Wochenschau (140)

Wir müssen lernen, Dinge nicht wissen zu wollen

„Sie wollen jede Sekunde deines Lebens. Und das liegt nicht daran, dass irgendjemand schlecht ist; es liegt nicht daran, dass irgendjemand in dieser Firma böse Pläne hat oder versucht, das zu tun, sie tun es nicht einmal bewusst. Es liegt daran, dass diese Unternehmen wie Twitter, YouTube, Instagram und so weiter an die Börse gegangen sind und sich an die Aktionäre wenden, also müssen sie wachsen. Ihre gesamten Modelle basieren auf Wachstum – sie können nicht stagnieren. YouTube und Twitter haben letztes Jahr vier bis fünf Milliarden Dollar eingenommen. Sie schreiben rote Zahlen, sie sind unrentabel. Sie müssen mehr von Ihnen bekommen.“

Das hat der Comedian, Musiker und Schauspieler Bo Burnham 2018 bei einem Gespräch über seinen (sehr tollen) Film „Eighth Grade“ gesagt. Das Video des Monologs kam die Tage wieder in die Timelines gezwitschert.

Weiter sagt er:

„Ganz gleich, wie nett es auch sein mag, es geht ihnen nur darum, mehr Engagement von Ihnen zu bekommen. Früher haben wir Land kolonisiert. Das war das, was man ausdehnen konnte, und dort war Geld zu machen. Wir haben die ganze Erde kolonisiert. Es gab keinen anderen Ort, an den die Unternehmen und der Kapitalismus expandieren konnten. Und dann wurde ihnen klar: die Aufmerksamkeit der Menschen.

Sie versuchen jetzt, jede Minute deines Lebens zu kolonisieren, das ist es, was diese Leute versuchen. In jeder freien Minute, die du hast, könntest du ja auf dein Handy schauen, und sie könnten Informationen sammeln, um dich gezielt mit Werbung anzusprechen. Das ist, was passiert.“

Das Bild der Kolonialisierung und die Erinnerung daran, dass Menschen in der Geschichte expansionistisch Ressourcen abgeschöpft haben, geben der Idee der Aufmerksamkeit als einer der wertvollsten Ressourcen unserer Gegenwart einen neuen interessanten Denkrahmen. „Das Gefühl, im frühen 21. Jahrhundert zu leben, bestand in dem Gefühl, dass unsere Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu schenken – sich zu konzentrieren – Risse bekam und zerbrach“, schreibt Johann Hari in seinem Buch „Stolen Focus“:

„Es fühlte sich an, als wäre unsere Zivilisation mit Juckpulver bestäubt worden, und wir verbrachten unsere Zeit damit, mit dem Verstand zu zucken und zu twerken, unfähig, einfach den Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, die wichtig sind.“

Die Selbstbestimmung über das, was wir als wichtig erachten wollen, wurde uns gestohlen; das, was wir als wichtig erachten könnten, wurde unter dem Geröll eines informationellen Überangebots verborgen.

Alles blinkt und blökt

Unsere Aufmerksamkeit wird beim Schröpfen fremdbestimmt, ob in mobilen Spielen, Service-Apps, Nachrichtenseiten, alles blinkt und blökt, um uns am Interessiertheitsverlust zu hindern, die Form und Mechanik so manipulativ wie Erobernde, die den Kolonisierten im Tausch für Rohstoffe wertloses Katzengold anbieten.

Während ganze Technikkomplexe mit der manipulativen Magie von Addictive Design, Gamification und Nudging daran arbeiten, so unbemerkt wie möglich unsere Aufenthaltsdauer auf Seiten zu erhöhen, muss man den jüngsten Versuch von Twitter, die Rezipienten an die eigene Seite festzubinden, in all seiner Plumpheit als frech bezeichnen. Die Plattform wollte das Crossposting unterbinden, also das Verlinken auf andere Websites. So sollte die Bewerbung der Flucht auf andere Plattformen zumindest erschwert werden. (Nutzer:innen haben dann recht unbeeindruckt von diesem Ausbruch plattformener Eifersucht Screenshots ihrer neuen digitalen Aufenthaltsorte gepostet.)

Aufenthaltsdauer und Aufrufzahlen sind die Quoten des Internets, und bei der Quotenjagd wird unser Bewusstsein in alle Richtungen gelockt – ähnlich wie in dem absurdschönen Film „Everything Everywhere All at Once“, in dem die Protagonistin Evelyn Quan Wang sich auf einen Schlag all ihrer gleichzeitig existierenden Versionen ihrer selbst in unendlich vielen Paralelluniversen Gewahr wird. Wir rezipieren die Gegenwart als ein Multiversum gleichzeitiger Medienangebote.

Strategisches Ignorieren

Das führt uns zur vielleicht wichtigsten Fähigkeit, die wir jetzt schon und in Zukunft noch mehr brauchen: die Kompetenz zum kritischen Ignorieren. Also die delikate Fertigkeit, sich willentlich für etwas nicht zu interessieren, was natürlich ungefähr so leicht ist wie die Empfehlung, nicht an den rosa Elefanten zu denken. Aber die Befähigung zum kritischen Ignorieren umfasst vor allem das Geschick, seine mentalen Grabenkämpfe selbstbestimmt auswählen zu können und die Marskolonisierung unserer Aufmerksamkeit zu verhindern.

Mit der Frage, wofür man seine Aufmerksamkeit nicht verwenden sollte und wie wir dieses strategische Ignorieren kultivieren können, befasst sich eine neue Arbeit, die gerade in der Zeitschrift „Current Directions in Psychological Science“ veröffentlicht wurde: „Critical Ignoring as a Core Competence for Digital Citizens“ (Kritisches Ignorieren als Kernkompetenz für digitale Bürger).

Die Autoren machen drei kognitive Strategien aus:

1.

Selbstkontrolle, bei der man die verführerischen Aufmerksamkeitsdiebe ignoriert, indem man sie aus dem eigenen Medienmenu entfernt. Man macht sich für die Manipulation einfach unverfügbar und beherrscht die eigenen Impulse. Anastasia Kozyreva, Mitautorin und Forscherin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, sagt: „Das bedeutet, dass ich mein Umfeld so gestalte, dass ich die gefassten Vorsätze auch tatsächlich umsetzen kann. Das funktioniert in vielen Lebensbereichen: Auch wenn ich zum Beispiel das Lebensmittelangebot in den Supermärkten nicht kontrollieren kann, so kann ich doch wählen, welche Lebensmittel ich zu Hause habe. Und auch dort können wir unser Verhalten steuern, indem wir unsere Wahlumgebung anpassen. Wenn man zum Beispiel weniger Süßigkeiten und mehr Obst essen möchte, kann man die Süßigkeiten ganz nach oben in den Schrank stellen und eine Schale mit Obst auf den Tisch stellen. Erst wenn Sie sich bewusst ein Stück Schokolade gönnen wollen, steigen Sie auf den Stuhl und nehmen es aus dem Schrank.”

Zu dieser Strategie zählen auch selbstauferlegte Zeitbeschränkungen sowie der Vorsatz, Internetablenkung nicht als süß-zerstreuende Belohnung zu missbrauchen. (Looking at me und meine nach jeder produktiven Stunde erfolgenden Tiktok-Ausflüge, „um mal kurz das Gehirn abzuschalten“, „hat man sich verdient“ und so weiter – welch Selbsttäuschung).

2.

Externalisiertes Querlesen, bei dem man Informationen überprüft, indem man verlässt, was man gerade rezipiert, um die Glaubwürdigkeit und den Inhalt der Quelle an anderer Stelle im Internet zu verifizieren. Der Strategie dieses „lateralen Lesens“, also des seitwärts Lesens, kommt hier eine besondere Bedeutung hinzu: Normalerweise rezipieren wir eine Website von oben nach unten, vielleicht noch mit dem gedanklichen Finger, der Zeile für Zeile runterscannt, nicht nur, um den Inhalt zu erfassen, sondern um durch das akribische Lesen überhaupt erst festzustellen, ob es ein lesenswerter Inhalt ist.

Die Forscher:innen empfehlen jedoch eine weitere Registerkarte im Browser zu öffnen, die Aufmerksamkeit also horizontal zu verlagern, seitwärts eben. Im zweiten Tab überprüft man zügig den Inhalt des ersten und kann so schneller feststellen, ob der erste überhaupt mit unserer Aufmerksamkeit belohnt werden darf.

Aber zerfasert dann die Aufmerksamkeit nicht erst recht, wenn man sie in die Breite zieht? Kozyreva verneint: „Das ist in der Regel viel schneller als der Versuch, eine Website kritisch zu lesen und anhand des Inhalts zu erkennen, ob sie seriös ist oder nicht. Das Querlesen funktioniert übrigens auch bei Videos auf YouTube oder TikTok: Wenn es um politische oder wissenschaftliche Inhalte geht, sollten wir prüfen, wer dahinter steckt.“

Denn wenn man beim vertikalen Lesen seine Aufmerksamkeit lesenderweise investiert, um überhaupt erst zu überprüfen, ob der Text lesenswert ist (und unsere Aufmerksamkeit verdient), ist der Diebstahl eben dieser Aufmerksamkeit bereits erfolgt. Selbst wenn wir dann triumphierend feststellen können, dass es Desinformation, Fake News oder Clickbait war, haben wir keine Erkenntnis gewonnen, sondern wurden stattdessen unserer Aufmerksamkeit beraubt, ausgerechnet beim Versuch, sie nicht leichtfertig zu verschenken.

3.

Die Heuristik des „Do not feed the trolls“, in der man die boshaften Tagediebe im Internet mit Missachtung straft, und sich nicht durch sinnlose Diskussion der eigenen wertvollen Aufmerksamkeit berauben lässt. (Ein Teil davon ist aber beispielsweise auch, konsequenterweise keine Kommentare zu lesen.)

Das rüttelt natürlich am digitalen Versprechen, dass sich mit der grenzenlosen Verfügbarkeit von Informationen ein revolutionärer Zustand informationeller Mündigkeit einstellt. Aber zu diesem unendlichen Wissen gehört offenbar auch das Erkennen dessen, was man nicht wissen wollen sollte. Wir benötigen offensichtlich eine Soziologie der digitalen Unwissenheit, die genau nicht mit Borniertheit verwechselt werden darf, sondern ein kluge Ahnung der selbstgewählten Ahnungslosigkeit ist – denn auch in der Fähigkeit, selektiv und damit zielorientiert zu rezipieren, wird die Fähigkeit zum kritischen Denken sichtbar.

Phantommuster

Das kritische Ignorieren ist auch deshalb so wichtig, weil die enorme Menge an täglich aufgenommen Informationen zur Wahrnehmung dessen führt, was die Philosophin Megan Fritts als „Phantommuster“ beschreibt. Sie erklärt:

„Ein Phantommuster ist etwas, das wie ein sinnvolles Muster aussieht, das eine Erklärung erfordert, aber in Wirklichkeit nicht sinnvoll ist. Es ist ein Phantom. Und diese Phantommuster können entweder zufällig entstehen, weil wir ständig so viele Informationen aufnehmen, dass falsche Korrelationen aussagekräftig erscheinen, oder es kann sich tatsächlich um absichtliche Phantommuster handeln, die uns als eine Art Futter dienen, damit die Dinge aussagekräftig oder wichtig erscheinen, so dass die Menschen eher geneigt sind, auf Artikel zu klicken, sie zu lesen und sich mehr Gedanken über das Thema zu machen.“

Unser Gehirn versucht permanent, aus dem Überangebot an Informationen einen Sinn zu synthetisieren, indem es nach bedeutungstiftenden Mustern sucht und regelmäßig meint, welche zu erkennen. Durch die schiere Menge an Input entdecken wir – rein aus statistischer Zwangsläufigkeit – früher oder später Muster, die gar keine sind, uns aber als solche erscheinen.

Die Wahrnehmung verschlimmere nicht nur das Problem der Fehlinformation; unsere Gewohnheit, Muster erkennen zu wollen, wo gar keine sind, werde absichtlich von Social-Media-Unternehmen gegen uns eingesetzt. Die Philosophin nennt es eine „epistemische Ausbeutung“ – etwas, was wir glauben, wissen oder glauben zu wissen, wird zum Nutzen anderer ausgebeutet.

Die Kinder wissen es

Bo Burnham schließt seinen Monolog über die Kolonisierung unserer Aufmerksamkeit mit Bezug auf die Generation Z, die in diese digitale Marslandschaft geboren wurden und darin aufwachsen:

„Die Kinder wissen es. Der ganze Witz im Internet ist, dass jeder sagt: ‚Dieser Ort ist shit, richtig?‘ Deshalb sind ihre Memes so ironisch und distanziert und selbstreferentiell und 12 Schichten tief, weil die Wahrheit für sie völlig tot ist und sie das wissen. Sie sehen sich den Präsidenten an, sie sehen sich die Kultur an und sie fragen sich: ‚Was zum Teufel ist das?‘“

Wenn wir unsere Existenz als Synthese aller Dinge betrachten, denen wir in unserem Leben unsere wertvolle Aufmerksamkeit geschenkt haben, wieviel Macht hat jemand über unser Leben, der unsere Aufmerksamkeit von uns selbst weglenkt? Wollen wir am Ende das reuevolle Gefühl haben, zu viel unseres Fokus an zu Irrelevantes vergeudet zu haben?

Es liegt Weisheit in gezielter Ignoranz verborgen – und ein ganzes, eigenes Leben.

1 Kommentare

  1. „Keine Kommentare lesen“ ist extrem hilfreich. Dabei hilft es, einen Werbeblocker oder ähnliches Werkzeug im Browser zu installieren, das die Kommentarteile von Webseiten komplett wegfiltert.

    Webseiten mit guter, nützlicher Kommentar-Kultur (wie Übermedien) kommen dann auf die Whitelist.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.