Der Autor
Lorenz Meyer schreibt als Comedyautor für Fernsehen, Online und Bühne und verfasst die werktägliche Medienkolumne „6 vor 9“ auf BILDblog.de.
Wer Lorenz Meyer nicht kennt, könnte ihn glatt mit Christian Lindner verwechseln. Oder mit Heidi Klum. Oder mit Richard David Precht. Eigentlich mit so ziemlich jeder Person des Zeitgeschehens, in die sich Meyer, vornehmlich auf Twitter, hineinversetzt. Auf Zuruf imitiert der Journalist und Medienkritiker dort unnachahmlich nachahmend deren Stile und Stanzen.
Für Übermedien hat Meyer 2019 in einem Adventskalender die Weihnachtsgeschichte aus der Sicht von Medienpersönlichkeiten nacherzählt.
In „Kreuzfahrt durch die Republik“ (Rowohlt Taschenbuchverlag) „trifft“ Meyers Protagonist, der unverhofft vom Haustechniker in einem Medienunternehmen zum Redakteur für besondere Aufgaben befördert wurde, zwanzig prominente Menschen aus Politik und Unterhaltung. Hier lesen Sie mit freundlicher Genehmigung des Verlages einen Auszug aus der fiktiven Begegnung mit Giovanni di Lorenzo vorab.
Unser Chefredakteur bittet mich in sein Büro. In meinem Kopf überschlagen sich die negativen Szenarien. Gab es Beschwerden? Reichen die Klick-Raten? Werden Stellen abgebaut? Meine Befürchtungen erweisen sich als nicht zutreffend. Das Gegenteil ist der Fall. Die Verlagsspitze sei hochzufrieden mit mir.
Das kann nicht alles gewesen sein, denke ich und habe recht. Mein Redaktionschef räuspert sich:
«Die Verlagsleitung wünscht sich ein Gespräch mit Giovanni di Lorenzo. Wir haben dabei an dich gedacht!»
Erneut spüre ich die Panik in mir aufsteigen. Ich weiß, was ich kann, aber ich weiß auch, was ich nicht kann.
«Giovanni di Lorenzo ist die Lichtgestalt des deutschen Journalismus. Er hat jahrzehntelange Erfahrung und hat selbst unzählige Leute interviewt. Die Idee, dass ausgerechnet ich … »
Mir fehlen die Worte. Alles in mir setzt sich zur Wehr. Es ist die pure Angst.
Lorenz Meyer schreibt als Comedyautor für Fernsehen, Online und Bühne und verfasst die werktägliche Medienkolumne „6 vor 9“ auf BILDblog.de.
«Du kannst das», versucht mich unser Redaktionschef aufzubauen. «Außerdem ist es keine Bitte oder Frage. Es handelt sich um eine dienstliche Anweisung.»
Er schaut dabei todernst und lässt nicht die leiseste Spur von Ironie erkennen.
Kurz bin ich versucht zu widersprechen, befürchte aber, dass es in einer Eskalation enden würde, und willige ein. Trotzdem wundere ich mich. Normalerweise sieht man es bei uns nicht gerne, wenn einem direkten Wettbewerber kostenlos zu Aufmerksamkeit und Werbefläche verholfen wird.
Als Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit und Mitherausgeber des Berliner Tagesspiegels fällt Giovanni di Lorenzo in diese Kategorie. Deshalb wäre ich niemals auf die Idee gekommen, ein derartiges Gespräch vorzuschlagen. Ich verdränge den Gedanken und mache das, was ich vor jedem meiner Interviews mache: Ich studiere die Vita meines Gesprächspartners.
Giovanni di Lorenzo hat deutsche und italienische Wurzeln. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er in Schweden, Italien und Deutschland. Seine Gymnasialzeit absolvierte er in Hannover, sein Studium in München. Dabei hatte er stets die Medien im Blick. Seine Magisterarbeit trägt den Titel «Strategie und Aufstieg des Privatfernsehens in Italien am Beispiel der Networks von Silvio Berlusconi».
Ende der Siebzigerjahre begann seine journalistische, Mitte der Achtziger seine Fernsehkarriere. Di Lorenzo zeichnet sich durch Konstanz und Loyalität aus. Wenn er sich für etwas entschieden hat, dann bleibt er dabei, ob als Chef der Zeit oder als einer der Gastgeber der ältesten, bundesdeutschen Fernsehtalkshow 3 nach 9.
Ich bastele an meinem Fragenkatalog: Wie schaut di Lorenzo als Deutsch-Italiener auf unser Land? Wie wurde er Mitorganisator der Lichterkette gegen Fremdenfeindlichkeit? Wie ordnet er in der Rückschau das gemeinsame Buch mit dem ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ein?
Die Vereinbarung eines Gesprächstermins mit di Lorenzo gestaltet sich unkompliziert. Ich möge einfach nach Hamburg kommen, Herr di Lorenzo freue sich auf mich.
Wenige Tage später treffe ich in der Hansestadt ein. Vom Hauptbahnhof bis in die nach dem Zeit-Verleger Gerd Bucerius benannte Straße sind es nur ein paar Gehminuten. Bucerius zählt neben Männern wie Henri Nannen, Rudolf Augstein, Alfred Neven DuMont, Hubert Burda und Axel Springer zu den prägenden Verlegerpersönlichkeiten Nachkriegsdeutschlands. Natürlich residiert die Zeit in der Buceriusstraße.
Ich nehme im Foyer Platz, und wenige Minuten später erscheint Giovanni di Lorenzo. Er trägt einen dunklen Anzug und ein helles Hemd. An seinem Handgelenk erkenne ich eine Rolex GMT Master II 16710. Mit dieser Uhr hatte ich ihn bei der Talkshow von Maybrit Illner im ZDF gesehen. Ein Klassiker, der mittlerweile zu Preisen von um die fünfzehntausend Euro im Netz gehandelt wird, wie ich in kindlicher Neugier herausgefunden habe.
Seine über sechzig Lebensjahre sieht man di Lorenzo nicht an. Er wirkt um viele Jahre jünger und ist von präsenter Wachheit. Seine langen Haare wippen, er reicht mir dynamisch die Hand.
«Willkommen in Hamburg! Haben Sie schon etwas gegessen? Ich kenne einen ausgezeichneten Italiener um die Ecke.»
Ich habe weder Hunger noch Appetit, aber nehme den Vorschlag dankbar an. Der gemeinsame Restaurantbesuch wird mir helfen, meine Nervosität abzubauen.
Nach einem kurzen Fußweg sind wir am Ristorante Sine Tempore angelangt.
«In Italien spielt sich das ganze Leben in der Öffentlichkeit ab. Italiener nennen es Ars Vivendi. […] Ich nenne es die Kunst zu leben.»
«Das ist Italienisch und heißt pünktlich zur angegebenen Zeit. Ein Name, den ich, gestatten Sie mir die kleine Anmerkung, aus verschiedenen Gründen – und damit ist nicht das Offensichtliche gemeint – ganz hübsch finde. Wegen der Sprache spricht er den Italiener in mir an, wegen der Pünktlichkeit aber auch den Tedesci, den Deutschen.»
Wir nehmen an einem der zahlreichen Tische draußen Platz. Mich stört der Lärm der vorbeifahrenden Autos. Di Lorenzo lacht. Ihn erinnere der Ort an eine typisch italienische Straßenszenerie.
Der Wirt erscheint und begrüßt uns wie Familienmitglieder. Man kennt sich und man schätzt sich. Ohne einen Blick in die Speisekarte zu werfen, gibt di Lorenzo seine Bestellung auf. «Als Vorspeise wie üblich Battutina di Fassona con misticanza.»
Ich spreche kein Italienisch und freue mich über seine Übersetzung:
«Das ist Tatar vom Piemontesischen Fassona-Rind, und dazu ein Mix aus Blatt- und Zichoriensalaten.»
Zwischendurch steuert ein Obdachloser den Tisch an und streckt uns ein Exemplar des Hamburger Straßenmagazins Hinz & Kunzt entgegen. Ich zücke meine Brieftasche, doch routiniert schiebt der Wirt den Straßenverkäufer zur Seite.
«Verschwinde!»
Nach der kleinen Unterbrechung setzt di Lorenzo seine Bestellung fort:
«Als Hauptspeise hätte ich gerne Pesce Spada Ai Ferri Con Salmoriglio e Datterini Siciliani. Das ist ein deliziöses Schwertfischfilet vom Grill mit einer Marinade aus Traubenkernöl, Zitrone und Kräutern und einem typisch sizilianischen Salat aus Datteltomaten. Dazu einen Weißwein, vielleicht einen Poggio Argentato aus der Maremma. Ein ungemein vollmundiger Wein mit einem langen, sehr nachhaltigen Abgang.»
Er macht eine Pause: «Sie sehen, man braucht nicht viel im Leben, um glücklich zu sein.»
Ich lasse mir die Speisekarte bringen, schlage sie aber schnell überfordert zu und bestelle mir nur ein Wasser.
Jetzt spricht di Lorenzo so leise zu mir, dass ich meine volle Konzentration aufwenden muss, um ihn zu verstehen.
«Sehen Sie, das gehört auch zur Meinungsfreiheit: Sie mögen kein italienisches Essen, und ich akzeptiere das, denn es ist Ihr gutes Recht. Ich würde meinem Gegenüber nie vorschreiben, was gut und was richtig oder böse ist. Nur die Vermischung von Meinung und Fakten ist eine, die mich manchmal zornig macht und ratlos zurücklässt. Ich glaube an die Macht der Recherche und an die Macht des Arguments. Und das würde ich mir von Ihnen auch wünschen und nicht diese unerbittliche Verhärtung, die nur zu Verletzungen auf allen Seiten führt.»
Ich fühle mich missverstanden und protestiere. Mir schmeckt italienisches Essen, ich habe nur keinen Appetit und bin satt.
Di Lorenzo hat die Stirn in Falten gelegt. Er rückt nah an mich heran und schaut mir direkt in die Augen:
«Das wäre ein Thema für unser Streit-Ressort: Italien-Hass versus Italien-Liebe. Wir versuchen in einer Zeit, in der der bestimmende Zeitgeist ja eher der ist, sich in der eigenen Blase zu verschließen, nach wie vor und gegen den Trend, den Leserinnen und Lesern die Zumutung unterschiedlicher Meinungen zu präsentieren. Und das durchaus mit Erfolg, wenn ich das an dieser Stelle und in der Demut des dafür nicht unwesentlich verantwortlichen Chefredakteurs anmerken darf.» Er macht eine Pause und ergänzt: «Die Zeit ist in Deutschland das meistgelesene Blatt nach der Bild-Zeitung.»
Mittlerweile hat der Wirt den Antipasti-Teller und die Getränke gebracht. Genussvoll spießt di Lorenzo eine der Köstlichkeiten auf.
Nur ein paar Meter von uns entfernt hört man lautes Autohupen. Automatisch drehen wir unsere Köpfe in die entsprechende Richtung. Leute schimpfen und schreien. Ein Fußgänger ist bei Rot über die Ampel gegangen und hat einen Autofahrer zur Vollbremsung genötigt.
«Komm, wir gehen da mal hin. Dieser Konflikt scheint mir ein Sinnbild für unsere Gesellschaft zu sein.»
«Sehen Sie, Sie sprechen mit einer unerbittlichen Gewissheit, die keine Gegenrede zulässt. Wie und was wir wahrnehmen, ist immer noch von der Meinungsfreiheit gedeckt.»
Während ich noch darüber nachdenke, ob er mich eben geduzt hat, ist di Lorenzo bereits auf der Straße und klopft an die Fensterscheibe des Autofahrers:
«Dieses Hupen hat mit Streitkultur nichts zu tun, und ich sage es Ihnen ganz unumwunden: Das, was Sie da machen, ist nicht nur keine Streitkultur, sondern – ich sage es ganz frei heraus – das schiere Gegenteil von Streitkultur. Ich wünschte mir von Ihnen, und ich bitte Sie da um Ihr Verständnis, dass Sie auf das Argument des jeweils anderen eingehen, indem Sie sich einlassen auf die Konfrontation mit Argumenten, auch mit Standpunkten, die nicht die Ihrigen sind, aber die Sie respektvoll mit Ihrem Gegenüber austauschen, und dies in einer Weise, die Verständigung zulässt und nicht auf wechselseitige Verletzungen ausgerichtet ist. Alles andere, und mit diesem Vorwurf müssen Sie leben, weil Sie gewissermaßen die Ursache dafür gesetzt haben, ist die Simulation von Diskurs, und davon müssen wir irgendwann wieder weg, sonst, und ich weiß nicht, ob Sie das wollen, ob wir das wollen, ist diese ganze Gesellschaft irgendwann gänzlich vergiftet.»
Der Autofahrer antwortet:
«Diskurs, häh? Ich hatte Grün, und der ist bei Rot über die Ampel. Ich musste voll in die Eisen, um ihn nicht über den Haufen zu fahren!»
«Sehen Sie, Sie sprechen mit einer unerbittlichen Gewissheit, die keine Gegenrede zulässt. Wie und was wir wahrnehmen, ist immer noch von der Meinungsfreiheit gedeckt. Die Welt ist nicht nur schwarz-weiß! Das gilt auch und insbesondere für die Farben einer Ampel.»
[…]Lorenz Meyer:
„Kreuzfahrt durch die Republik. Deutschland in 20 fast wahren Geschichten“
Rowohlt Taschenbuchverlag
256 Seiten
17,00
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