Der Autor
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
Die beiden Journalisten Sebastian Pertsch und Udo Stiehl finden es doof, wie der Begriff „Freiheit“ in aktuellen politischen Debatten verwendet wird. Das klingt erstmal nicht nach einer Information, die von Nachrichtenagenturen, der „Tagesschau“, dem „Spiegel“ und dem ZDF verbreitet und von Chefredakteuren und Bundesministern kommentiert werden müsste, und doch ist genau das passiert.
Pertsch und Stiehl betreiben zusammen ein Projekt namens „Floskelwolke“, in dem sie Phrasen und fragwürdige Formulierungen in Nachrichtentexten sammeln und kritisieren. Seit 2021 wählen sie außerdem die Begriffe, die im abgelaufenen Jahr „besonders für Stirnrunzeln und Kopfschütteln gesorgt haben“, als „Floskeln des Jahres“ aus – und geben sie am Neujahrstag per Pressemitteilung bekannt. Die wird dann von Medien und Agenturen behandelt, als handele es sich um ein denkwürdiges Ereignis oder um das Ergebnis einer Expertenumfrage oder einer Publikumsabstimmung oder einer wissenschaftlichen Auswertung. Dabei ist es nur das, was Pertsch und Stiehl so finden.
Die Nachrichtenagentur dpa verkündete das diesjährige Ergebnis exklusiv sogar vorab mit Sperrfrist: „‚Freiheit‘ und ‚Doppelwumms‘ gehören zu ‚Floskeln des Jahres‘“. Eine Minute nach der Sperrfrist folgte die Konkurrenz von epd: „‚Freiheit‘ ist Floskel des Jahres“. Am Nachmittag meldete tagesschau.de: „‚Freiheit‘ zur Floskel des Jahres gekürt“.
In der dpa-Version ist immerhin von den „zwei Juroren“ die Rede, bei epd und „Tagesschau“ bleibt dagegen unklar, wie die finale Hitliste überhaupt zustande kommt. „Basis für die Vergabe des Negativpreises waren den Angaben zufolge mehr als 70 Vorschläge der Leserinnen und Leser des Webprojekts ‚Floskelwolke‘“, heißt es bei epd. Die „Tagesschau“ hat auch auf den Hinweis verzichtet, dass Udo Stiehl für die ARD arbeitet.
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass die „Floskelwolke“ ein preisgekröntes Projekt ist – nach welchen Kriterien sollte die rein subjektive Wahl von Pertsch und Stiehl eine objektive Relevanz haben? Es spricht ja nichts dagegen, ihre Kür in den sozialen Medien zu teilen (oder auch unsere Wahl der besten Übermedien-Überschrift, an der immerhin über 370-mal so viele Menschen teilnahmen), aber was macht daraus eine Nachrichten-Nachricht?
Es hilft vermutlich, dass die „Floskelwolke“-Macher ihre Top 5 immer an Neujahr bekanntgeben – einer meistens ziemlich nachrichtenarmen Zeit. Das erklärt es, aber es ist kein guter Grund.
Es ist auch nicht so, dass es an Sprachnegativpreisen mangele. Seit 1991 wählt eine sechsköpfige Jury, die überwiegend aus Linguisten besteht, das vermeintliche „Unwort des Jahres“; seit 1997 prangert der Verein Deutsche Sprache angeblich „besonders bemerkenswerte Fehlleistungen im Umgang mit der deutschen Sprache“ mit seinem Preis für den „Sprachpanscher des Jahres“ an.
Die Auswahl all dieser Preisträger ist häufig erkennbar weniger sprachpflegerisch als politisch motiviert, das ist auch bei der Wahl des Wortes „Freiheit“ zur „Floskel des Jahres“ schwer zu bestreiten. In der Begründung schreiben Pertsch und Stiehl:
„Ich, ich, ich! Der Freiheitsbegriff wird entwürdigt von Egoman*innen, die rücksichtslos demokratische Gesellschaftsstrukturen unterwandern. Im Namen der Freiheit verkehren sie selbstgerecht und unsolidarisch die essenziellen Werte eines Sozialstaates ins Gegenteil – alles für den eigenen Vorteil.“
Wer diese „Egoman*innen“ sind, wie sie rücksichtslos unterwandern und Werte ins Gegenteil verkehren, bleibt vage. Von einem „verbale[n] Missbrauch des Freiheitsbegriffs“ spricht Pertsch in der Pressemitteilung. Stiehl nennt den Begriff „Freiheitsenergie“, den FDP-Chef Christian Lindner für Atomenergie setzte, als Negativbeispiel: Das sei eine „absurde Preisung“.
Offenbar dürfen sich generell die FDP und ihre liberalen bis libertären publizistischen Freunde von der Kür angesprochen fühlen – sie tun das auch prompt.
Anna Schneider, die bei der „Welt“ den Titel „Chefreporterin Freiheit“ trägt, twittert:
„Freiheit“ ist also die Floskel des Jahres und ich denke, mehr muss man über die deutsche Gemütslage eigentlich eh nicht wissen. Kann man nicht erfinden. https://t.co/KkMNGoLKlT
— Anna Schneider (@a_nnaschneider) January 1, 2023
Justizminister Marco Buschmann (FDP) twittert:
Wer #Freiheit zur #FloskeldesJahres erklärt, hat nicht verstanden, wofür die Menschen in der #Ukraine oder im #Iran ihr Leben riskieren und was der Grundwert unserer Verfassung ist.
Freiheit ist nicht die Floskel des Jahres, sondern das Gebot der Stunde.
— Marco Buschmann (@MarcoBuschmann) January 1, 2023
Und Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) twittert:
Während in Deutschland einige #Freiheit zur „Floskel des Jahres“ küren wollen, kämpfen und sterben in der #Ukraine 🇺🇦 Menschen für ihre #Freiheit. 😢 https://t.co/UF291Of3me
— Volker Wissing (@Wissing) January 1, 2023
Die Äußerungen der FDP-Minister (und vieler anderer, die sich auf Twitter empören), machen nur dann Sinn, wenn man ignoriert, was die „Floskelwolke“-Leute tatsächlich kritisieren: nicht die Freiheit als Wert, sondern, im Gegenteil, dessen Entwertung. „Freiheit“ sei nicht Gegenstand der Kritik und auch keine hohle Phrase, sagt Pertsch in der Pressemitteilung explizit, nur „egoistische Fehldeutungen“ ließen sie „zur Floskel verkommen“.
Es gibt in der wüsten Auseinandersetzung, die seit gestern auf Twitter tobt, immerhin diverse Versuche, zumindest die Fronten zu klären: Der Gedanke, dass der Kampf gegen ein Tempolimit ein Freiheitskampf im selben Sinne sei wie der Kampf der Ukraine gegen die russischen Angriffe, sei genau das Problem, das die „Floskelwolke“ anprangere.
Quod erat demonstrandum, @MarcoBuschmann: Wer den Kampf gegen ein #Tempolimit, ein #boellerverbot oder #Maskenpflicht mit dem gleichen Freiheitsbegriff unterlegt wie etwa den Kampf der Menschen in der #Ukraine oder im #Iran macht ihn einmal mehr zur #FloskelDesJahres.
— Ulrich Schneider (@UlrichSchneider) January 1, 2023
Wer bei #FloskelDesJahres unterstellt, #Freiheit würde hier auf die #Ukraine oder #Iran bezogen, zeigt halt einfach nur, entweder keine Jury-Begründung lesen zu können oder uns alle bewusst in die Irre führen zu wollen.
— Robert Meyer (@robert_mey) January 2, 2023
Fronten klären – das bedeutet aber auch: die Gräben im Zweifel noch tiefer ziehen. Kaum jemand nutzt die Gelegenheit, Begriffe ernsthaft zu definieren oder die Frage zu diskutieren, was denn edle Freiheit ist und was nur verkleideter Egoismus, und ob es richtige und falsche Freiheit gibt. Dieser Thread ist eine seltene Ausnahme:
Apropos Freiheit: Es bestreitet niemand, dass Böllern ein Ausdruck von Freiheit ist. Wie alles, was Leute tun, etwa Nacktbaden, Radfahren auf der Autobahn, von Mali nach Hamburg ziehen, seine Tante vergiften.
Einige dieser Handlungen sind verboten, andere nicht. (1/4).
— Miriam Vollmer (@miriam_vollmer) January 1, 2023
Stattdessen überwiegt eine Mischung aus Missverstehen, Zurückkeifen und Immer-schon-gewusst-Haben. Gleichzeitig ist es ein Déjà-vu. In der weitgehend ungelesen Pressemitteilung der „Floskelwolke“ schreibt Sebastian Pertsch:
„Nachdem wir vor einem Jahr die ‚Eigenverantwortung‘ zur Floskel des Jahres 2021 kürten, folgte ein tagelanger Shitstorm rechtslibertärer Aktivist*innen, zu denen sich selbst ein Chefredakteur einer überregionalen Tageszeitung und ein Bundesminister, wenn auch ziemlich ahnungslos, gesellten. Obwohl wir in der Begründung ausdrücklich schrieben, dass Eigenverantwortung ‚ein legitimer Begriff von hoher gesellschaftlicher Bedeutung‘ sei und nur die Kaperung zugunsten von Egoismus das eigentliche Problem darstellte, wurde diese Information beim sinnlosen Aufpeitschen weggelassen. Das war schon beeindruckend. Mitte Januar 2022 twitterte ich: ‚Ich glaube, wenn wir kommendes Jahr #Freiheit als #FloskelDesJahres 2022 wählen sollten, würde Twitter implodieren.‘ Ich hatte gehofft, unrecht zu behalten – und zwar mit beidem.“
Ja, hurra. Wir erleben also nur die kalkulierte Neuauflage eines Spektakels aus dem vergangenen Jahr, diesmal mit zwei Bundesministern statt einem und noch größerer Lautstärke.
„Die Wortwahl hat an Schärfe zugelegt – analog zum Diskurs, der zunehmend von schwarz-weiß-Argumentationen geprägt ist“, behauptet die „Floskelwolke“, und leistet ihren Beitrag zu genau dieser Polarisierung. „Wir beobachten, wie sich ein zunehmend aggressiver Umgang miteinander in der Gesellschaft in der Sprache widerspiegelt“, sagt Udo Stiehl. „Verächtliche Formulierungen werden wie Verbalkeulen geschwungen, was wiederum eine durchaus angestrebte Provokation zur Folge hat. Differenzierte Diskussionen werden durch Lautstärke und Schlagwörter überlagert.“
Hm! Und jetzt nochmal zum Vergleich die nur wenige Absätze weiter unten stehende Begründung für die Kür des Wortes Freiheit zur „Floskel des Jahres“:
„Ich, ich, ich! Der Freiheitsbegriff wird entwürdigt von Egoman*innen, die rücksichtslos demokratische Gesellschaftsstrukturen unterwandern. Im Namen der Freiheit verkehren sie selbstgerecht und unsolidarisch die essenziellen Werte eines Sozialstaates ins Gegenteil – alles für den eigenen Vorteil.“
Die Macher der „Floskelwolke“ leisten oft gute, wertvolle Arbeit: vor allem, wenn sie „Floskeln“ im engeren Sinne aufspießen, leere Phrasen, schiefe Sprachbilder, gedankenlos verwendete Formulierungen. Aber um Gedankenlosigkeit geht es hier ja nicht, im Gegenteil: Es geht um das Kalkül, den Begriff der „Freiheit“ bewusst in Zusammenhängen zu benutzen, die die Macher ablehnen.
Mit der Auswahl und der Begründung macht sich die „Floskelwolke“ selbst zum Teil des Problems. Wohlwollend könnte man immerhin sagen, dass sie die negativen Effekte von Sozialen Medien und Medien am eigenen Beispiel sichtbar macht. Und dazu gehört auch der Reflex von Medien und Nachrichtenagenturen, jedes subjektive Ranking, jede Vergabe irgendeines Preises oder Negativpreises, mit einer Nachricht zu verwechseln und so zu tun, als hätten hier irgendwelche offiziellen oder dafür zuständige Gremien ein Wort ausgezeichnet – und nicht einfach nur zwei Journalisten gesagt, was sie politisch doof finden.
Transparenzhinweis: Udo Stiehl wohnt zeitweise zur Untermiete bei mir.
Man könnte jetzt zusätzlich einwenden, dass Mitorganisator 1 Sebastian Pertsch auf Twitter auch für einen gewissen Kommunikationsstil „bekannt“ ist (er hat nun zufälligerweise alle seine Tweets gelöscht) und gleichzeitig einen Sprachblog betreibt, bei dem es auch um achtsame Sprache geht und Mitorganisator2 für die öffentlich-rechtlichen schreibt. Hat man auch nicht jeden Tag und hat die Tagesschau bestimmt nur „vergessen“. Bei Floskelwolke wird man übrigens auch noch schnell geblockt.
Ich finde die Wahl hervorragend und der Aufschrei belegt das auch. Genau die Leute, die den Begriff entwerten, schreien auf, weil sonst – Ja, weil ihnen sonst gar nichts mehr in den nächsten Debatten als Argument übrig bleibt.
Oder was war nochmal das Argument der FDP gegen Tempolimit, Klimaschutz und Gas sparen? Doch immer nur die egoistische Freiheit.
Mit einer heutigen FDP wäre es gar nicht mehr möglich ein BGB zu entwickeln. Es gälte dann nur das Recht des Reichesten.
„Stattdessen überwiegt eine Mischung aus Missverstehen, Zurückkeifen und Immer-schon-gewusst-Haben.“
Also so, wie in quasi jeder (Online-)Diskussion. Nur dass gerade das Missverstehen oftmals absichtlich geschieht und subsequent gegen eine Position argumentiert wird, die der Urheber gar nicht vertritt, wie auch hier. Kommunikation ist, was beim Empfänger ankommt, bzw. was derjenige behauptet, angekommen zu sein, gelle?
Und persönlich: Ein Argument ist kein gutes, wenn man es mit „Ja, aber ich darf das sagen!“ verteidigen muss.
Relevanter XKCD nicht auffindbar.
Zitat: „Die Äußerungen der FDP-Minister (und vieler anderer, die sich auf Twitter empören), machen nur dann Sinn, wenn man ignoriert, was die „Floskelwolke“-Leute tatsächlich kritisieren: nicht die Freiheit als Wert, sondern, im Gegenteil, dessen Entwertung.“
Zitat: „Aber um Gedankenlosigkeit geht es hier ja nicht, im Gegenteil: Es geht um das Kalkül, den Begriff der „Freiheit“ bewusst in Zusammenhängen zu benutzen, die die Macher ablehnen“.
Muss man wirklich noch ausführlich begründen, dass eine Position, die zwischen echter („edler“) Freiheit und „vulgärer“ Freiheit unterscheidet, auf eine heteronom definierte Freiheit hinausläuft und damit in der Sache auf Fremdbestimmung zielt, es sich also im Kern um eine obrigkeitsstaatlich-etatistische Manifestation von Freiheitsfeindlichkeit handelt?
„Muss man wirklich noch ausführlich begründen, dass eine Position, die zwischen echter („edler“) Freiheit und „vulgärer“ Freiheit unterscheidet, auf eine heteronom definierte Freiheit hinausläuft und damit in der Sache auf Fremdbestimmung zielt, es sich also im Kern um eine obrigkeitsstaatlich-etatistische Manifestation von Freiheitsfeindlichkeit handelt?“
Interessant. Was wäre denn eine Position, die das nicht tut?
Libertarismus?
Anarchie?
Die Ideologie, dass alle Freiheit ( in letzter Konsequent auch die zu Vergewaltigen und zu Morden? ) an sich gleich sei?
Oder zumindest die, die das Zünden eines Böllers im Wesen mit der Bewegungsfreiheit gleichsetzt ( Merke, Feuerwerk ist wichtig, die Bewegungsfreiheit von Mitgliedern der „Letzten Generation“ dagegen nicht)?
„Obrigkeitsstaatlich-etatistisch“, nee, ist klar.
Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo sie andere schädigt. Die Freiheit, zu böllern und zu rasen kann daher eher verglichen werden mit der Freiheit, Angriffskriege zu führen. Aber das werden FDPler vermutlich nie verstehen.
@6: Die Aussage ist in der Form zu unspezifisch. Zumindest auf einem abstrakten Level gefährdet das Ausleben der eigenen Freiheit praktisch fast immer die der anderen: Wenn ich mich ins Auto setze und zur Arbeit fahre, dann gefährde ich andere. Wenn ich CO2 produziere, gefährde ich andere. Wenn ich Parfüm trage, dann belästige ich andere. Wenn ich mich mit anderen Menschen treffe, dann gefährde ich diese, bspw. durch Krankheiten. Wenn ich rauche, dann belästige ich andere. Wenn ich keinen Bock auf andere Menschen habe und für mich alleine sein möchte, dann ignoriere ich die Bedürfnisse anderer. Wenn ich meine Meinung öffentlich äußere, kann ich damit viele Menschen erzürnen. (Dies alles gilt natürlich nicht in jedem Fall, aber abstrakt, also statistisch.) Usw. Insbesondere die Pandemie hat gezeigt, dass die Höhe einer solch abstrakten Gefährdung auch zur Rechtfertigung von Freiheitseinschränkungen herangezogen werden kann; es kommt hier also sehr auf das tatsächliche Eintretensrisiko an, sowie unserem Verständnis davon, wie nun die Schwere des Eintretens bewertet wird. Das kann sich auch durchaus ändern, siehe Rauchverbot in der Gastronomie.
Deswegen: Meine Freiheit schränkt eigentlich immer statistisch gesehen die Freiheit anderer ein, also auf lange Sicht wird es immer jemanden geben, der durch meine Freiheit eingeschränkt oder belästigt wurde. Die Frage ist immer, wie oft das geschieht und wie schwerwiegend das wahrgenommen wird.
@6
Möglich, dass „FDPler“ – wer auch immer damit genau adressiert wird – das niemals verstehen werden. Das mag daran liegen, dass die These von den Grenzen der Freiheit in dieser Form die Zusammenhänge in einer Weise verkürzt, dass sie ohne Beweiswert ist. Das liegt an der „Beweislast“ bei Freiheitsbeeinträchtigungen, da nicht die Betätigung der Freiheit, sondern deren Beeinträchtigung stets einer Rechtfertigung bedarf. Auch Emanationen menschlichen Verhaltens, die zulässigerweise im Individual- oder Gemeinschaftsinteresse verboten werden können, werden daher im Ausgangspunkt vom „Freiheitsbegriff“ erfasst.
Demgegenüber lässt sich nicht einwenden, dass es auf die Erforderlichkeit einer Rechtfertigung der Freiheitsbeeinträchtigung jedenfalls dann nicht ankomme, wenn die Rechtfertigung der Einschränkung möglich ist, denn damit würde die rechtsstaatliche – und auch grundgesetzliche – Verteilung der Begründungslast im Ergebnis beseitigt: Über Verbote entscheidet der Gesetzgeber. Dessen Entscheidung bedarf wegen ihrer freiheitsbeschneidenden Wirkung der Begründung, damit sich über das Vorliegen einer hinreichenden Begründung überhaupt politisch streiten lässt. Der Versuch, in wie auch immer definierten Fällen auf eine Rechtfertigung der Freiheitsbetätigung zu verzichten (nur weil diese besonders einfach ist), erfordert daher eine Grenzziehung, für die es keine konsentierte Grundlage gibt, weshalb alle Versuche, „echte“ oder „wahre“ Freiheit zu definieren, gescheitert sind. Auch besteht die Gefahr, dass auf diese Weise ungerechtfertigte Freiheitseinschränkungen als nicht rechtfertigungsbedürftig ermöglicht werden.
Auch eine gerechtfertigte Einschränkung von Freiheit ist daher eine Einschränkung von Freiheit. Dieser „formale“ Freiheitsbegriff ist im geltenden Verfassungsrecht Deutschlands (und auch im übrigen Westeuropa) heute übrigens im Wesentlichen unbestritten. Eine früher vereinzelt vertretene Gegenauffassung (etwa in dem Sondervotum zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1989 betreffend das „Reiten im Walde“ [1 BvR 921/85] dem zufolge das Reiten im Walde keine geschützte Freiheit sei) hat heute keine praktische Bedeutung mehr.
Ob danach eine bestimmte Verhaltensweise auf Basis eines „formalen“ Freiheitsverständnisses dem Freiheitsbegriff zuzuordnen ist und ob die Verhaltensweise beschränkt oder verboten werden kann, sind daher zwei Fragen, die zu trennen sind. Auch beispielsweise eine Geschwindigkeitsbeschränkung schränkt daher Freiheit ein. Ob dafür hinreichende Gründe bestehen, kann man politisch diskutieren. Entgegen der Ansicht der Floskelwolkler geht es dabei aber nicht um den Begriff der Freiheit, sondern die Zulässigkeit ihrer Einschränkung. Die Frage, ob es Gründe gibt, die GEGEN ein Tempolimit sprechen, ist daher stets falsch gestellt.
@Sauertöpfische Grundel / #7: Also könnte man abgewandelt sagen: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo sie andere mehr schädigt als sie dem freiheitsgebrauchenden Einzelnen bringt? Kann man sicher besser formulieren, und wie man das dann „berechnet“, darüber wird man sich sicher endlos streiten können. Aber auf irgendwas in der Art würde es wohl hinauslaufen.
Dennoch bleibt das ein liberal/libertär verkürzter, negativer Freiheitsbegriff. Die Freiheit, nach Amerika reisen zu können, bleibt jedenfalls hohl, wenn man sich kaum die Gebühren zur Passausstellung, geschweige denn den Flug leisten kann.
@Th. Koch / #8
„Auch eine gerechtfertigte Einschränkung von Freiheit ist daher eine Einschränkung von Freiheit.“
Ja, eben. Deshalb ist ja das liberale Freiheitsgeheule bei Forderungen nach banalen, aber recht gut begründeten Freiheitseinschränkungen so dumm. Ohne gewisse Freiheitseinschränkungen kann keine Gesellschaft existieren.
„weshalb alle Versuche, „echte“ oder „wahre“ Freiheit zu definieren, gescheitert sind.“
Schon, aber: Alle Freiheiten als gleichwertig zu behandeln ist auch albern. Wenn alles gleich wichtig ist, ist alles gleich unwichtig. Wer z.B. das Recht auf schnelles Autofahren auf eine Stufe hebt mit dem, wofür die Menschen im Iran kämpfen, lässt am Ende den Verschleierungszwang genauso banal aussehen wie ein Tempo-30-Schild.
„Die Frage, ob es Gründe gibt, die GEGEN ein Tempolimit sprechen, ist daher stets falsch gestellt.“
Nicht unbedingt. Die Gründe FÜR ein Tempolimit wurden ja schon x-fach ausgebreitet (Verkehrssicherheit, Klima, wissenschon.) Wenn die Gründe dafür also klar sind, kann man schon mal nach den Gründen dagegen fragen, oder? Dass es sich um eine Freiheitseinschränkung handelt, ist jedenfalls kein ausreichendes Gegenargument.
Mir ist irgendwie komplett entgangen, an welcher Stelle es hier darum ging, eine juristisch belastbare Definition des Freiheitsbegriffes zu liefern.
Also außer bei dem Versuch, in dem man allen Freiheiten gleichen Rang vor dem Gesetz attestiert, Kritik an asozialen Auswüchsen abzuwürgen. Natürlich darf jede Person, die sich das leisten kann, Privatjets fliegen.
Ich darf diese Person aber auch für ein Arschloch halten und deren Freiheit dies zu tun für einen Popanz, ohne dass mir irgendein Geschwätz deshalb Etatismus oder Obrigkeitshörigkeit nachsagen könnte.
Wobei, kann natürlich schon, ist dann halt Schwachsinn (und Freiheit).
Und natürlich ist das Gesetz-, in letzter Instanz- und mit Fug und Recht (höhö), zuständig wenn es zu Zweideutigkeit und Streit deswegen kommt, was als Freiheit tolerierbar ist und was nicht.
Aber davor, daneben und dahinter ist ein ungleich größeres Feld, welches, durchaus auch getrieben vom Zeitgeist, sich damit befasst, was nun eine essentielle Freiheit ist, und was ein Popanz.
Diejenigen, die Privatjet, Porsche und Prostata zu ihren Schwerpunkten zählen, haben meist gar kein Gefühl für die Unfreiheit alleinerziehender Elternteile oder prekär Beschäftigter, die trotz Vollzeit aufstocken müssen.
Die Freiheit der Kinder, die in der Stadt pro Kopf weniger Spielfläche als ein PKW Parkraum bekommen. Oder die Freiheiten junger Menschen, die ihnen mitsamt der Zukunft vorenthalten werden.
Niemand will ein Tempolimit, weil einem diese Freiheit zu doof ist.
Ein Tempolimit reduziert CO2 und, vor allen, stellt Weichen.
Kurvenradien, Belag und letztlich die gesamte Trassenplanung von Autobahnen hängen von den gefahrenen Geschwindigkeiten ab.
Der technische Fortschritt im Fahrzeugbau geht seit Jahrzehnten dafür drauf immer mehr Masse immer schneller zu machen.
Und wird von uns in die Welt exportiert.
Und diesen Argumenten muss sich der Freiheitsanspruch der Raser eben stellen.
Am besten ohne Strohmänner und Wortnebel.
@Frank Gemein
Guter Beitrag, in dem der hohle Freiheitsbegriff von FDP und Konsorten gut bloßgestellt wird.