Theo Sommers „Zeit“-Kolumne

Was Henri Nannen und Erich Honecker gemeinsam haben

Wenn Theo Sommer für die „Zeit“ seine Kolumne schreibt, dann geht es immer um die ganz großen Themen. China, Bundeswehr, Katar: Sommer sucht den Blick von oben auf das große Ganze, holt weit aus und formuliert kenntnisreich klare Forderungen. Der mittlerweile 92 Jahre alte ehemalige Herausgeber der Wochenzeitung scheint die Rolle seines früheren Kollegen Helmut Schmidt übernommen zu haben, mit der Gelassenheit und Autorität eines langen Lebens auf die Gegenwart zu blicken.

Manchmal aber fällt er aus dieser abgeklärten Rolle heraus.

Ausriss aus der Wochenzeitung "Die Teit" vom 7.7.2022
Sommer über Nannen (und sich selbst) in der „Zeit“ Ausriss: „Die Zeit“

Vergangene Woche setzte sich Theo Sommer ausgiebig mit den Vorwürfen auseinander, die vom öffentlich-rechtlichen YouTube-Format „Strg_f“ gegen den Verleger und „Stern“-Herausgeber Henri Nannen (1913-1996) erhoben worden waren. Nannen war dem Bericht nach im „Dritten Reich“ in einer Propagandakompanie der Waffen-SS in Norditalien in leitender Position tätig gewesen und hatte zutiefst antisemitische und rassistische Flugblätter und Publikationen zu verantworten.

Obwohl das meiste, was „Strg_f“ berichtete, zumindest für Historiker:innen nicht neu war, schlug der Bericht hohe Wellen: Nachfahren Nannens fordern über den Medienanwalt Christian Schertz, dass der Beitrag redaktionell geändert und teilweise offline genommen wird, was der NDR aber weitgehend ablehnt. Außerdem wurde der renommierte „Nannen-Preis“ zumindest für das Jahr 2022 in „Stern Preis“ umbenannt, über den Namen der Henri-Nannen-Schule soll ein Gremium bis Jahresende entscheiden.

Die „Hundertfünfzigprozentigen“

Theo Sommer geht das offenbar viel zu weit: Er sieht das Lebenswerk des „Stern“-Herausgebers und Kunststifters Nannen in Gefahr durch die Selbstgerechtigkeit der in die Bundesrepublik geborenen „Hundertfünfzigprozentigen“, die sich einbildeten, „sie wären auf jeden Fall im Widerstand gewesen“. Ja, Nannen habe „widerliche“ Schriften und Karikaturen zu verantworten, Kriegsverbrechen seien das aber nicht gewesen (was auch niemand behauptet). Viel wichtiger sei, dass er nach dem Krieg eine glaubhafte innere Umkehr durchgemacht habe, dass er daran mitgearbeitet habe, die Demokratie in Deutschland zu etablieren und somit eben doch ein wichtiges Vorbild sei.

Sommers Verve kommt nicht von ungefähr: Im Nationalsozialismus unterhalb der Haupttäterschwelle mitgemacht zu haben, ist eines seiner Lebensthemen. Das liegt daran, dass er, 1930 geboren, ab 1942 Schüler der Adolf-Hitler-Schule in Sonthofen im Allgäu war. Auf diese Schulen kam nur, wer von HJ- oder NSDAP-Führern vorgeschlagen wurde, „rassisch“, gesundheitlich und erblich „einwandfrei“ war und dessen Familie sich für Partei und „Volksgemeinschaft“ engagierte. Die künftigen Absolventen sollten nach der Schule auf den drei NS-Ordensburgen zur Partei-Elite ausgebildet werden. Kurz: Theo Sommer war als Teenager dafür vorgesehen, später ein hochrangiger Nazi zu werden.

Sommer hat das nie verschwiegen, er ist mit bemerkenswerter Offenheit damit umgegangen, wie schwer es ihm nach 1945 fiel, sich vom Glauben an den Führerstaat abzuwenden; gleichzeitig möchte er die Zeit auch nicht verdammen: Auch im hohen Alter blickt Sommer noch durchaus wohlwollend auf seine Zeit im Nazi-Internat und auf die Werte, die ihm dort vermittelt wurden:

„Es wurde von uns verlangt, dass wir Anforderungen an uns stellen, dass wir nicht leicht klein beigeben, dass wir ehrlich sind, dass wir Kameradschaft üben, also alles Tugenden, heute sagt man Teamgeist statt Kameradschaft, Fähigkeit zusammenzuarbeiten, sich einzuordnen, aber auch anderen Anleitungen zu geben. Also, ich habe nichts zu bereuen.“

Und so geht es auch in seiner Verteidigung des Rufes von Henri Nannen sehr viel um ihn selbst: Er beginnt mit dem von Helmut Kohl populär gemachten Begriff von der „Gnade der späten Geburt“, die es Kohl (und dem gleichaltrigen Sommer) ermöglicht habe, keine individuelle Schuld auf sich zu laden. Kohl hatte diese Formulierung verwendet, als er in den 1980er-Jahren nach Israel reiste: Er, der immerhin noch eine Ausbildung an Flugabwehrkanonen bekommen hatte, nahm für sich in Anspruch, unbefangener mit Vertreter:innen des jüdischen Staates reden zu können, weil er ja bei Kriegsende erst 15 Jahre alt war – was viele der Israelis ganz anders sahen. Sommer hingegen schließt sich dem Gedanken an: Er empfindet es als Gnade, dass das System von den Alliierten besiegt wurde, bevor er zum Täter werden konnte.

Sommer-Rückblick: Was vor 2.425 Jahren geschah

Von diesem sehr persönlichen Auftakt ausgehend spannt Sommer einen großen Bogen dazu, wie man mit einer Gesellschaft umgehen soll, die aus einem Unterdrückungssystem kommt. Er bemüht dazu die Antike, namentlich den griechischen Feldherrn Thrasybulos, der vor 2.425 Jahren Athen von einer oligarchischen Terrorherrschaft befreite, danach aber nicht, wie durchaus erwartbar, alle Feinde bestrafte oder tötete, sondern weitreichende Amnestien erließ, die zur Befriedung der Stadt beitrugen.

Der ehemalige "Zeit"-Herausgeber Theo Sommer
Theo Sommer Foto: Imago / Future Image

Sommer findet das vorbildlich und entsprechend die Entnazifizierung, wie sie ursprünglich geplant war, als Problem. Bei aller Zurückhaltung des gealterten Ex-Herausgebers eskaliert er dabei sprachlich und bezeichnet die „schematische“, „justizförmige“ Entnazifizierung in den drei westlichen Besatzungszonen als „Säuberung“ – ein Begriff, der gerade im Kontext des Nationalsozialismus eindeutig mit Unrechtsherrschaft verknüpft ist. Sommer ignoriert die auch weiterhin auf deutschem Boden lebenden zahlreichen Opfer des Nationalsozialismus, sie kommen in der gesamten Kolumne nicht vor. Und er behauptet, die Deutschen hätten sich 1945 geradezu automatisch und unmittelbar von ihrem Irrweg verabschiedet:

„Eines waren sie [Die Deutschen] jedoch in ihrer Mehrzahl nicht mehr: Nazis. Es gab keine Trauer um Adolf Hitler; niemand baute dem toten Führer Altäre. Die Faszination, die das Hakenkreuz auf ein ganzes Volk ausgeübt hatte, war verflogen, verweht die Asche des großen Verführers im Garten der Reichskanzlei. Und es gab auch keinen Partisanenkrieg gegen die Sieger. Vorbei war einfach vorbei. Es war wie bei einer elektrischen Kochplatte: Wenn der Strom abgeschaltet wird, erkaltet sie.“

Die Vorstellung, in Deutschland habe niemand mehr um Hitler getrauert, widerspricht dem Forschungsstand eklatant: Das somit offensichtliche Ende des Reiches kam für viele Deutsche immer noch als Schock, und auch wenn Suizid als Ursache für Adolf Hitlers Tod zunächst geheim gehalten wurde, fanden sich viele Nachahmer im ganzen Restreich. Dass keine Altäre gebaut wurden, ist angesichts der Situation in den letzten Kriegstagen kaum verwunderlich. Aber die Faszination, die Idee blieb lange wirkmächtig.

Es gab keine alles zurücksetzende Stunde Null

Noch 1948 antworteten in repräsentativen Umfragen 57 Prozent der Deutschen, der Nationalsozialismus sei „eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde“, 32 Prozent hielten Hitler für wahlweise einen „vorzüglichen Staatsführer“ oder den „größten Staatsmann des Jahrhunderts“. Das ist zwar weit von den Beliebtheitswerten der unmittelbaren Vorkriegszeit entfernt, hat aber mit einer erkalteten Stromplatte auch nichts zu tun. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hatte eben keine alles zurücksetzende Stunde Null, wie Sommer suggeriert.

Als Kronzeugen führt er den evangelischen Pfarrer und NS-Widerständler Martin Niemöller an, der tatsächlich seinen Pfarrern jede Mitwirkung an Entnazifierungsverfahren untersagt hatte. Wenn das jemand aus dem Widerstand sagt, muss es wohl stimmen, suggeriert Sommer, er erwähnt aber nicht, dass Niemöller zwar den Nationalsozialismus ablehnte, mit Demokratie und westlichem Liberalismus aber auch wenig anzufangen wusste.

Sommers zweiter Kronzeuge ist Eugen Kogon, ebenfalls lange KZ-Häftling und einer der ersten, der über die Verbrechen in den Lagern publizierte. Sommer zitiert Kogons Ablehnung der Entnazifizierungsverfahren so, dass es dessen Logik nicht darauf ankomme, „ob einer früher Nazi war, sondern nur darauf, ob er noch jetzt den alten Ideen anhing.“ Diese Zusammenfassung ist aber so nicht korrekt.

Liest man Kogons Artikel aufmerksam, wird klar, dass es ihm um den Umgang mit der breiten Schicht der Mitläufer geht, nachdem man sich um die Täterinnen und Täter gekümmert, sie verurteilt und bestraft hat. Kogon nennt das die „erste Etappe“ und wähnt sich 1947, sehr optimistisch, schon auf dem zweiten Abschnitt und macht sich Gedanken darüber, wie man die Deutschen zu einem demokratischen Volk macht – durch Überzeugung, dass die Demokratie besser ist. Konkret begrüßte Kogon, dass die als „Mitläufer“ eingestuften Deutschen wieder beschäftigt werden durften. Aber er machte sich keine Illusionen darüber, dass noch viele unter ihnen weilten, für die Vergeben und Vergessen nicht in Frage kam. Kogons Kritik zielte darauf ab, dass die Entnazifizierung Haltungen und nicht Taten kriminalisierte:

„Es ist nicht Schuld, sich politisch geirrt zu haben. Verbrechen zu verüben oder an ihnen teilzunehmen, wäre es auch nur durch Duldung, ist Schuld. Und Fahrlässigkeit ist ebenfalls Schuld.“

Sommer scheint davon auszugehen, dass Henri Nannen, der für die Waffen-SS judenfeindliche und rassistische Propaganda betrieb, zu den unpolitischen Mitläufern gehörte, zu denen, die sich politisch geirrt hatten.

Der Verantwortung entzogen

Tatsächlich war Nannen selbst offenbar klar, dass seine NS-Karriere seinen Plänen im Nachkriegsdeutschland entgegenstand, weshalb er seine Propagandatätigkeit im Entnazifizierungsverfahren nicht erwähnte. Nur so konnte er als „Entlasteter“ eingestuft werden und eine Presselizenz von der britischen Militärregierung erhalten.

All der Wohlstand, die demokratische Kultur und das Kunstmäzenatentum von Henri Nannen fußen also darauf, dass er sich 1946 der Verantwortung für sein eigenes Handeln entzog. Das tat er nicht allein, viele Deutsche haben so gehandelt, und erst die geschichtswissenschaftliche Forschung der vergangenen 20 Jahre hat wirklich aufgearbeitet, wie tief verwurzelt eine NS-Täterschaft auch noch in der deutschen Nachkriegsgesellschaft war, wie dünn die demokratische Decke und dass die Bundesrepublik eben nicht die Vorbilddemokratie war, für die sie sich lange hielt.

Bei Sommer kommen solche neueren Erkenntnisse und Forschungsstände nicht vor. Das liegt wahrscheinlich daran, dass er weite Teile seiner Kolumne abgeschrieben hat – bei sich selbst.

Vor 29 Jahren, anlässlich der Entlassung Erich Honeckers aus dem Gefängnis, schrieb Sommer in der „Zeit“ den Artikel „Lieber lernen als strafen“. Sommer plädiert dort dafür, nur die Hauptverantwortlichen der DDR und anderer Unrechtsregime zu verurteilen und den Rest von der Demokratie zu überzeugen, zu versuchen, sie alle in Arbeit zu bekommen, und sich ansonsten mit individuellen Schuldzuweisungen zurückzuhalten.

Sommer tut das mit Rückgriff auf den antiken griechischen Feldherrn Thrasybulos einerseits und mit den beiden Entnazifizierungsgegnern Niemöller und Kogon andererseits. Große Teile der beiden Texte ähneln sich stark, manchmal sind nur wenige Sätze umgestellt, der Absatz zur quantitativen Dimension der Entnazifierungsverfahren im Nachkriegsdeutschland ist eins zu eins übernommen.

Sommer präsentiert also 2022 den Meinungs- und Forschungsstand aus einer Zeit, als in der Bundesrepublik noch Züge der Deutschen Reichsbahn fuhren. Immerhin kann man ihm dabei nicht vorwerfen, einseitig zu sein: Theo Sommers Imperativ des vergebenden Vergessens gilt nicht nur für NS-Mitläufer, sondern auch für jene aus der DDR. Und für Apartheid-Südafrika. Und El Salvador. Nur die ganz großen Themen eben.

4 Kommentare

  1. Der Spruch mit der „späten Geburt“ ist ziemlich daneben, auch wenn der 15jährige Flakhelfer moralisch woanders steht als der erwachsene Mann, der den 15jährigen zum Flakhelfer macht.
    Sommer musste wohl über seine Vergangenheit nicht lügen, Nansen schon, um Erfolg zu haben. DAS scheint mir ja schon ein relevanter Unterschied zu sein, was das Thema Vergebung betrifft.

    Und so ganz reflektiert ist Sommer ja auch nicht: Teamgeist ist eine Sekundärtugend, mit Sekundärtugenden kann man auch ein KZ betreiben, ergo brachten die Nazi den Jungs in der Kaderschmiede Teamgeist bei. Wen überrascht das?

  2. Der Beitrag ist keine Medienkritik. Herr Hoffmann kritisiert inhaltlich die Auffassung von Theo Sommer. Herr Hoffmann hat da durchaus berechtigte Kritik an Sommers Wertung der Sicht auf die Dinge. Aber Sommers Auffassung kann sicherlich als legitime Sicht so stehen und wurde zu Recht von der ZEIT veröffentlicht. Manche Allgemeinerung, die Herr Hoffmann dem Artikel von Herrn Sommer zuschreibt, beantwortet Herr Hoffmann ebenfalls mit manchen Verallgemeinerungen, die nicht zutreffen. Es gab schon stärkere Artikel bei Übermedien.

  3. @#2: Warum ist eine Kritik, die sich auf den Inhalt eines Artikels bezieht, keine Medienkritik?

    Für mich liest sich Sommers Artikel wie einer von diesen Belehrungen, die alte Männer jungen gegenüber gerne äußern: Du weißt doch gar nicht wie das damals war. Duuuu bist ja in einer ganz tollen Zeit geboren und sorgenfrei im Schlaraffenland aufgewachsen. Wenig mehr als Wichtigtuerei also.

  4. Okee, ich habe das wirklich als Kritik daran gelesen, dass Sommer zwischen Nannen und Honecker so wenig Unterschiede macht, dass er teilweise den eigenen Text recyclelt.
    Dass Sommer sich auch selbst rechtfertigt, wenn er über Honecker und Nannen schreibt, mag indirekt darauf hinauslaufen, dass „die Jugend von heute“ nicht weiß, wie das damals war, aber bei Sommer zumindest kommt mir das nicht so herablassend vor.

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