Wen vertreten eigentlich die Rundfunkräte von ARD und ZDF?
Rundfunkräte sollen die demokratischen Kontrolle der Gesellschaft über ARD, ZDF und Co. sicherstellen. Doch eine Untersuchung der Neuen Deutschen Medienmacher*innen zeigt: Die Kontroll- und Aufsichtsgremien der Öffentlich-Rechtlichen schließen große Teile der Gesellschaft aus.
„Kungelrunden“, „Abnick-Automaten“ oder, wie TV-Moderator Günther Jauch sie einst nannte, „Gremien voller Gremlins“: Rundfunkräte haben nicht das allerbeste Image. Dabei sind sie eigentlich eine tolle Erfindung. Sie sorgen dafür, dass der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk (ÖRR) auch tatsächlich von der Öffentlichkeit kontrolliert wird. Nicht in Form irgendeiner staatlichen Behörde, sondern durch Vertreter*innen aus der ganzen Gesellschaft. Damit sind Rundfunkräte der Garant dafür, dass es sich bei ARD, ZDF und Co. eben nicht um einen „Staatsfunk“ handelt.
Soweit die Theorie. Denn ihrem Anspruch, die Vielfalt der Gesellschaft zu repräsentieren, werden die öffentlich-rechtlichen Kontrollgremien nicht gerecht. Hätten Sie zum Beispiel gedacht, dass in den zwölf Rundfunkräten genauso viele Interessenvertreter*innen von Bauern und Bäuerinnen (weniger als 1 Prozent der Bevölkerung) wie von Menschen mit Migrationshintergrund (mehr als 27 Prozent der Bevölkerung) sitzen? Dass es Heimatvertriebene auf mehr Sitze bringe als muslimische Organisationen? Dass Jäger*innen in den Gremien besser repräsentiert werden als Rom*nja und Sinti*zze? Dass mehr Über-80-Jährige das öffentlich-rechtliche Programm überwachen als Unter-30-Jährige?
Politiker*inner, Vertretungen von Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und Abgesandte der beiden großen Kirchen: Sie dominieren die meisten Gremien. Menschen, die in unserer Gesellschaft ohnehin nicht viel zu sagen haben? Sie bleiben auch in Rundfunkräten häufig außen vor.
542 Personen, 12 Gremien, 1 uneingelöstes Versprechen
Für die Neuen Deutschen Mediemacher*innen habe ich mir die neun Rundfunkräte der ARD-Rundfunkanstalten (BR, HR, MDR, NDR, Radio Bremen, RBB, SR, SWR, WDR), den Hörfunkrat des Deutschlandradios, den ZDF-Fernsehrat sowie der Rundfunkrat der Deutschen Welle und ihre insgesamt 542 Mitglieder genauer angeschaut. Wir wollten wissen: Welche gesellschaftlichen Gruppen sind in den Gremien vertreten? Welche Stimmen bleiben ungehört? Welche informellen Faktoren wie Zugang zu Ressourcen oder politische Loyalitäten beeinflussen die Machtverhältnisse im Gremium?
Nicht jede Erkenntnis lässt sich in Zahlen oder Tabellen ausdrücken. Deshalb lassen wir auch zahlreiche Rundfunkratsmitglieder und andere Expert*innen zu Wort kommen. Außerdem haben wir Entwicklungen in und um die einzelnen Gremien in den letzten Jahren nachgezeichnet: Welche Reformen gab es? Welche Debatten wurden geführt? Welche Forderungen stießen auf taube Ohren?
Anlass der Untersuchung zu Rundfunkräten ist das 75. Jubiläum ihrer „Erfindung“. 1947 schlug Rundfunk-Pionier Hans Bredow vor, Aufsichtsgremien zu schaffen, in denen nicht Politiker*innen, sondern Vertreter*innen der „Rundfunkgemeinde“ – er meinte das Radio- und Fernsehpublikum – selbst das Sagen haben.
Staatsferne: nur so viel wie nötig
75 Jahre später ist dieses Ziel nur bedingt erreicht. Zum Beispiel in Sachen Staatsferne: Zwar haben die Gremien im Zuge eines Verfassungsgerichtsurteils von 2014, das den maximalen Anteil staatsnaher Mitglieder auf ein Drittel festlegte, ihre Zusammensetzung reformiert. Mit insgesamt 147 Landtagsabgeordneten, Regierungsmitarbeiter*innen sowie Kommunalvertreter*innen stellen staatsnahe Mitglieder aber auch heute noch die weitaus größte Gruppe in allen Rundfunkräten (27 Prozent).
Einige Gremien reizen dabei das verfassungsrechtlich zulässige Maximum staatsnaher Mitglieder voll aus (BR, Deutschlandradio, ZDF). Der Rundfunkrat der Deutschen Welle liegt mit 41 Prozent sogar darüber. Aber auch positive Ausreißer gibt es: In den Aufsichtsgremien von HR, NDR, Radio Bremen und SWR lässt sich nicht einmal jedes vierte Mitglied dem staatsnahen Bereich zuzuordnen.
Dass es bei der vorgeschriebenen Staatsferne auf weit mehr als die bloße Sitzverteilung ankommen sollte, machen einige unserer Gesprächspartner deutlich. „Wenn ein Land wie Sachsen 30 Jahre von der CDU regiert wurde und ein Staatssekretär der Regierung Vorsitzender der Landesgruppe ist, führt bei der Wahl kein Weg an ihm vorbei“, sagt Heiko Hilker, der seit 25 Jahren im MDR-Rundfunkrat sitzt, zunächst für die Linke, jetzt für den Deutschen Journalistenverband (DJV). Einen kritischen Blick auf "Freundeskreise" wirft Luca Renner vom ZDF-Fernsehrat und erklärt das Problem dieser informellen und meist parteipolitisch geprägten Zusammenschlüsse: „Die zwei Freundeskreise legen paritätisch fest, wer Vorsitz und stellvertretenden Vorsitz in den Ausschüssen besetzt, wer in den Verwaltungsrat und wer in das Präsidium des Fernsehrates gewählt wird. Ohne Mitarbeit in einem Freundeskreis oder Verbindungen in einen solchen wird das schwer bis unmöglich.“
Unter den gesellschaftlichen Akteur*innen stellen Vertreter*innen von Arbeitgeber*innen- und Arbeitnehmer*innenorganisationen die größte Gruppe in Rundfunkräten. Von 542 Rundfunkratsmitgliedern vertreten 120 einen Unternehmensverband, eine Gewerkschaft oder einen Berufsverband. Damit stammt mehr als jedes vierte Rundfunkratsmitglied (22 Prozent) aus diesem Bereich. Bei der drittgrößten Gruppe handelt es sich um 38 Repräsentant*innen der evangelischen und katholischen Kirche (7 Prozent). Allein Vertreter*innen dieser drei Gruppen (Politik, Wirtschaft/ Gewerkschaft, Kirche) besetzen damit über die Hälfte (56 Prozent) der verfügbaren Sitze.
Migration: Als würde der Vertreter der Milchindustrie für die gesamte Wirtschaft sprechen
Vertreter*innen gesellschaftlich benachteiligter Gruppen sind in Rundfunkräten hingegen nur selten anzutreffen. Die einzige Gruppe, die in fast jedem Gremium über einen Sitz verfügt, sind Menschen mit Migrationshintergrund. Ausnahmen sind der SWR-Rundfunkrat mit zwei solchen Vertretungen und der Rundfunkrat der Deutschen Welle, der als einziges Gremium keinen Sitz für Eingewanderte einräumt.
Dieses Ergebnis erscheint nur auf den ersten Blick positiv, schließlich sind Menschen mit Migrationshintergrund nicht nur eine sehr große Gruppe (27 Prozent der Bevölkerung), sondern auch eine sehr diverse. Kein Gesetzgeber käme auf die Idee, die gesamte Wirtschaft durch einen einzelnen Vertreter des Verbandes der Milchindustrie repräsentieren zu lassen. Für Gruppen unserer Einwanderungsgesellschaft ist das hingegen der Normalfall. Organisationen, die einzelne migrantische Gruppen wie Russland- oder Türkeideutsche, Eingewanderte aus Osteuropa, Kurd*innen, Asiatisch-Deutsche Communities, Geflüchtete oder die zweite und dritte Generation eingewanderter Familien repräsentieren, finden sich in Rundfunkräten nicht.
Auch die nationale Minderheit Rom*nja und Sinti*zze ist kaum vertreten. Trotz jahrelanger Bemühungen durch den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und seiner Landesverbände bringt sie es lediglich auf einen einzigen Sitz im SWR-Rundfunkrat. Dass auch dieser nur zustande kam, weil ein Politiker freiwillig auf seinen Sitz verzichtete, berichtet Jacques Delfeld. „Es heißt immer ‚gesellschaftlich relevante Gruppierungen‘. Aber viele sehen Sinti und Roma und auch andere Minderheiten leider nicht als besonders relevant an“, sagt Delfeld, der seit 2014 Rom*nja und Sinti*zze im SWR-Rundfunkrat vertritt.
Muslim*innen: Trotz medialer Dauerpräsenz kaum vertreten
Auch religiöse und andere weltanschauliche Minderheiten verfügen in Rundfunkräten kaum über Sitz und Stimme. Vertretungen für hinduistische, buddhistische oder jesidische Glaubensgemeinschaften gibt es genausowenig wie für christliche Freikirchen oder orthodoxe Gemeinden. Mit der Humanistischen Union findet sich im Rundfunkrat von Radio Bremen die einzige Vertretung konfessionsloser Menschen.
Angesichts des hohen Bevölkerungsanteils, aber auch der hohen Präsenz in der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung überrascht insbesondere die Abwesenheit muslimischer Vertretungen. Lediglich in den Gremien von HR, Radio Bremen, SWR und des ZDF gibt es entsprechende Sitze. Dass muslimische Repräsentant*innen auch in jenen Gremien fehlen, die Bevölkerungen mit großem muslimischen Bevölkerungsanteil repräsentieren (zum Beispiel bei WDR oder RBB), überrascht besonders.
Positiv hingegen: Im Rundfunkrat von Radio Bremen gibt es neben einem muslimischen einen weiteren alevitischen Sitz. Im HR-Rundfunkrat wechselt sich die Alevitische Gemeinde mit DITIB und Ahmadiyya-Gemeinde ab. „Wichtig ist: Als Mitglied des Rundfunkrats vertritt man nicht die Interessen der Organisation, die einen entsendet, sondern die Allgemeinheit“, erklärt Khola Hübsch, die derzeit für die Ahmadiyya-Gemeinde im HR-Rundfunkrat sitzt. „Das heißt auch, dass man als Repräsentant des Verbandes diesem keine Rechenschaft schuldig ist und diesem nicht loyal sein muss.“
LSBTIQ*: mühsames Engagement für Repräsentation
Dass Rundfunkräte zu - wenn auch sehr langsamen - Veränderungen fähig sind, zeigt die Zunahme an LSBTIQ-Vertretungen in den vergangenen Jahren. Gab es bis 2015 keinen einzigen solchen Sitz, sind queere Vertreter*innen heute in sechs von insgesamt zwölf Gremien präsent (Deutschlandradio, MDR, Radio Bremen, SR, WDR, ZDF). Grund hierfür ist vor allem das politische und öffentliche Engagement des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) und anderer queerer Organisationen – auch wenn diese im Fall der jüngsten Reformen bei BR, RBB und NDR bisher nicht zum Erfolg führten.
Aber nicht nur fehlender politischer Wille, auch die ungleiche Ressourcenverteilung erschwert LSBTIQ*- und anderen zivilgesellschaftlichen Vertreter*innen die Gremienarbeit. Denn während Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und Kirchen häufig durch eigene Mitarbeiter*innen oder ganze Büros unterstützt werden, müssen Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen die ehrenamtliche Arbeit im Gremium neben ihrem Hauptjob nach Feierabend schultern. „Deshalb liegen Freud und Leid sehr nah beieinander“, sagt René Mertens, Bund-Länder-Koordinator des LSVD. „Natürlich freust du dich, wenn deine Organisation benannt wird, in den Rat zu gehen. Aber trotzdem musst du dich im zweiten Schritt fragen: Wer kann die Vertretung übernehmen, welche personellen Ressourcen haben wir?“
Menschen mit Behinderung: mehr als mitvertreten sein
Wie mühsam der Einsatz für einen Sitz sein kann, weiß auch Stefan Schenck vom Berliner Landesbeirat für Menschen mit Behinderung: „Seit über 20 Jahren kämpfen wir für einen eigenen Sitz. Wir haben uns an die Senatskanzleien und die medienpolitischen Sprecher*innen der Fraktionen gewandt. Wir haben Presseerklärungen gemacht. Es gab einmal eine Demonstration vor dem RBB-Rundfunkrat und vieles mehr. (...) Trotzdem ist der Erfolg bisher ausgeblieben.“
Neben dem Rundfunkrat des RBB verfügen aktuell auch die Aufsichtsgremien von Deutschlandradio, Deutsche Welle, HR und NDR derzeit über keine eigene Vertretungen für Menschen mit Behinderung. Forderungen werden teils mit der der Begründung zurückgewiesen, dass die Anliegen von Menschen mit Behinderung bereits durch Wohlfahrtsverbände wie Diakonie und Caritas in den Rundfunkräten vertreten werden. Dieses Argument lehnen viele Vertreter*innen von Menschen mit Behinderung allerdings ab.
Nicht mehr nur alte weiße Männer
Rundfunkräte galten lange Zeit als Veranstaltungen alter weißer Männer. Diese Zeiten sind vorbei – zumindest, was das Geschlecht angeht. 302 Rundfunkräte sitzen 235 Rundfunkrätinnen und einem nicht-binären Rundfunkratsmitglied gegenüber. Das macht einen Anteil an Frauen und nicht-binären Personen von 44 Prozent. Grund dafür, dass sich das Geschlechterverhältnis in den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat, sind Vorgaben zur Geschlechterparität in den entsprechenden Gesetzen und Staatsverträgen. Ausreißer nach unten gibt es dennoch noch: BR (36 Prozent), ZDF (33,3 Prozent), RBB (31 Prozent) und MDR (28 Prozent).
Paritätsregelungen führen allerdings nicht zwangsläufig auch zu einer gerechten Sitzverteilung. „Im Bayerischen Rundfunkgesetz findet sich leider nur eine Soll-Vorgabe“, sagt Sanne Kurz, die für die Bayerischen Grünen im BR-Rundfunkrat sitzt. „Ein Mann soll auf eine Frau folgen und andersherum. Das bedeutet aber auch, dass Frauen durch Männer ersetzt werden, was Quatsch ist, weil es der Parität überhaupt nicht hilft. Außerdem ist es möglich, sich mit einer einfachen Erklärung von dieser Vorgabe zu befreien. So wird es nie Parität der Geschlechter geben.“
Deutlich überaltert sind alle untersuchten Gremien. 58 Jahre ist das durchschnittliche Rundfunkratsmitglied alt. Auf jede Person unter 40 Jahren kommen zwei, die älter sind als 70. Menschen unter 35 sucht man in vielen Gremien vergeblich. Viele unserer Gesprächspartner*innen haben das Fehlen von jungen Perspektiven als das größte Manko beklagt.
Bendix Lippe vertritt im ZDF-Fernsehrat „Senioren, Familie, Frauen und Jugend“ und ist mit 25 Jahren das jüngste Gremienmitglied aus der Untersuchung. Neben dem hohen Altersdurchschnitt kritisiert er auch die hohe Arbeitsbelastung und fehlende Unterstützung: „Wir bekommen normalerweise nicht einmal Urlaub für die Fernsehratstage. Stattdessen bekomme ich jede Weihnachten vom ZDF ein handgeblasenes Mainzelmännchen. Das kann ich dann an meine Schwiegereltern verschenken. Lieber wäre mir aber, man würde mit dem Geld, das man bei 60 Leuten allein an Porto sparen könnte, mal eine*n Gutachter*in bezahlen oder einen Workshop machen“, sagt Lippe.
Wie es besser geht
Die Gespräche mit Lippe und anderen zeigten uns: Viele Rundfunkratsmitglieder sind engagierter und kritikfreudiger als ihr Ruf. Das Klischee von den grauen Gremlins, die kommentarlos abnicken, was Intendanz und Politik ihnen vorlegen, können wir auf Basis unserer Untersuchung nicht bestätigen. Im Gegenteil: Die offenste Kritik an System und Arbeitsweise von Rundfunkräten formulierten deren eigene Mitglieder.
Dasselbe gilt für Ideen, wie es besser geht: Diese reichen von einer bessere Ressourcenausstattung und Schulungen für die Gremienmitglieder, über mehr Offenheit und Transparenz nach außen bis zur Einbeziehung ganz neuer gesellschaftlicher Akteure. „Warum nicht mal ‚Fridays for Future‘“, fragt Jürgen Bremer, Professor für Medienrecht an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und bis 2021 Mitglied im WDR-Rundfunkrat.
Auch dafür, wie mehr Vielfalt gelingen kann, bieten die Rundfunkräte selbst die besten Beispiele. Rotierende Sitze, Losverfahren, Plätze, für die sich Organisationen nach ein oder zwei Amtszeiten neu bewerben können: Es existieren zahlreiche Modelle, um auch kleineren gesellschaftlichen Gruppen Teilhabe zu ermöglichen, ohne die Gremien ins Uferlose wachsen zu lassen. Sie müssen nur genutzt werden. Mit dem Rundfunkrat von Radio Bremen ist ausgerechnet eines der kleinsten auch eines der vielfältigsten Gremien unserer Untersuchung. Gerechte Repräsentation scheitert weder am Platz im Gremium noch am veralteten System „Rundfunkrat“. Sie scheitert am fehlenden politischen Willen.
Über die Untersuchung
Die Untersuchung „Welche Gesellschaft soll das abbilden? Mangelnde Vielfalt in Rundfunkräten und was dagegen hilft“ wurde durchgeführt von den Neuen Deutschen Medienmacher*innen. Beteiligte Organisationen sind Leidmedien (Sozialhelden e. V.), der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD), der MaLisa Stiftung, ProQuote Medien, und der Queer Media Society. Die Neuen deutschen Medienmacher*innen werden freundlich unterstützt von der Google News Initiative. Die ganze 150-seitige Untersuchung gibt es auf der Website der „Neuen deutschen Medienmacher*innen“.
Ich halte es für eine »eine weiße, kapitalistische, patriarchale Vorstellung«, dass nur Menschen, die offensichtlich behindert sind – weil sie z.B. im Rollstuhl sitzen oder mit einem Blindenstock durch die Straßen laufen – behindert sind und werden (m.E. ist »Behinderte« das bessere Wort, weil der Rollstuhlfahrer von der Treppe behindert wird…ich schweife ab).
Oder dass man Menschen einen Migrationshintergrund ansieht. Ab wann ist ein Migrationshintergrund soweit weg, dass er eine Menschen nicht mehr definiert? Zwei Generationen? Fünf? Die Großeltern meiner Kinder stammen aus Polen, der Tschechei, der Slowakei und Bayern. Haben sie eine Migrationshintergrund?
Oder dass man sich öffentlich bekennen muss, das man schwul, lesbisch, queer, trans- oder intersexuell ist. Oder zu seiner Religion.
Das nächste Missverständnis ist, dass nur Ständevertreter:innen ihre Klientel vertreten könnten. Und sollten. Das geht damit los, dass manche Verbände eine eigene Agenda haben und sich um die zu Vertretenden nicht mehr scheren. Die Petrolheads im VDA und quasi alle Bauernverbände sind das offensichtlichste Beispiel.
Diversität und Inklusive sind die Schlagworte der Zeit. Bei meinem Arbeitgeber – einem weltweiten marktführenden Dienstleistungsunternehmen – wird seit geraumer Zeit darauf viel Wert gelegt. Auf Social Media benutzen wir gendergerechte Sprache, LBTQAI+ wird nach außen und innen wie eine Monstranz vor sich her getragen, bei Ausschreibungen müssen wir Zahlen, die wir aufgrund des Datenschutzes richtigerweise nicht erheben dürfen, nennen. Hat sich dadurch etwas verbessert? Wir hatten vor 25 Jahren einen bekennenden schwulen Deutschland-Geschäftsführer. Und fast 30 % weibliche Führungskräfte, diese Quote werden wir frühestens 2024 wieder erreichen.
Mein Team – fünf weiße, deutsche, christlich getaufte CIS-Männer zwischen 37 und 64 – sind divers und inklusiv. Es wird ihnen aber aufgrund der sichtbaren Attribute abgesprochen.
Ein Gegenbeispiel ist die uns alle bekannte lesbische Co-Parteivorsitzende, die im Bundestag gegen Homosexuelle und Ausländer hetzen, während sie in der Schweiz mit einer Sri-Lankesin verpartnert ist und gemeinsam Kinder adoptiert haben.
Trotzdem halte ich es für problematisch, solche Daten abzuleiten und ihnen diese Aussagekraft zuzuschreiben. Auch ein von der CSU entsandter weißer, alter CIS-Mann kann sich imFernsehrat für die Belange von Migranten, Homosexuellen und Behinderten einsetzen.
Ich behaupte nicht, dass die Besetzungsverfahren für Fernsehräte unproblematisch sind, dieses reine Checkboxenabhaken ist aber auch nicht zielführend. Wo ist der Haken für konfektionslose Menschen, die heutzutage unbestreitbar eine gesellschaftlich relevante Gruppierung sind? Geht es uns etwas an, welche Mitglieder:innen konfessionslos sind?
In einer perfekten Welt wären die »Ständevertreter:innen« überflüssig und die jeweiligen Zuschauer:innen könnten einfache Bürger:innen in diese Gremien berufen. Ich träume.
Diversität ist wichtig, die derzeitige Zusammensetzung der Rundfunkräte ist problematisch, und mit dem Impetus des Artikels stimme ich mehr oder weniger vollständig überein. Leicht irritierend finde ich die Überschrift, weil sie mit dem Wort „vertreten“ nahelegt, dass in einem divers zusammengesetzten Gremium die einzelnen Mitglieder jeweils nur diejenigen vertreten, die sie im Sinn der Diversität repräsentieren. Das finde ich nicht richtig. Beispiel: Jedem derartigen Gremium sollten normalerweise Frauen angehören, aber die Frauen, die dann da sitzen, vertreten nicht dadurch, dass sie Frauen sind, die Belange von Frauen und niemand anderem, und die Nicht-Frauen in dem Gremium sind auch nicht nur für die Belange von Nicht-Frauen da. Es wäre meiner Meinung nach nicht der Sinn von Diversität, sie so am Individuum festzumachen, nach dem Motto, XY ist jetzt hier der Immigranten-Heini. Diversität hat meiner Meinung nach eher den „stochastischen Vorteil“, dass in divers zusammengesetzten Gremien die Belange diverser Gruppen (die sich ja auch miteinander überschneiden können, man kann ja zum Beispiel eine muslimische Landwirtin sein) überhaupt ne realistische Chance haben, in dem Gremium wahrgenommen zu werden.
Ich glaub, so ist die Überschrift auch nicht gemeint, aber ich wollt es mal anbringen.
Vielen Dank, Eman, für diesen wichtigen Hinweis!
Leider ist dieser absolut treffend, denn in der Tat ist diesem penetranten “Minderheiten“-Geschwätz genau jene Denkweise inhärent, die so tut, als wäre Identität durch solche Merkmale charakterisiert, wo in Wahrheit ständig zahlreiche “Mitgliedschaften“ (wie A.Sen das einmal in seinem Büchlein “Identität und Gewalt“ nannte) gleichzeitig und nebeneinander bestehen.
Wenn erst einmal für alle die Schubladen ein Repräsentant durchgesetzt ist, geht der Zirkus in die nächste Runde. Denn Migranten mit ungewöhnlichen sexuellen Orientierungen sind zB grundverschieden von “normalen“ Migranten ebenso wie von dem Gros sexuell spezieller Menschen ohne Migrationshintergrund. DAS muss gesondert repräsentiert werden usw. usf.
Nehmen wir einmal das aktuelle Beispiel Patrizia Schlesinger vom RBB. Hätten da mehr diverse Personen im Rundfunkrat die Verschwendung verhindert?
@ #4
Auch wenn die Frage ernst gemeint sein sollte, wird man sie nie beantworten können. Das ist also eine sinnlose Spekulation.
Und vor allem: Das ist nicht das, worum es bei Diversität geht. (Um mal das Offensichtliche zu sagen, damit Kommentar #4 nicht einfach so stehenbleibt.)