„Bildungsmonitor“

Wer hat das beste Bildungssystem? Flache Lernkurve beim Umgang mit INSM-Studie

Schlagzeilen zum „Bildungsmonitor“

Die „Welt“ schreibt: „Sachsen ist Bildungsspitze in Deutschland“, der MDR titelt: „Sachsen bleibt Klassenbester“. Bremen hingegen sei „schlecht“ und ein echtes „Schlusslicht“, bemängelt der „Spiegel“, Hamburg „abgerutscht“, weiß der „Stern“. Von Platz drei auf Platz vier. Wie aufregend!

Einmal im Jahr wissen die Medien plötzlich, in welchem Bundesland die Kinder am besten lernen und in welchem nicht. Nämlich immer dann, wenn der „Bildungsmonitor“ erscheint. Die Studie ist der wahrscheinlich aufwändigste Vergleich der 16 verschiedenen Bildungssysteme, den es gibt. 98 Indikatoren schauen sich die Autor:innen an. Mit dabei: Wie viel Geld geben die Bundesländer pro Schüler:in aus? Wie viel für Hochschulen? Wie viele Lehrkräfte gibt es pro Schüler:in? Und wie groß sind die Klassen? Aber auch: Wie hoch ist der Anteil der ausländischen Schulabgänger ohne Abschluss und wie gut können Grundschüler:innen lesen?

Jetzt könnte man sagen: 98 Indikatoren, das sind ganz schön viele, das ist ziemlich aussagekräftig. Und das stimmt. Aber nur teilweise. Der Bericht ist zwar ein bildungspolitischer Rundumschlag und am Ende steht da eine Tabelle, in der die 16 Bundesländer platziert sind. Aus dieser zu schlussfolgern, dass Sachsen das beste und Bremen das schlechteste Bildungssystem hat, ist aber mindestens verkürzt. Und es verstärkt eine Erzählung über Bildung, die sich eher an der Wirtschaft als am Kind orientiert.

„Wachstum und Wohlstand der Wirtschaft“

Warum ist das so? Die Autor:innen der Studie vergleichen die Bundesländer aus einer „explizit ökonomischen Perspektive“, wie sie selbst schreiben. Sie wollen zeigen, „inwieweit das Bildungssystem eines Bundeslandes zum Wachstum und Wohlstand der Wirtschaft beiträgt.“ Dass sie das machen, ist keine Überraschung. Der „Bildungsmonitor“ wird seit 2004 vom Institut der deutschen Wirtschaft im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erstellt. Der INSM ist laut Lobbycontrol „eine marktliberale Lobby-Organisation, die von den Unternehmerverbänden der Metall- und Elektroindustrie (Gesamtmetall) finanziert wird. Sie will u.a. erreichen, dass der Arbeitsmarkt und das Bildungswesen stärker an den Bedürfnissen von Unternehmen ausgerichtet werden.“

So eine Organisation kann das natürlich machen: Die 16 verschiedenen Bildungssysteme aus einer explizit wirtschaftlichen Perspektive miteinander vergleichen. Nur was sollten Medien daraus nicht schließen? Genau: dass dieser Vergleich auch gleichzeitig zeigt, welches Bundesland das „beste“ Bildungssystem hat.

In verschiedenen Meldungen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vom Mittwoch, die die meisten Medien ohne Änderungen oder automatisch übernommen haben, steht beides sogar im gleichen Absatz. Direkt im ersten, etwa hier:

Berlin/Köln (dpa) – Sachsen hat laut einer aktuellen Erhebung das beste Bildungssystem in Deutschland. Das ergab eine Vergleichsstudie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag der von der Metall- und Elektro-Industrie finanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Dabei wird laut Autoren „explizit eine bildungsökonomische Sichtweise eingenommen“ und bewertet, inwiefern die Bundesländer Bildungsarmut reduzieren, zur Fachkräftesicherung beitragen und Wachstum fördern.

Dass das irgendwie merkwürdig ist, hat kaum eine Redaktion gemerkt. Oder sie merkten es, hielten das aber für eine korrekte Schlussfolgerung. Schließlich schrieben sie es in ihre Überschriften. Und das nicht zum ersten Mal: Bereits 2019 wies ich in einem Artikel darauf hin, dass der „Bildungsmonitor“ eben nicht zeigt, welches Bildungssystem das beste ist.

Vorlagen für Polit-PR

Politiker:innen wiederum nehmen das Framing der Medien dankend auf. Als Thüringen 2019 im Ranking von Platz zwei auf Platz drei abgerutscht ist, sagte der der bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag, Christian Tischner: „Das Ergebnis ist eine niederschmetternde Schlussbilanz für fünf Jahre rot-rot-grüner Bildungspolitik in Thüringen.“ 2021 landete Thüringen sogar auf Platz vier! In diesem Jahr dann die Erleichterung: wieder Platz drei. „Das zeugt von einer sehr guten Arbeit der Pädagogen“, sagte Bildungsminister Helmut Holter (Linke) am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur.

Der ökonomische Blick auf die Schulen ist alles andere als neu. Während der Pandemie geisterten unfassbare Summen durch die Medien, zum Beispiel beim „Handelsblatt“: „Der Schulausfall in der Pandemie könnte 3,3 Billionen Euro kosten.“ Das haben Ökonomen berechnet. Diese Zahlen bekommen viel Aufmerksamkeit – nur den Kindern und Jugendlichen in den Schulen helfen sie nicht.

Gehen wir noch weiter zurück: Dass Kinder nur bis mittags unterrichtet werden, wurde Ende des 19. Jahrhunderts aus Rücksicht auf die damals noch übliche Kinderarbeit eingeführt. Die mittlerweile viel gelobte Ganztagsschule führten Politiker:innen vor allem ein, damit Frauen auch nachmittags arbeiten konnten. G8, also das Abitur nach nur acht Jahren auf dem Gymnasium, sorgte passenderweise dafür, dass die Jugend schneller auf den Arbeitsmarkt kam.

Keine dieser Entscheidungen wurde gefällt, weil sie den Kindern guttut. (Bei der Ganztagsschule ist das ein netter Nebeneffekt.) Bildungspolitik ist Arbeitsmarktpolitik – das war schon immer so. Aber sollte es deshalb so bleiben?

Warnung der Autor:innen selbst

Marktliberale Lobby-Organisationen wie die INSM werden nichts dagegen haben. Das ist schließlich ihr Ziel. Bildungssysteme, die bei einem explizit ökonomischen Ranking gut abschneiden, als die besten und schlechtesten zu bezeichnen, sind aus ihrer Sicht nur folgerichtig. Aber eben nur aus dieser Sicht. Wer sie nicht blind übernehmen will, müsste eigentlich titeln: „Sachsens Bildungssystem trägt am meisten zum Wachstum und Wohlstand der Wirtschaft bei.“

Die Autor:innen des „Bildungsmonitors“ hatten wohl eine Vorahnung, dass dies nicht geschehen wird. Sie warnten selbst gleich im ersten Absatz: „Die Ergebnisse der Studie sind vor diesem Hintergrund zu interpretieren und einzuordnen“ – der bildungsökonomischen Sichtweise. Das muss dpa und vielen Medien durch die Lappen gegangen sein. Seit Jahren.

Eine Ausnahme ist der „Spiegel“, der die treffende Überschrift fand: „Wie Ökonomen die Bildungsarbeit von Bundesländern bewerten“.

dpa aktualisiert

Und am Nachmittag veröffentlichte dpa – vielleicht als Reaktion auf die Kritik? – eine aktualisierte Version ihrer Meldung, in der die Studie, wie die Agentur ihren Kunden mitteilte, „deutlicher eingeordnet“ wurde. Nun lautet die Überschrift: „Wirtschaftsnahe Bildungsstudie: Sachsen vorn, Bremen Schlusslicht“, und die Nachricht beginnt so:

Berlin/Köln (dpa) – Sachsen hat aus Sicht der wirtschaftsnahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) das beste Bildungssystem in Deutschland. Im am Mittwoch veröffentlichten Bildungsmonitor, einer Vergleichsstudie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag der von der Metall- und Elektro-Industrie finanzierten INSM, landete der Freistaat auf Platz eins, Bremen wurde Schlusslicht. Laut den Autoren wurde „explizit eine bildungsökonomische Sichtweise eingenommen“ und bewertet, inwiefern die Bundesländer Bildungsarmut reduzieren, zur Fachkräftesicherung beitragen und Wachstum fördern.

Immerhin.

2 Kommentare

  1. Danke für diesen wichtigen Beitrag! Es ist immer wieder schade, wie bedenkenlos Medien ein vorgegebenes Framing übernehmen. Lobbyarbeit leichtgemacht

  2. Einen weiteren wichtigen Aspekt könnte man beleuchten (wurde z.B. auch bei Stiftung Warentest schon mit beunruhigendem Ergebnis beleuchtet): Werden mehrere Kriterien mit irgendwelchen selbstgebastelten Gewichtungen zu einem Gesamtwert zusammenrechnet, dann hängt das Rankingergebnis in der Regel sehr stark von der Wahl der Gewichte ab. Das heißt, man wird durch Verrechnung der 98 Kriterien vielleicht nicht jede beliebige Reihenfolge herausbekommen können, aber doch sehr viele deutlich unterschiedliche. Das Ergebnis spiegelt die willkürlich gesetzten Gewichte wider (auch alle Gewichte =1 wäre Willkür), nicht die Realität.

    Zudem ist da sicher eine Versuchung vorhanden, mit den Gewichten etwas herumzuspielen, um das Rankingsergebnis in eine politisch wünschenswerte oder besonders aufmerksamkeitserregende Richtung zu lenken.

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