts“
    Wenn ich den zwischen die Finger kriege… dann gnade ihm Gott!

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