Wochenschau (131)

Kritisierst du noch oder nörgelst du schon?

Als die Details zum sogenannten „dritten Entlastungspaket“ verbreitet wurden, ging – so mein Eindruck – ein bitteres digitales Seufzen der Medienschaffenden durch Twitter. Zu wenig, zu langsam, zu ungenau. Stichwort: Gießkanne. Stichwort: Umverteilung. In vielen Tweets wurde sehnsüchtig in Richtung Spanien geschaut, wo der ÖPNV dank der Einführung einer Übergewinnsteuer für vier Monate und in einem Radius von 500 Kilometern kostenfrei ist. Insbesondere das 49- bzw. 69-Euro-Ticket, als angeblicher Nachfolger des 9-Euro-Tickets, erfuhr viel Kritik. Denn für die Menschen, für die das 9-Euro-Ticket eine wahrhaftige Entlastung bedeutete, sind 50 bis 70 Euro schlicht zu teuer.

Ich kam nicht umhin, an diesem kollektiven Hände-über-dem-Kopf-Zusammenschlagen teilzunehmen. Ich halte das Entlastungspaket für ungerecht und ineffizient. Es funktioniert ökonomisch und ökologisch nicht – und damit gehöre ich offenbar zu der mittlerweile zu Tode zitierten Gruppe der 80 Millionen Besserwisser:innen, die bei jeder Regierungsentscheidung aktiviert werden, ob bei Klima oder Krieg; in diesem Fall sind wir nun also 80 Millionen Entlastungspaket-Expert:innen.

Die ARD-Journalistin Isabel Schayani hat diesen vereinenden Reflex des Schlechtfindens auf Twitter, dieses kollektive Bemängeln um des Bemängelns Willen, als „Schwarmkritik“ bezeichnet. Ich mag diesen Begriff, weil er sich klar von der Worthülse „Shitstorm“ abhebt.

Und obwohl ich der vielstimmigen Kritik in den sozialen Medien grundsätzlich beipflichte: sie erscheint mir in ihrer Vorhersagbarkeit verbunden mit dem rituellen Entsetzen über so viel politisches Unvermögen doch ebenfalls etwas schal. Ich weiß nicht, ob so viel kritische Einmütigkeit entweder beweist, dass sie absolut berechtigt ist, oder dass sich einfach alles sehr schnell und leicht kritisieren lässt.

Verzerrte Wahrnehmung

Abseits der weniger konstruktiven Beurteilung versuchten manche allerdings auch, die Ergebnisse in Relation zu setzen, um darauf aufmerksam zu machen, was funktionieren könnte. Beispielsweise „Zeit“-Journalistin Anna Mayr:

Es geht also um kritisches Einordnen, aber eben auch darum, die Dinge in Relation zu sehen. Es geht beispielsweise um die Frage, ob 49 Euro für Mobilität zu viel oder 18 Euro mehr zu wenig für ein Kind sind (ich würde sagen: ja und ja). Und in diesen Einschätzungen und Überlegungen, ob die Kritik zu milde oder zu bärbeißig ist, gilt es zudem die Sprecherposition zu beachten: Schaut man als privilegierte:r Medienmacher:in nicht auch unwillentlich anders auf die Wirkung dieser Entlastungen?

Gerade wenn man versucht zu bewerten, was das im Alltag bedeutet? Wäre es in diesem Kontext also nicht sogar sehr notwendig, um als Journalist:in der Falle einer verzerrten Wahrnehmung zu entkommen, vor allem von jenen auszugehen, die von diesen Entlastungen besonders profitieren sollten? Oder, um bei Anna Mayrs Worten zu bleiben: 50 Euro sind eben 50 Euro. Für jemanden, der 1500 Euro verdient, sind 50 Euro im Verhältnis mehr als für jemanden, der 5000 Euro verdient.

Das bringt mich nun zur Frage: Können Journalist:innen vielleicht zu kritisch sein?

„Nein, natürlich nicht, was ist das für eine ignorante Idee?“, würden da sehr kritische Journalist:innen sofort aus dem Off rufen. Denn es zählt ja zu den wichtigsten journalistischen Tugenden, gegenüber Regierenden unnachgiebig zu sein und hartnäckig wie schonungslos Probleme aufzudecken. Es geht um das Bestreben, „die Feder in die Wunde zu legen“, wie es die französische Reporterlegende Albert Londres formulierte. „Il faut porter la plume dans la plaie“. 

War ja klar: Wieder mal alles falsch gemacht

Aber wenn wir den Gedanken eines Zuviels dieser Tugend mal kurz zulassen: Verurteilen Berichterstattende vielleicht nicht doch zu vorauseilend das, was da aus der Hauptstadt kommt? Aus Berufskrankheit oder aufgrund einer Routine aus über zwei Jahren Pandemie und etlichen Fehlentscheidungen? Gerade beim Nacherzählen und Abbilden stürzen sie sich beharrlich auf Fehler. So in der Art: da sind die stümperhaften Antagonisten und sie haben wieder mal alles falsch gemacht.

Grumpy Cat War nie begeistert: Grumpy Cat 

Diese journalistische Betriebstemperatur lässt nicht einmal mehr Hot Takes zu. Die Kritik schmeckt wie aufgewärmter Kaffee und droht vom Stimulans zum schlechtgelaunten Betäubungsmittel aller Reflexionen zu werden. Zugleich bringt Meckern auch noch mehr Aufmerksamkeit. Ohne den harsch Kritisierenden ein vorrangiges Geltungsbedürfnis zu unterstellen, das hinter ihren ausdauernden Einwänden steckt (eher im Gegenteil!), ist es auch Teil der publizistischen Ökonomie, dass Politikerschelte (die ich auch gerne und regelmäßig betreibe) erfolgreicher angenommen und verbreitet wird. Erwiesenermaßen finden Menschen Dissens interessanter als Konsens. 

Eine Studie, deren Ergebnisse 2019 in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ veröffentlicht wurde, und an der mehr als 1000 Menschen aus 17 Ländern auf allen Kontinenten außer der Antarktis teilnahmen, stellte beim Publikum die Sehnsucht nach der negativen Nachricht, dem Problem fest.

Stuart Soroka, Hauptautor dieser Studie und Politikwissenschaftler an der Universität von Michigan, interessierte sich dafür, welche Rolle Negativität im Journalismus spielt. Er untersuchte die Tendenz der Menschen, Kritik mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Unter den Akademiker:innen war eine Erklärung für diese Voreingenommenheit, dass „Journalisten wütende Menschen und Skeptiker waren und einen Haufen negativer Inhalte produzierten, und das war schlecht – schlecht für die Demokratie und schlecht für Menschen, die Nachrichten lesen“, erläutert Soroka in der „Los Angeles Times“.

„Unser Verdacht war, dass die Art und Weise, wie Nachrichten aussahen, nicht nur von den Gefühlen der Journalisten abhing, sondern eher davon, wie das Publikum darauf reagierte.“

Zusätzlich zur Aufmerksamkeitsökonomie kommt schlicht auch eine durch den Berufethos geformte Bedingung: Ohne journalistische Strenge gegenüber politischen Entscheidungen kommt die Kritik nicht aus. Gerade, wenn es um die Auswirkung auf das alltägliche Leben der Bevölkerung geht, müssen Medienschaffende natürlich adleräugig und unbestechlich auf diese Regierungsbeschlüsse blicken. Diese Unbestechlichkeit kann jedoch mit Unerbittlichkeit einhergehen. Sie verschärft den Ton, aber Journalist:innen sind eben auch nicht die Freund:innen der Regierenden. 

Wann wird aus sachlicher Kritik Selbstzweck?

Die Frage ist also: Schadet die berufsbedingt erforderliche Negativität der Kritik der Auseinandersetzung mit politischen Fehlern und Schwächen, wenn sie in eine zeremonielle Motzigkeit verfällt?  Und, wie die Journalistin und Autorin Nora Hespers auf Twitter fragte:

„Wie kann es Journalismus, wie kann es Journalist:innen gelingen, die Kritik konstruktiv zu formulieren? Das ist ja Teil der Einordnung. Es geht auch ums Gesehen werden derer, die dabei hinten runter fallen. Aber eben auch Lösungen.“

Das ist das Schlüsselwort: Lösungen. Um aus der critique pour la critique rauszukommen, müssen Berichtende mit der Selbstverständlichkeit, mit der sie kritisieren, Verantwortung für die Suche nach Lösungen übernehmen, um nicht im Fingerzeigen zu verharren. Emilie Kovacs, die Autorin des Buches „Journalisme de solutions: Ou la révolution de l’information“ („Journalismus der Lösungen: Oder die Revolution der Information“), beschreibt dies mit einem schönen Bild: 

„Damit der Journalismus auf eigenen Füßen stehen kann, braucht man ein rechtes Bein, (…) das anprangert, aber man braucht auch ein linkes Bein, das Lösungen aufzeigt.“

Es gibt verschiedene Ansätze, Kritik konstruktiv zu gestalten: den sogenannten Impact Journalism, konstruktiver Journalismus oder lösungsorientierte Berichterstattung. Christian De Boisredon, ein prominenter Vertreter des Impact Journalism und Mitbegründer des Vereins „Reporters d’Espoirs“ („Reporter der Hoffnung“) betont allerdings, warum man auf keinen Fall von einem „positiven“ Journalismus sprechen sollte: 

„Weil die Rolle des Journalismus nicht darin besteht, positiv zu sein. Seine Aufgabe ist es, über die Welt zu berichten, wie sie ist, und nicht, einen positiven Blickwinkel zu haben. Außerdem wird Positivität im Unterbewusstsein der Journalisten mit Teddybären assoziiert, mit sehr oberflächlichen und netten Dingen, bei denen man die Probleme und die Realität der Welt verbergen möchte, um das Leben in rosaroten Farben darzustellen.“

Der Journalismus als Beruf hat seine Daseinsberechtigung in der Leistung für die Bürger:innen: er macht Informationen zugänglich. Darin liegt eine wertvolle und zerbrechliche Verantwortung. Teil ebendieser ist es auch zu verhandeln, was aus diesen zugänglich und sichtbar gemachten Informationen folgt. Die Kritik ist formvollendet, wenn sie scharf und bestimmt ist – und wenn man sie nicht von den daraus folgenden Handlungsmöglichkeiten trennt.

Das bedeutet: mit schmerzhaft spitzem Federkiel jede Regierungsentscheidung immer wieder herausfordern und kritisieren, die Feder immer wieder in die Wunde legen – und dann mit dem geschriebenen Wort versuchen, sie zu heilen.

 

3 Kommentare

  1. Schöner Kommentar, dem ich auch in den Kernpunkten zustimme. Vor allem sehe ich aber noch ein weiteres Problem in dieser Art des kritischen Kommentierens, was ja nicht nur von Journalisten betrieben wird, sondern auch von vielen anderen Bürgern: Es kann auch entsprechend positiv bewertete Handlungen unterbinden. Sobald ich als Entscheider weiß, dass ich eine relativ große Masse an Kommentatoren habe, die eh alles negativ und teils mit ätzendem Zynismus kommentiert (und das teils sogar schon im vorhinein, bevor irgendwas entschieden wurde), dann preise ich das irgendwann als konsequenzloses Genörgel ein und muss mich nicht mehr so sehr anstrengen, weil ich es aus meiner Perspektive diesen Menschen eh nie Recht machen kann. Das Aufzeigen von Alternativen, aber auch eine Form der Kritik, die über das bloße Kommentieren hinausgeht, erachte ich da als zwingend notwendig, um überhaupt eine Chance auf Veränderung zu haben.

  2. Ja, prima geschrieben. Allerdings benötigen JournalistInnen eine Haltung. Meinung. Erkennbar. Wie H.Rowohlt mal so nett formulierte,“er liebe den Meinungsaustausch – schön, wenn man eine hätte“.
    Irgendwie sollen alle kritisch oder positiv sein. Bezogen worauf?
    Alternativen zu diesem mörderischen System aufzeigen. Keine leichte Aufgabe.;-)

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