Der Autor
Florian Kappelsberger ist Praktikant in der Redaktion von Übermedien. Er hat Geschichte und Soziologie studiert, arbeitet unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“, das Stadtmagazin „Mucbook“ und die Wiener Wochenzeitung „Falter“.
Seit rund einer Woche gilt im öffentlichen Nahverkehr deutschlandweit das 9-Euro-Ticket. Eingebracht wurde es von den Grünen, um der Journalismusbranche in der Krise eine kurzfristige Entlastung zu bieten – und zwar in Form eines neuen Genres, das seit vergangenem Mittwoch die Zeitungsspalten erobert: die 9-Euro-Ticket-Reportage.
Ob „Der Spiegel“, „Süddeutsche Zeitung“ oder „Hamburger Abendblatt“: Jedes Medienhaus, das etwas auf sich hält, hat seit 1. Juni Autor:innen (wahlweise auch Praktikant:innen oder Volontär:innen) in den nächsten Regionalzug gesetzt, um eine launige Reportage einzufangen. Optional wurden auch Social-Media-Kanäle und eigens eingerichtete Liveticker bespielt, damit die Menschen zuhause das ÖPNV-Abenteuer in Echtzeit mitverfolgen können.
Für alle, die etwas spät dran sind, aber auch eine eigene und völlig einzigartige 9-Euro-Ticket-Reportage schreiben wollen, haben wir einen Baukasten mit den wichtigsten Elementen des neuen Genres vorbereitet.
Höchste Zeit. pic.twitter.com/fLRqYvj5Es
— Alexander Svensson (@wortfeld) June 5, 2022
Springen Sie auf den Zug auf, ehe er abgefahren ist. Zunächst braucht es eine knackige Überschrift, am besten natürlich mit einem Zug-Wortspiel. Ob „In einem Zug“ („Stern“) oder „In vollen Zügen genießen“ (taz) – die Möglichkeiten sind nahezu endlos.
Florian Kappelsberger ist Praktikant in der Redaktion von Übermedien. Er hat Geschichte und Soziologie studiert, arbeitet unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“, das Stadtmagazin „Mucbook“ und die Wiener Wochenzeitung „Falter“.
Anschließend sollte man sich überlegen, welche Strecke die Reportage absteckt. Zwar liegen lokale Ausflugsziele nahe, andererseits wirken Fahrten unter zwölf Stunden ambitions- und reizlos. SZ und FAZ machen es vor: Sie schickten Reporter von München nach Sylt, die ultimative „Endstation Sehnsucht“ (FAZ).
Auch bietet es sich an, das Ganze mit einer semi-ironischen Einordnung zum journalistischen Ansturm auf die Regionalzüge zu begleiten, gerne mit Verweis auf den Twitter-Diskurs oder entsprechende Postillon-Meldungen. Damit lässt sich zugleich elegant die Frage umschiffen, wozu Leserinnen und Leser noch eine Reportage aus dem ÖPNV-Alltag brauchen, den nicht wenige von ihnen aus eigener Erfahrung zu Genüge kennen.
„Wer sich in diesen Tagen auf die Reise macht, einmal quer durchs Land, von Süden nach Norden, der gilt, je nach Sichtweise als abenteuerlustig, als wahnsinnig – oder ist von Beruf Journalist.“
Marcel Laskus, SZ
Sitzt der Reporter erstmal im Zug, kann es endlich losgehen. Seien es mitgehörte Dialoge, Eindrücke vom Wetter oder Szenen, die an die eigene Kindheit erinnern: Jede noch so kleine Beobachtung ist wertvoll für die Leserinnen und Leser zuhause. Der Liveticker bietet natürlich die Chance, besonders in die Tiefe zu gehen. So erfährt man beim „Spiegel“ in Echtzeit:
„Johannes, der seinen Mitschüler:innen eben den Hotspot spendiert hat, frohlockt: »Digga, ich hol mir was zu essen.« Problem: Außer einem Snackautomaten ist da draußen nicht viel, Johannes bleibt sitzen.“
Atemlos.
Um die Provinz-Exotik restlos auszuschöpfen, empfiehlt es sich unbedingt, auf schrullige Ortsnamen hinzuweisen, die einem unterwegs begegnen. Von Schmilka-Hirschmühle über Neudietendorf bis hin zu Langenprozelten – nahbarer wird es nicht. Diese Zuglandschaft lässt sich dann mit einem Repertoire von vertrauten Figuren bevölkern. Der entnervte Schaffner hat in nahezu jedem Text einen festen Auftritt, in seiner Beliebtheit nur noch übertroffen von den Grüppchen kultiger Punks auf dem Weg nach Sylt.
Bei alledem darf auch die Bahn-Wut als beliebtester deutscher Volkssport nicht zu kurz kommen. Fehlende Steckdosen, kaputte Klimaanlagen und natürlich unpünktliche Züge: Die 9-Euro-Ticket-Artikel zeichnen kein rosiges Bild vom Zustand des öffentlichen Nahverkehrs. Im „Spiegel“-Liveticker konnte sogar mitgefiebert werden, ob der Reporter seinen Anschlusszug trotz Verspätung noch erreicht – inklusive innerem Monolog:
„Nur wenige Minuten für den Umstieg. Warum habe ich mich nicht direkt vor der Tür positioniert? Die anderen Fahrgäste sind mir da einen Schritt voraus. Gleich heißt es: rennen.“
Nervenkitzel pur.
Doch nicht nur die Mängel der Bahn, auch deren natürliche Fauna sind fester Bestandteil des 9-Euro-Abenteuerberichts. „Jemand hört so laut Musik, dass das ganze Abteil mithören muss“, so beklagt es zwischen Leinefelde und Neudietendorf der Reporter des „Hamburger Abendblatts“. „Ein anderer raschelt permanent mit einer Brötchentüte. Und mein Vordermann riecht nach Zigarette.“
Nun könnte man einwenden, dass diese banalen Ärgernisse des Bahnfahrens für viele Menschen bekannt, wenn nicht alltäglich sind. Worin liegt also der Mehrwert solcher Zeilen oder dieses gesamten Genres für die Leserinnen und Leser?
„FAZ“-Autor Timo Frasch findet in seiner etwas überladenen Präambel, die insgesamt rund ein Drittel seines Textes ausmacht, immerhin eine einleuchtende Antwort für sich: Für einige Leser der „Frankfurter Allgemeinen“ sei der öffentliche Nahverkehr schlicht unbekanntes Terrain… Damit also ran an die Notizblöcke! Jedes Rascheln der Brottüte, jeder Fuß auf dem Nachbarsitz ist eine Erwähnung wert, möglicherweise gar eine Eilmeldung.
Und dennoch scheint im öffentlichen Personennahverkehr auch so etwas wie Romantik möglich. Nur im Regionalexpress lernt man Deutschland wirklich kennen, während Kuhherden, Weinberge oder thüringische Märchenwälder am Fenster vorbeiziehen. In dieser zeitlosen Entschleunigung kommen die Menschen zusammen: von quengelnden Schulkindern und gutmütigen Rentnerinnen bis hin zu konzentrierten Workaholics vor dem Laptop – der „typische Zug-Menschen-Mix“, wie man im „Kölner Stadtanzeiger“ liest.
Es scheint fast, als hätten Journalist:innen im Nahverkehr die Seele der Bundesrepublik entdeckt, eine wiedergefundene Bodenständigkeit als Gegenentwurf zum ICE-Jetset-Metropolenjournalismus.
„ICEs, das waren für mich Züge für Menschen, die irgendwo hinwollten, von A nach B“, schreibt „Stern“-Reporter Jonah Lemm. „REs, das waren Züge für Menschen wie Chris und mich, für Menschen die wegwollten. Von A nach weniger B-schissen.“
Die Rückfahrt wird kurzerhand trotzdem im ICE gebucht.
Damit sind sämtliche Bausteine versammelt, die eine einzigartige 9-Euro-Ticket-Reportage ausmachen. Fraglich ist, ob dieses Genre ein kurzfristiger Trend bleibt oder ob es uns auch über die erste Juniwoche hinaus begleiten wird. Immerhin gilt das Angebot für insgesamt drei Monate – reichlich Zeit, um das Genre weiterzuentwickeln.
Geplante Reportagen zum 9-Euro-Ticket:
SZ-Magazin / „Umzug 9 Euro: Unser Redakteur zieht mit der U2 von Sendling in die Maxvorstadt um. Mit ihm seine 8000 Mingvasen.“
ZEIT / „Hartgekochte Eier im Abteil – oder soll man es lassen?“
VICE / „Nahverkehr – 90 Tinderdates in 90 Tagen.“— Peter Breuer (@peterbreuer) May 19, 2022
Wie bei Zug-Wortspielen lässt sich auch hier immer noch eine Schippe drauflegen.
Das Grundproblem des Journalismus: Man schreibt gerne das, was alle irgendwie schreiben, man springt also gerne mal auf den Zug auf. Hinzu kommt, dass man sich nach den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie im D-Zug Tempo Neuigkeiten mit Nachrichtenwert aus den Fingern saugen muss – in einer Zeit wo in Sachen Budgets die Signale ständig auf Rot stehen. Diese beiden Eigenschaft sind für eine essezielle Weichenstellung in der Branche verantwortlich: Man manövriert sich peu a peu aufs Abstellgleis – der Zug Richtung Graubwürdigkeit steht allerdings an einem völlig anderen Bahnsteig oder ist schon längst abgefahren. Und dann wundert man sich, dass man am Ende der Prellbock für die ganzen „Lügenpresse“-Skandierer ist. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels …
Wenn alle RE-portagen geschrieben sind, dann sind als nächstes die Trams und Busse dran, die einem mit dem Ticket auch mitnehmen. Das Sommerloch ist auch gefüllt mit spannenden Abenteuerberichten, wie gut man mit Surfbrett und RE nach Timmendorfer Strand kommt. Es bleibt spannend!
@#1 Vorzüglich verfasst
Toll war ja auch, wie bereits vor dem Start wild spekuliert wurde, ob dann die Züge, Busse und Bahnen aus allen Nähten platzen, ob Sylt von Plebejern überlaufen wird, etc. pp. Speziell zweitere Hypothese war höchst unplausibel und dennoch in vielen ansonsten seriösen Medien zu finden.
@1 IC what you did there.
Ansonsten finde ich die Neun-Euro-Reportagen irgendwie… nicht so schlimm. Endlich gibt es mal ein bundesweites Ereignis, Millionen Vorverkäufe, da sollte man unbedingt die Reporter in den Bahnalltag schicken. Auch wenn ähnliches Zeug rauskommt. Natürlich. Aber das merken am Ende eh meist nur die wenigen Twitter-Journalisten-Hyperkonsumenten.
Es wurde schon alles geschrieben, nur nicht von jedem. Ja, das tut nicht wirklich weh, aber es nimmt den wichtigen Themen die Aufmerksamkeit. In der Zeit, in der ich über lustige Punks lese, die sich angeblich via Amazon leckere Getränke in eine DHL Packstation auf Sylt senden liesen, um mit leichtem Gepäck zu reisen, vergesse ich die Klimakatastrophe, den Angriffskrieg in der Ukraine, den Pflegenotstand, die ungerechte Bezahlung im Gesundheitswesen und alle anderen wirklich wichtigen Themen, die … oh, ein Nacktnasenwombat-Baby, wie süß!
Ich halte es für ein nicht wieder gut zumachendes journalistisches Versäumnis, dass wir seinerzeit mit dem 25Mark Wochenendticket weitgehend ohne mediale Begleitung durch die Republik reisen mussten. Selbst im Winter, zwischen den Waggons neben den verstopften Toiletten, Raureif innen an den Fenstern! Wie konnte das passieren?
Es gibt eine ganze Reihe von Themen über das 9-Euro-Ticket, die ich gerne journalistisch bearbeitet sähe. Zum Beispiel:
– Ändert sich der Besuch von Kulturveranstaltungen dadurch, dass mehr Leute sich gut die Anfahrt leisten können?
– Wie geht es Hartz-IV-Familien finanziell damit, dass sie erst das Ticket preiswert kaufen können und ihnen (je nach Bundesland) dann die Leistungen gekürzt werden?
– Wie teuer ist das 9-Euro-Ticket in der Praxis, wenn terminlich gebundene Leute durch die Verspätungen und Ausfälle finanzielle und zeitliche Verluste erleiden?
– Wie viele Züge oder Waggons bräuchte man mehr, um dauerhaft alle Leute gut transportieren zu können (also mit Sitzplatz und Gepäckablage), wenn von nun an immer genauso viele Leute Zug fahren würden wie jetzt?
– Wie bewerten Volkswirte den Nutzen und die Kosten des Tickets für Deutschland?
Das 9-Euro-Ticket ist an und für sich ein total spannendes Thema.