Wochenschau (151)

Der verstörende Reiz, menschliche Roboter mit ein paar Cent zu animieren

Kennen Sie diese lebenden Statuen in Fußgängerzonen? Eine Person, komplett in Gold oder Silber, steht den ganzen Tag bewegungslos in der Sonne, bis jemand ein paar Cent oder Euro in einen Hut oder in ein sonstiges Behältnis vor ihr wirft. Wenn das passiert, setzt sich die Statue roboterhaft in Bewegung und bedankt sich mit einer kleinen einstudierten Geste, hebt mechanisch einen Zylinder, macht einen Luftkuss, einen eingerostet wirkenden Knicks oder winkt im Stakkato.

Vergangenen Montag beobachtete ich eine Familie mit Kindern, die ganz und gar fasziniert waren von einer solchen Darbietung eines vermeintlich animatronischen Wesens, das mit Münzen zum Leben erweckt werden kann. Die Kinder waren so begeistert, dass sie immer weitere Münzen vor den Sockel des Künstlers warfen, der folglich noch einmal den Zylinder hob, noch einmal winkte, erneut einen Knicks vollzog, „noch mal! noch mal! noch mal!“ – wie die Figur einer riesigen Spieluhr, die sich endlos aufziehen lässt. Irgendwann, das ist offenbar eine sehr seltene und daher kostbare Reaktion, schenkte die Statue mit ruckartigen kleinen Bewegungen den Kindern ihre Blume am Revers. Mit dieser Trophäe stürmten sie zufrieden davon.

„Mhhh, ice cream, so good!“

Diese lebenden Statuen, die gegen einen Obolus eine kleine einstudierte Bewegung schenken, gibt es mittlerweile auch im Internet. Und weil das Internet das Internet ist, sehen sie nicht wie Bronzestatuen der Jahrhundertwende aus, sondern wie Figuren aus Videospielen, aus Animes und Comics, haben Elfen- und Katzenohren und machen Internet-Dinge, wie zum Beispiel einzelne Popcorn mit einem Glätteisen zum Poppen bringen.

Eine dieser digitalen, lebenden Statuen, die damit ihren Lebensunterhalt bestreitet, ging vergangenes Wochenende viral. Die 27-Jährige Kanadierin Fedha Sinon aka Pinkydoll betreibt einen Onlyfans-Account, geht regelmäßig auf TikTok live und ist eine sogenannte NPC-Streamerin. NPC steht für Non-player character. In Videospielen reagieren solche Nicht-Spieler-Figuren mit gescripteten, repetitiven Handlungsloops auf die Spieler, festgelegt durch ihre meist schlichte Programmierung.

Pinkydoll taucht gegenwärtig in zahllosen Videos in den sozialen Medien auf, oft mit großen Fragezeichen versehen. Denn in ihren TikTok-Live-Videos ist zu sehen, wie sie ununterbrochen und für Stunden auf kleinere und größere Spenden ihrer Fans reagiert, die sie in Form von digitalen Geschenken vermitteln: durch Emojis, die einen monetären Wert besitzen.

Die Gesten von Pinkydoll sind in ihren Wiederholungen perfekt choreografiert, wobei sie je nach Spende anders, aber stets präzise durch eine andere repetitive Bewegung antwortet.

Sie imitiert oder zitiert Gesten und Ästhetiken von Figuren aus Videospielen, insbesondere Dating-Simulationen, in denen man Figuren in Anime-Ästhetik kleine Präsente machen kann, worauf die mit stets gleichen Animationen der Dankbarkeit reagieren.

Solche Sequenzen ahmen die NPC-Streamerinnen nach. Schenkt man Pinkydoll ein digitales Eis, sagt sie „Mhhh, ice cream, so good!“, streckt die Zunge raus und leckt pantomimisch die Luft. Bekommt sie einen Cowboyhut, ruft sie „Yee-haw!“. Ihre Reaktionen sind so fehlerlos in der beständigen Reproduktion, den immer und immer wiederkehrenden Bewegungsabfolgen, dass sie tatsächlich wie eine zum Leben erwachte Videospielfigur wirkt.

Die Rückkehr der Jamba-Frösche

Das demonstriert nicht nur eine beeindruckende Merk-, Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit, es erscheint auch in seinem schauspielerischen Wert, im kinetischen wie pantomimischen Können der Bewegungen befremdlich gelungen: wie eine erstaunliche Wiederkehr der animierten Fernsehfrösche und TV-Hasen der Jamba-Jahre, die man via Telefonanruf eigene Texte aufsagen lassen oder ebenfalls nach der angebotenen Pfeife tanzen lassen konnte.

Die unmittelbare Gratifikation funktioniert bei Pinkydoll hervorragend. Nur ein kleiner Wisch auf dem Handy und schon wird eine Transaktion getätigt, tanzt und lächelt und wiehert eine Frau in Montreal für jeden Zuschauer ganz allein, nur wegen mir – und dir und allen anderen. Pinkydoll puts the Piep in Peepshow.

Ein derartiges Belohnungssystem ist als Grundlage der (para)sozialen Beziehung für die Streamer:innen Gold wert. Wie bei einem Hochfrequenzhandel schmeißt der Strom der Zuschauer:innen begeistert Präsente in den Stream, weshalb Pinkydoll in Millisekunden auf Hunderte von digitalen Eistüten oder Blumen reagieren muss. Trotz der Präzision der einzelnen Gesten wirkt sie dabei wie eine Figur in einem Vergnügungspark, die einen Defekt hat und immer wieder dieselbe Reaktion abruft. „Mhhh, ice cream, so good!“, „Mhhh, ice cream, so good!“, „Yes, yes, yes.“, „Mhhh, ice cream, so good!“, „Gang, gang.“ Im Grunde ist es dasselbe System wie mit den Kinder vor der lebenden Statue in der Fußgängerzone – nur auf Speed, in sportlicher Hochleistungsgeschwindigkeit. Tausende digitale Passant:innen werfen Geld in den virtuellen Hut, und es geht dabei erstaunlicherweise dennoch gerecht zu: Jeder bekommt genau die Inszenierungseinheit, für die er bezahlt.

Hut und Schnurrbart für 99 Cent

Die Preise für solche digitalen Geschenke fangen bei einer TikTok-Münze an, und je mehr sie kosten, desto aufwendiger ist auch die einstudierte Animation. Durch die Flut an Spenden, die eine Streamerin wie Pinkydoll bei einer erfolgreichen Live-Session generiert, kann die Sache durchaus – und ähnlich wie bei Twitch-Streamer:innen – sehr lukrativ werden. Die Form der sogenannten „Rapid Fire Reactions“-Livestreams sorgt dafür, dass zur Seherfahrung und zur Optik auch die Tausenden von Kommentaren und Animationen in der Chat-Leiste gehören.

Seit 2021 gibt es bei TikTok die Möglichkeit, den Performenden ein Trinkgeld zu geben. Hierfür wird innerhalb der App Geld in digitale Münzen umgewandelt, in eine In-App-Währung. 1000 solcher TikTok-Münzen kosten in Deutschland 11,60 Euro, beginnend mit 0,85 Euro für 70 Coins.

Eine TikTok-Münze kostet also etwa einen Cent und ermöglicht den Kauf eines Eis-Emojis oder eines „Gang-Gang“. Einige der anderen Optionen – wie zum Beispiel ein „Hut und Schnurrbart“ – sind teurer (99 Münzen).

Durch diesen Tausch zwischen digitalen Münzen und echten Dollars wird der tatsächliche Wert der kleinen Gaben erfolgreich verschleiert; Smartphonespieledesigner bauen ihr ganzes Geschäftsmodel darauf auf.

Eine unmittelbare positive Reaktion auf eine Bezahlung zu bekommen, ist der Hebel, aus dem Dopaminträume gemacht sind. Nur wenige andere Sachen machen uns so abhängig und trainieren unser Verhalten so effektiv wie sofortige Gratifikationen. Zwar muss Pinkydoll 100 Mal „Gang Gang“ sagen, nur um einen einzigen Dollar zu verdienen. Dennoch lohnt es sich: Mehrere Stunden verbringt sie täglich im Stream. Laut „Vice“, das mit Pinkydoll sprach, verdiente sie anfangs 250 Dollar pro Tag, mittlerweile seien es 7.000 Dollar pro Tag oder sogar mehr.

Neben dieser Mikrospendenökonomie zählen auch „cam models“, die via Kamera pornografische oder erotische Inhalte anbieten, zu den Vorreiter:innen dieser formalen Anordnung und eines Geschäfts, das heute auf OnlyFans eine plattformbasierte Professionalisierung und auch Mainstreamisierung erfahren hat.

Staunen mit Katzenohren

Die erfolgreichsten NPC-Streamer:innen fallen optisch durch ihre performte und inszenierte Niedlichkeit auf. Als besonders repräsentative Figur wird die japanische TikTokerin @natuecoco genannt (die Meme-Erklärseite für Boomer und Millenials KnowYourMeme.com hält sie sogar für die erste Person, die den Trend des NPC-Streamings etbaliert hat). Mit großer Bedachtheit, riesigen Katzenohren und notorischem Staunen könnte sie aus einem Anime entsprungen sein könnte.

@mai_koooo @夏絵ココ👒💓無言配信 #natuecoco #ohioqueen #madeinuwu #queenofohio #madeinohioTikTok #夏絵ココ #ニャンニャオ #madeinohio #ohioking #ohioboss ♬ オリジナル楽曲 – MAIKO❤️

Die Ästhetik des „Kawaii“, japanisch für süß, die sich durch Kindchenschema und eine anrührende Zerbrechlichkeit auszeichnet, überschneidet sich bei ihr mit Elementen des Cosplay. Die ebenfalls in ihrem Genre sehr erfolgreiche Streamerin Cherry Crush präsentiert sich als stupsnäsige Elfe.

Anime-, Gaming-, Fan- und Popkultur treffen hier auf eine Highspeed-Tipping-Ökonomie, in Form bezahlter Videochats sowie den Wirkmechanismen des „addictive game design“.

Dass nun gerade die Kanadierin Pinkydoll so viral gegangen ist, liegt vielleicht an der überzeugend imitierten „Uncannyvalleyness“ ihrer Performance, die bei längerem Zuschauen geradezu hypnotisch wirkt. Diese wird noch deutlicher, wenn sie während des Streams ihre Rolle als sanft säuselnde NPC-Figur verlässt, um ihr Kind, das außerhalb des Bildes steht, höchst mütterlich aus dem Zimmer zu schicken (sie macht den universell bekannten „Ich-zähle-jetzt-von-fünf-runter“-Countdown).

Stimme, Mimik und Körperhaltung schwenken von unwirklicher Phantasie zur menschlichen Erziehungsberechtigten, die mit ihrem Kind schimpft. Bezahlen kann man für diese Aktion jedoch leider noch nicht.

Warten auf das nächste Popcorn

Und dann wäre da noch die Sache mit dem Popcorn und dem Glätteisen. Ich habe dazu eine Erklärung gelesen, ich weiß nicht, ob sie stimmt, aber sie gefällt mir zu gut, um sie nicht zu erwähnen: Das Popcorn verlängert mutmaßlich die Aufenthaltsdauer des durchschnittlichen Users, der zumindest lange genug dranbleiben möchte, um zu sehen, wie das Popcorn aufploppt, und der erst danach mit einer gewissen inneren Abgeschlossenheit den Stream verlassen kann. Man wartet und wartet und wartet und zack, plötzlich ist aus dem Maiskorn zwischen den beiden Hälften des Glätteisens ein verzehrfertiges Popcorn geworden. Faszinierend.

Dann legt Pinkydoll augenblicklich das nächste Popcorn in das Eisen und schon ist man wieder in einer meditativen „Maiskorn zu Popcorn“-Episode gefangen, deren Unterbrechung ein klein wenig mehr Willenskraft bedarf. Routiniert wendet sie beiläufig die Tricks kapitalistisch orientierter Social-Media-Plattformen an, die wirklich alles tun, um unsere Interaktionen und Verweilzeiten zu erhöhen.

Nicht die einzigen menschlichen Roboter

Wenn man Pinkydoll und die anderen NPC-Streamerinnen zum ersten Mal sieht, erzeugt das zumeist Unverständnis. Ihre sanft lächelnde Artifizialität hat etwas höchst Irritierendes. Auch die Anordnung, einen Menschen dafür zu bezahlen, komplett sinnfreie Handlungen vorzuführen, wie eine digitale Marionette, mit dem einzigen Ergebnis, beim Zuschauenden Mikrodosen Dopamin zu triggern, fühlt sich gruselig an. Und man kann nur erahnen, dass vor allem Personen ein besonders spendables Klientel sind, die das Bedürfnis haben, diese realen Menschen, zumeist Frauen, wie ihre persönlichen Videospielfiguren zu kontrollieren.

Allerdings sollte man sich vergegenwärtigen, dass alles, was man hier als repetitiv und entmenschlichend registriert, auch für die meisten entfremdeten Erwerbsarbeitenden und für viele Angestelltendynamiken gilt. Jemand zahlt und man springt. Die Arbeit eines NPC-Streamers, der als Non-player character die Handlung einer Figur imitiert, die buchstäblich nicht autonom handeln kann, ist die sichtbargewordene Überspitzung aller fordistischen Arbeitsverhältnisse, bei denen man gegen Gehalt und Trinkgeld hundertmal pro Tag die selbe roboterhafte Handlung vollziehen muss, tausendmal gegen Geld motorisch nicht sehr anspruchsvolle Arbeitsbewegungen wiederholt.

Es ist nicht die Monotonie, die uns hier befremdet, es ist die Quirligkeit des Monotonen. Insofern ist Pinkydoll die perfekte Personifizierung von Tiktok.

6 Kommentare

  1. Krasser Scheiß. Danke für die Einblicke in diese mir bis dato unbekannte Welt. Was kostet denn bei TikTok „Herr lässt Hirn vom Himmel regnen“?

  2. Ich nutze Social Media. Ich game. Ich bezahle für Dienstleistungen im Netz (Übonnent). Ich schaue mir das hier gerade an. Selten hab ich mich so alt gefühlt.

  3. Ein interessanter Artikel, vielen Dank dafür.
    Mir war auch nicht bewusst, wie weit diese Interaktionen zwischen Streamer und User bereits gehen. Erschreckend und faszinierend zugleich.

    Nur eine kleine Ergänzung: Im Text steht in Bezug auf die Digitalwährungen: „Smartphonespieledesigner bauen ihr ganzes Geschäftsmodel darauf auf.“ Das ist korrekt, nur unvollständig. Denn mittlerweile bauen so gut wie alle Spieledesigner für sämtliche Plattformen auf diese Extrawährung, oft in Verbindung mit Lootboxen (man kauft ein Paket und weiß nicht, was drinsteckt). Für letzteres ist Overwatch berüchtigt, fast alle anderen erfolgreichen Titel arbeiten aber ähnlich. Darunter Fortnite, Call of Duty, Battlefield, Diablo usw. usf.

  4. Leider ist
    „Seit 2021 gibt es bei TikTok die Möglichkeit, den Performenden ein Trinkgeld zu geben. Hierfür wird innerhalb der App Geld in digitale Münzen umgewandelt, in eine In-App-Währung. “
    mindestens verwirrend, eigentlich sogar falsch.

    Auf Tiktok wird nämlich die Funktion „Trinkgeld“ einzeln geführt – die werden direkt auf dem Profil des Streamers (auch abseits eines laufenden Streams) geschenkt. Diese sind auch deutlich profitabler als die Geschenke im Livestream, da man diesen Betrag (soweit ich weiß) quasi 1-zu-1 als Creator erhält. Für diese Einnahmequelle muss man überhaupt nicht streamen.

    Die Geschenke (diese Emojis die unterschiedlich viel kosten) wiederum können ausschließlich in Streams übersandt werden, und ca 30% des ausgegebenen Geldbetrages kann sich der Streamer auszahlen lassen (Tiktok nimmt sich den Löwenteil ja selbst).

  5. Also der „verstörende Reiz“ liegt ganz woanders, nämlich auf dem bewusst selbstsexualisierten Content der Frauen. Männlichen Usern wird Male Gaze geboten, um Follower zu genieren. Der Inhalt ist vollkommen egal. Ob menschliche Roboter, Rezepte oder Gaming – darum geht es eigentlich nicht. Es geht um Aufmerksamkeit und Konkurrenz. Das einfachste Mittel, welches frau wählen kann, um beachtet zu werden, ist leider, auf niedere männliche Instinkte zu vertrauen. Die Frage die sich diese Frauen eher stellen sollten ist, ob der schnelle aber zweifelhafte Erfolg (je sexualisierter, desto erfolgreicher) den Schaden in der Gesellschaft rechtfertigt. Diese erwachsenen Frauen von heute (auch wenn nicht wenige Frauen in den sozialen Medien darauf setzen, minderjährig oder zumindest sehr jung zu wirken, sich aber trotzdem selbst zu sexualisieren) sind Vorbilder für die nachkommende Generation. Was möchten diese Frauen der nächsten Generation mitgeben und sagen, wenn sie vermitteln, dass es für Frauen erstrebenswert ist, sich selbst zu sexualisieren, den Körper mit zahlreichen Maßnahmen dem gerade propagierten Ideal anzupassen, usw. Insgesamt eine ungute Entwicklung. Diese könnten Frauen gemeinsam ins Positive steuern, wollen sie aber augenscheinlich nicht. Der einfache Weg, Selbstsexualisierung in allen Bereichen des Lebens, kann einfach keine Dauerlösung sein.

  6. Interessanter Gedanke mit der Sexualisierung. Das ist bei Pinkydoll sogar recht offensichtlich. Allerdings würde ich das Phänomen nicht ausschließlich mit Sexualisierung in Verbindungen bringen. Für @natuecoco ist das offenbar nicht der Markenkern. Sie ist ja meist einfach nur kostümiert und wählt dabei nur selten eher knappe Kleidung oder „passende“ Bildausschnitte.

    Außerdem ist es nicht so einfach, die NPC-Streamerinnen in diese Ecke zu stellen. Denn das, was sie nachmachen, ist ja oft schon in Vorbildern – also den Spielen – sexualisiert.

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