Proteste gegen Tagebau

Lützerath: Aktivisten wirken organisierter als der WDR

Der Westdeutsche Rundfunk hat am Sonntag einen „Liveticker“ gestartet, um dort in den kommenden Tagen über die geplante Räumung des Dorfs Lützerath zu berichten. Allerdings deutete am ersten Tag wenig darauf hin, dass der Ticker ein guter Kanal ist, um sich über die Lage zu informieren.

Kette aus Polizisten vor dem Dord Lützerath. Auf einem Banner an einem Haus steht: "1,5 Grad heißt: Lützerath bleibt!"
Lützerath vor der geplanten Räumung Foto: Imago

Voraussichtlich am Mittwoch soll das nordrhein-westfälische Dorf in der Nähe von Mönchengladbach endgültig von der Polizei geräumt werden, damit der Energiekonzern RWE dort nach Kohle baggern kann. Um dagegen zu protestieren, versammelten sich am Sonntag so zwischen 1.000 und 2.000 Menschen am Tagebau, und zwar den ganzen Tag über. Was vorab angekündigt war. Der WDR aber startete seinen so genannten „Liveticker“ erst gegen 16 Uhr – als es in Lützerath angeblich bereits knallte.

Im Großen und Ganzen, heißt es, soll die Veranstaltung friedlich verlaufen sein. Es gab einen Dorfspaziergang, auch ein kleines Konzert – am Nachmittag aber soll es zu Ausschreitungen gekommen sein, das sagt jedenfalls die Polizei. Um 15:34 Uhr twittert sie, „Aktivisten“ hätten „u.a. Steine, Pflastersteine und Dachpfannen gebunkert“, und appelliert vorsorglich: „Unterlassen Sie jede Vorbereitung, die geeignet wäre, Menschen zu verletzen.“

Die Lage eskaliert dann offenbar schnell. Keine halbe Stunde später meldet sich die Polizei abermals auf Twitter, nun schon deutlich aufgeregter. „Dringende Aufforderung“, steht in dem Tweet: „Unterlassen Sie sofort, Sicherheitskräfte mit Steinen zu bewerfen.“ Denn, klar: Wo erreicht man besser Menschen, die gerade zu einem Steinwurf ausholen, als auf Twitter.

Für Polizeinews: WDR-„Liveticker“ lesen

Was genau passiert ist: schwer zu sagen. Der WDR jedenfalls berichtet im „Liveticker“ nur nach, was die Polizei so verbreitet. Und auch erst spät: Von den Ausschreitungen steht dort erstmals etwas um kurz vor 18 Uhr. Immerhin haben Agentur-Fotografen ein Foto davon gemacht, wie ein Aktivist Farbe auf ein ziviles Polizeiauto sprüht. Das kann man dann, wenn man Sonntagsdienst im WDR-Newsroom schiebt, schnell in den Ticker kopieren.

Dabei hat der Sender, wie er um 17:29 Uhr im „Liveticker“ verkündet, eine Reporterin vor Ort. Die aber berichtet eigentlich nicht wirklich live, in den „Liveticker“ schreiben vor allem (entsprechend gekennzeichnet) Redakteur:innen, die im „WDR-Newsroom“ sitzen. Und von den Ausschreitungen hat die Reporterin offenbar nichts gesehen, vermutlich weil sie da gerade dabei war, ihre „Eindrücke vom Tag“ aufzuschreiben. In ihrem Text, der anderthalb Stunden nach dem Tweet der Polizei erscheint, steht von Gewalt: nichts.

„Es kommen immer mehr Aktivisten aus Nah und Fern zu dem kleinen Weiler, der als [sic] Symbol für den Klimakampf geworden ist“, reportiert die Reporterin. Sie berichtet, wie Aktivisten bei einem „Aktionstraining“ Sitzblockaden üben und mehrere Meter hohe Dreibeine aus Bambusstäben bauen, um sich dort einzuhängen. Die Reporterin resümiert treuherzig: „Die Aktivisten wirken organisiert“. Was man vom WDR nicht unbedingt sagen kann.

Zuschauer feierten die Übungen der Aktivisten „mit großem Interesse und tobendem Applaus“, heißt es weiter im Text, es gebe auch „tatsächlich Helfer aus den Umkreisen, sogar von weiter weg“. Es scheint alles sehr verblüffend gewesen zu sein bei diesem Protestfest. Irgendwann endet der Text abrupt mit der Information, dass an der Abbruchkante des Tagebaus Lebensgefahr herrsche. Die Quelle dafür? Das habe die Polizei „am Mittag“ getwittert.

Mittelaktuelle Stunde

Um 18:45 Uhr beginnt dann die „Aktuelle Stunde“ im WDR-Fernsehen. Immer mehr Aktivisten versammelten sich in Lützerat, erzählt der Moderator. „Für heute haben sich Promis angekündigt: Luisa Neubauer will einen Dorfspaziergang machen und die Band AnnenMayKantereit ein Konzert geben.“ Was klingt, als käme es erst noch, ist ja bereits passiert. Im Beitrag ist das auch alles zu sehen. Überraschung.

Die Stimmung sei „eher familiär“ auf dem Gelände, heißt es im Beitrag. Ein paar Leute dürfen ihre Sorgen in die Kamera sprechen, das „Aktionstraining“ für die korrekte Ausführung von Sitzblockaden wird gezeigt, und eine Vertreterin von „Lützerath lebt!“ räumt offen und organisiert ein: „Ja, genau, das ist eine Anleitung zur Straftat, aber wir denken eben, dass diese Maßnahmen legitim sind, wenn wir auch jetzt schon die Folgen der Klimakrise spüren.“

Ob es zu Straftaten gekommen ist und was genau bei den Ausschreitungen geschah, haben sie auch bei der „Aktuellen Stunden“ nicht genauer recherchiert. Weil die Abbruchkante abzubrechen drohe, habe das Konzert auf den „gerade frisch für die Räumung eingerichteten Polizeiparkplatz“ ausweichen müssen, heißt es im Film. Der Moderator findet das vorbildlich: „Ist ja eigentlich ein schönes Zeichen, dass die Polizei den Parkplatz zur Verfügung stellt“, sagt er in der Abmoderation des Beitrags. „Aber, muss man sagen, so versöhnlich, öhm, wie das da eben aussah, ist es offenbar nicht geblieben.“ Aktivisten sollen „Steine geschmissen haben“. Quelle: Polizei.

Moderatorin der "Aktuellen Stunde" im WDR zeigt auf den neben ihr eingeblendeten Lützerath-"Liveticker" des Senders.
Schauen Sie doch mal in den „Liveticker“ Screenshot: WDR

Das war’s. Und wer mehr wissen will, soll wohin gehen? Genau: „Die neuesten Infos dazu, was in Lützrath passiert, gibt‘s in unserem Liveticker in der App ,WDR aktuell‘.“ Wo man dann hauptsächlich noch mal nachlesen kann, was die Polizei so alles mitteilt. Richtige Reportagen oder tatsächlich journalistische, also möglichst objektive Berichte: Fehlanzeige.

Ohnehin ist es bemerkenswert, dass der große WDR am Sonntag anscheinend nur eine Reporterin auf das weitläufige Tagebau-Gelände in Lützerath geschickt hat. Am Abend, gegen 20 Uhr, taucht sie noch mal im „Liveticker“ auf, mit einem kurzen Video, das in der Redaktion nicht mal sauber zugeschnitten wurde; zu Beginn des Videos ist zu hören, dass jemand sagt, die Aufnahme laufe, und am Ende fragt die Reporterin, ob’s jetzt aus ist.

Reporterin steht im Dunklen am Tagebau in Lützerath
WDR-Reporterin berichtet aus Lützerath Screenshot: WDR

Dazwischen steht sie da, in WDR-Warnweste und mit WDR-Helm auf dem Kopf, und berichtet, die Lage am Abend sei „relativ ruhig“. Aktivisten stünden „hinten an der Kante“ und würden „das ganze Treiben so ein bisschen beobachten“. Was kann das bedeuten? „Wenn jetzt die Polizei nach vorne käme“, denkt sich die Reporterin, „dann würden die wahrscheinlich auch nach vorne stürmen.“

Tagsüber habe es „einen relativ ruhigen Tagesablauf gegeben“. Nach dem Konzert der Band AnnenMayKantereit aber hätten „etwa 300 Aktivisten den Platz gestürmt“, und sie hätten dann – laut Polizei – Bauzäune eingetreten und seien „auf ein Kommunikationsauto drauf und haben dann da mit Steinen und mit Farbpatronen, ja, das Auto sozusagen und auch ein paar Polizisten angegriffen. Die Aktivisten, mit denen ich gesprochen haben, haben mir gesagt, die Polizei hätte angefangen und wäre sozusagen losgestürmt.“

Sozusagen.

Der erste „Liveticker“-Tag war kein Aushängeschild für einen öffentlich-rechtlichen Sender, der sich für seine lokale und regionale Nähe rühmt. Vielleicht haben sie im WDR noch nicht ganz registriert, wie symbolträchtig Lützerath ist und was sich da anbahnen könnte – ähnlich wie einst im Hambacher Forst. Die „Zeit“ schreibt: „Dies ist ein Ort des Widerstands. Sieben Häuser, vier Hallen, etwa 40 Baumhäuser, Dutzende Zelte, einige Hundert Aktivistinnen.“ Oder wie sie im WDR sagen würden: Wirkt organisiert.

3 Kommentare

  1. Ich mach‘ mal wieder den Miesepeter: Ich finde die unaufgeregte Berichterstattung mit „sozusagen“ und „nach Aussage der Polizei“ eigentlich sehr gut, weil man offen kommuniziert, dass das keine gesicherten Erkenntnisse sind. Die Konjunktive unterstreichen das. Ironisch ist dann die 1:1 Übernahme der Polizei-PR im gleichen Atemzug. Twitter-Stimmungsmache können die Exekutivbehörden ja perfekt und eine ungeprüfte Weiterverbreitung von Polizeitweets ist sicher kein Journalismus.
    Insgesamt wäre vielleicht eine Kombination gut: Liveticker im Konjunktiv und quasi als Wiedergabe der PR der Konfliktpartner zusammen mit einem eigenen Eindruck des Reporters. Anschließend, vllt. 1-2 Tage später dann ein Rechercheergebnis in Form einer Analyse, ob diese Aussagen so stimmten und mit Hintergrundinformationen angereichert. Kost aber auch alle Geld, dann besser keine Liveticker.

  2. Der Programmleiter für NRW im WDR, Jochen Trum, legt in einem Kommentar nach: https://www.tagesschau.de/kommentar/luetzerath-133.html

    Bei ihm ist der Protest ein bloßes religiöses Symbol, dabei sei Lützerath doch eigentlich ein Erfolg im Klimaschutz.

    Wie gesagt, der Programmleiter – also nehme ich an, er ist letztendlich auch für die Berichterstattung inklusive des Tickers verantwortlich.

  3. Heute kamen im WDR-Radio Berichte von Leuten vor Ort.

    Offenbar haben die sich an den Aktiven ein Beispiel genommen.

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